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Revolte gegen den Revolutionsführer

Libyen: Demonstranten trotzen Gaddafi / Tote bei Zusammenstößen mit der Polizei *

In Libyen weiten sich die Proteste gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi aus. Im Golfstaat Bahrain versucht das Regime, die Widerstandsbewegung niederzuschlagen. Auch in Jemen gab es neue Zusammenstöße.

Bei erneuten Protesten gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi in Libyen sind am Donnerstag (17. Feb.) nach Angaben der Opposition sechs Menschen getötet worden. Auf oppositionellen Internetseiten hieß es, die Opfer seien bei Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und Sicherheitskräften in der Stadt Benghasi ums Leben gekommen, weitere 35 Menschen seien verletzt worden. Es habe dort »brutale Zusammenstöße« gegeben. Benghasi liegt rund 1000 Kilometer östlich der Hauptstadt Tripolis. Den Angaben zufolge demonstrierten in der Stadt zudem Anwälte, die eine Verfassung für das Land forderten.

In der Stadt El Baida rund 1200 Kilometer östlich von Tripolis wurden den Oppositionsangaben zufolge vier Menschen bei Demonstrationen am Mittwochabend getötet. Die libysche Zeitung »Kuryna« berichtete von zwei Toten.

In Benghasi waren am Dienstag (15. Feb.) erstmals Regierungsgegner auf die Straße gegangen. Die Opposition hatte für Donnerstag zu einem »Tag des Zorns« aufgerufen. Landesweit folgten Tausende Regimegegner dem Appell.

Die Anhänger des seit 1969 herrschenden »Revolutionsführers« hielten dagegen und versammelten sich am Donnerstag zu einer großen Pro-Gaddafi-Demonstration im Zentrum von Tripolis. Sie hielten Bilder von Gaddafi in die Höhe und riefen: »Die Revolution (von 1969) geht weiter.«

Proteste gegen Gaddafi gibt es auch in der Ortschaft Al-Zintan südwestlich von Tripolis. In Videos, die im Internet veröffentlicht wurden, sind Männer zu sehen, die rufen: »Du bist uns egal, oh Gaddafi, Al-Zintan hat keine Angst.« Dem Vernehmen nach ließ sich die Polizei dort nicht blicken, während sie in Al-Baidha und Al-Kubba alle Demonstranten vertrieb.

Im Demonstrationsaufruf, der über Facebook verbreitet worden war, hatte es geheißen, die Libyer sollten an die »Märtyrer« vom 17. Februar 2006 erinnern. Damals war eine Demonstration gegen Mohammed-Karikaturen in Bengasi in eine Protestaktion gegen die libysche Führung umgeschlagen. Es gab Tote und Verletzte.

In Bahrain haben Sicherheitskräfte Proteste niedergeschlagen. Mindestens vier Menschen wurden laut Opposition in der Hauptstadt Manamah getötet, als Sondereinheiten einen Platz räumten.

Bei Zusammenstößen zwischen Oppositionellen und Anhängern der Regierung in Jemen sind mehrere Menschen verletzt worden. 1500 Regimegegner hatten am Donnerstag in der Hauptstadt Sanaa für den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Salih demonstriert, als sie von Unterstützern des Regimes angegriffen wurden.

Der ehemalige tunesische Präsident Zine el Abidine Ben Ali liegt nach Angaben eines Vertrauten der Familie seit Dienstag im Koma. Er habe einen Schlaganfall erlitten und befinde sich in einem Krankenhaus im saudi-arabischen Dschiddah, hieß es.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2011


Wutentladung

Von Roland Etzel **

Schüsse auf Demonstranten im mediterranen Benghasi, auf dem Perlenplatz Manamas am Persischen Golf, in den engen Gassen von Sanaa. Das alles passierte gestern in Libyen, Bahrain und Jemen, drei arabischen Staaten, aber dreien, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Jemen ist Republik, Bahrain Monarchie, die »Jamahiriya« Libyen nimmt gar für sich in Anspruch, gar kein Staat im herkömmlichen Sinne, sondern eine »Gemeinschaft der Volksmassen« zu sein. Sehr verschieden auch die Wirtschaftslage. In Bahrain liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 26 000 Dollar, in Jemen unter 1000.

Was alle genannten Länder dennoch eint und selbst auf die Proteste im bettelarmen Jemen zutrifft – es handelt sich nicht in erster Linie um Brotrevolten. Darum ging es auch zuvor nicht in Tunis und Kairo. Hier manifestiert sich das Fehlen von Lebensperspektiven für Millionen von einzelnen Menschen und damit ganze Gesellschaften. Und so werden wir Zeugen einer Wutentladung über die Ohnmacht, daran etwas ändern zu können.

Das hat viel mit Demokratiedefiziten zu tun. Was die Libyer oder Bahrainis vermissen, ist gewiss weniger der routinierte Parlamentarismusbetrieb westlicher Prägung, sondern greifbare politische Teilhabe. Daran mangelt es all den strukturell noch immer postkolonialen Regimes, und es eint wiederum ihre Führer – mögen sie sich nun Revolutionsführer nennen wie Gaddafi oder König wie der Herrscher von Bahrain.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2011 (Kommentar)


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