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"Übergangsrat ist ein obskures Gremium"

Bisher weiß niemand so genau, wer das Führungspersonal der libyschen Rebellen eigentlich ist. Gespräch mit Lucio Caracciolo *


Lucio Caracciolo (57) ist Direktor der italienischen Zeitschrift für Geopolitik Limes und lehrt an der privaten LUISS-Universität in Rom.

Die NATO macht jetzt offenbar gezielt Jagd auf Libyens Diktator –einer seiner Söhne soll schon einer Bombe zum Opfer gefallen sein. Wie kann sich Muammar Al-Ghaddafi so lange halten?

Meines Erachtens sind die Ereignisse das Ergebnis der Kombination dreier Faktoren: der internen Vorbereitung des Staatsstreichs, des französischen und vielleicht auch britischen Versuchs, sich diesen zunutze zu machen sowie des Ausbruches einer neuen Revolte in Bengasi. Da keiner dieser drei Prozesse für sich genommen und nicht einmal alle zusammen imstande waren, Ghaddafis Herrschaft zu beenden, stehen wir jetzt vor einer Pattsituation.

Die internationale Intervention wurde unter Berufung auf einen humanitären Notstand beschlossen. Es war von Massengräbern und zehntausend Toten die Rede. Eine Erfindung?

Ohne Frage. Den humanitären Notstand gab es nicht, auf jeden Fall nicht in den Dimensionen, wie berichtet. Diese Darstellung war eine gezielte Operation des Fernsehkanals Al-Dschasira und anderer Medien, die unkritisch das übernahmen, was die arabischen Satellitensender erzählten. Derartige Berichte waren dann entscheidend, um die USA zur Unterstützung der Militäroperation zu bewegen. Engländer und Franzosen allein hätten eine UN-Resolution, die ihre Intervention legitimiert, nicht durchsetzen können. Ohne grünes Licht von Washington hätte sich nichts getan. Im Moment tragen allerdings Frankreich und Großbritannien die Hauptlast der Operation.

Wenn die USA sich nicht stärker engagieren, liegt das erstens daran, daß Libyen für sie strategisch bedeutungslos ist. Zweitens fehlt ihnen das Geld. Drittens sind sie mit anderen kostspieligen Kriegen beschäftigt. Viertens würde die US-Politik bei einem militärischen Engagement in Libyen in großen Schwierigkeiten stecken, falls parallel in strategisch wichtigeren Ländern (zum Beispiel am Persischen Golf) etwas Ernsthaftes passiert. All das zusammengenommen hat Pentagon und CIA veranlaßt, von einer Intervention in Libyen abzuraten. Nach dem von den Medien ausgeübten Druck beschränken sich die USA nun auf das notwendige Mindestmaß.

Es wird allgemein vom »arabischen Frühling« geredet – aber kann man die Ereignisse in Libyen, Tunesien und Ägypten wirklich gleichsetzen?

Die haben absolut nichts miteinander zu tun. Vielleicht gab es einen Nachahmungseffekt, aber nicht mehr. Selbst abgesehen von den realen Intentionen derjenigen, die Ghaddafi bekämpfen, unterscheidet sich die Situation in Libyen von derjenigen in Ägypten.

Wer sind diese Rebellen?

Das weiß niemand so genau. Der berühmte Übergangsrat ist ein obskures Gremium, das intern zwischen den verschiedenen politischen und militärischen Befehlshabern gespalten ist. Über deren Ansichten und Ziele mehr herauszufinden ist schwierig. Wir sollten auch nicht vergessen, daß in Libyen Ghaddafi der Staat war. Er bestimmte die Kräfteverhältnisse durch die Manipulation der Stammes- und Klaninteressen und nutzte die Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft, um ein Konsenssystem aufzubauen.

Welche Rolle spielen westliche Ölgesellschaften bei dieser Intervention? Haben wir es mit einem »Krieg ums Öl« zu tun, bei dem einzelne EU-Staaten miteinander konkurrieren?

Das glaube ich nicht. Dies ist kein Krieg zwischen dem französischen Total-Konzern und der italienischen ENI. Die grundlegenden Motivationen sind politische. Allerdings wird die Sache auch energiepolitische Auswirkungen haben. Je nachdem, wer die Rohölförderung und die Terminals kontrolliert, werden sich die Kräfteverhältnisse in Libyen verändern.

Viele Beobachter befürchten eine Infiltration durch Al-Qaida oder eine islamische Radikalisierung der Rebellen. Ist da etwas dran?

Wir wissen, daß der islamische Fundamentalismus eine libysche Wurzel hat. Es besteht allerdings auch kein Zweifel, daß in dieser Diskussion Ghaddafis Propaganda eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Den libyschen Aufstand als »Al-Qaida-Revolte« zu betrachten, erscheint mir abwegig, was jedoch nicht heißt, daß nicht bei einem längeren Andauern der Krise Elemente von Fundamentalismus auftreten können.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 2. Mai 2011


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