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Weitere Minister nehmen ihren Hut

Libyen: Unklare Lage nach der Ghaddafi-Rede. Sarkozy und Merkel fordern Sanktionen gegen Tripolis

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Nach einer zornigen Rede von Muammar Al-Ghaddafi gegen den Aufstand am Dienstag abend (22. Feb.) blieb die Situation in Libyen am Mittwoch unübersichtlich. Zuverlässige Informationen aus dem nord­afrikanischen Land lagen kaum vor. Verschiedene Medien meldeten, daß die Städte Bengasi, wo Militär- und Sicherheitskräfte entweder geflohen oder zu den Demonstranten übergelaufen waren, und Misurata unter Kontrolle der Opposition stünden. In Tripolis sollen nach der 78 Minuten langen Rede Schüsse gefallen sein, vermutlich abgegeben von Anhängern Ghaddafis.

Weitere Offiziere, Diplomaten und Mitglieder der Regierung schlossen sich am Mittwoch der Opposition an. Nach dem Rücktritt von Justizminister Mustafa Abdeldschalil legte Innenminister General Abdul-Fattah Junis sein Amt nieder, um die »Revolution des 17. Februar« zu unterstützen. Er rief die libysche Armee auf, sich dem Volk anzuschließen und dessen »legitime Forderungen« zu unterstützen. Erstmals veröffentlichten laut AFP die libyschen Behörden Zahlen zu den Opfern der Proteste. Demnach kamen mindestens 300 Menschen ums Leben, darunter 189 Zivilisten und 111 Militärangehörige.

Der UN-Sicherheitsrat hatte in der Nacht zum Mittwoch (23. Feb.) das gewaltsame Vorgehen staatlicher Sicherheitskräfte verurteilt und die libysche Regierung aufgefordert, auf die »legitimen Forderungen der Bevölkerung einzugehen«. Die Europäische Kommission, die Afrikanische Union und die Arabische Liga sprachen sich ebenfalls gegen die Gewalt aus. In der EU mehren sich die Forderungen nach Sanktionen. Brüssel solle rasche Beschlüsse dazu fassen, schloß sich Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy am Mittwoch einer Forderung Deutschlands an.

Unterdessen berichteten arabische Medien, daß sich Ghaddafi mit starken Militär- und Sicherheitskräften verschanzt haben soll. Luftangriffe gegen die Bevölkerung, wie in den Vortagen, soll es nicht gegeben haben.

* Aus: junge Welt, 24. Februar 2011


Moskau warnt vor "Extremismus"

Medwedjew: Bürgerkriegen könnte Machtübernahme von Fanatikern folgen

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Es war ein sehr düsteres Bild, das Russlands Präsident Dmitri Medwedjew am Dienstag (22. Feb.) bei seinem Besuch in Wladikawkas, der Hauptstadt der Republik Nordossetien, zu den Entwicklungen im Nahen Osten zeichnete. Die Unruhen in Libyen könnten zum Bürgerkrieg eskalieren und dieser zur Abspaltung einzelner Gebiete führen, wo »Fanatiker« die Macht übernehmen.

Eine solche Entwicklung könne »jahrzehntelange Brände und eine Ausbreitung des Extremismus« nach sich ziehen. Ähnliches könnte nach Meinung des Präsidenten gleich in mehreren Staaten des Nahen Ostens geschehen. Derartige Pläne, so Medwedjew weiter, seien auch gegen Russland geschmiedet worden, hätten jedoch keine Chance. Wem er solche Planspiele anlastet, ließ der Staatschef offen.

Hiesige Experten teilen Medwedjews Befürchtungen. Neben hoher Arbeitslosigkeit hätten vor allem die traditionellen Konflikte zwischen Clans und Stämmen den gegenwärtigen Aufruhr in Libyen heraufbeschworen, meinte Witali Naumkin, Direktor des Instituts für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften. Diese Konflikte könnten in einen Bürgerkrieg münden, der mit einer Dreiteilung des Landes endet. Da auch andere Staaten im Maghreb und auf der Arabischen Halbinsel nach dem Stammesprinzip organisiert sind, drohe deren Zerfall in Dutzende Zwergstaaten. Die Gefahr, dass in diesen radikale islamische Kräfte die Macht übernehmen, sei angesichts der Schwäche der über Jahrzehnte unterdrückten weltlichen Opposition sehr groß, warnte auch Alexej Malaschenko, der für das Moskauer Carnegie-Zentrum arbeitet.

Auch bei vielen russischen Unternehmen liegen wegen der Unruhen die Nerven blank. Die Russischen Staatsbahnen bauen derzeit eine neue Strecke von Sirte nach Bengasi, Gasprom ist an der Erschließung von Gasvorkommen in der Sahara beteiligt und sicherte sich erst vergangene Woche bei Medwedjews Besuch in Rom über den italienischen Staatskonzern ENI umfangreiche Beteiligungen an der Erschließung und Ausbeutung von Ölvorkommen.

Der staatliche Rüstungsexporteur Rosoboronexport verfolgt die Geschehnisse ebenfalls mit großer Sorge. Gaddafi gehört zu den besten Kunden des Unternehmens und hatte gleich nach Machtantritt mit der Sowjetunion ein Abkommen über militärisch-technische Zusammenarbeit geschlossen; die Verträge wurden nach Ende der UdSSR erneuert. Moskau lieferte vor allem Panzer, Bomber und Luftabwehrsysteme. Und Premier Wladimir Putin hatte erst kürzlich eine Vereinbarung unter Dach und Fach gebracht, die die Lieferung von 20 modernen Kampfjets und Luftabwehrsystemen des Typs S-300 vorsieht. Sie gehören zu dem Modernsten, was in dieser Hinsicht existiert, die NATO soll derzeit über nichts Gleichwertiges verfügen. Die Umsetzung des Abkommens sollte im Herbst beginnen, ein Umsturz in Libyen könnte jedoch einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Nach einem Machtwechsel, so der Militärexperte Alexander Goltz, würden neue Regierungen meist zuerst die Abkommen über Rüstungslieferungen kündigen, da diese von ihren Vorgängern aus politischen Gründen abgeschossen wurden.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Februar 2011


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