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Libyen: Ein Staat vor dem Zerfall?

Von Jelena Suponina, RIA Novosti*

Libyen könnte demnächst in zwei Teile zerfallen - aus denselben Gründen, weshalb vor einem Monat der Bürgerkrieg ausgelöst worden ist.

Libyens Staatschef Muammar Gaddafi hat die Forderung der Aufständischen in den Wind geschlagen, das Land innerhalb von 72 Stunden zu verlassen. Im UN-Sicherheitsrat finden dieser Tage auf Initiative der USA und Großbritanniens Beratungen über ein Flugverbot über Libyen statt. An den Gesprächen nehmen auch russische Diplomaten teil.

Das bedeutet, dass Oberst Gaddafi nie wieder die Kontrolle über das ganze Land herstellen kann, selbst wenn er diesen Kampf überleben sollte (das ist nicht ausgeschlossen, genauso wie sein Tod oder seine Festnahme). Dafür verantwortlich sind einige Stämme, die ihm den Rücken gekehrt haben, und Einheiten der Armee, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Auch die Islamisten und natürlich die Amerikaner werden ein Wörtchen dabei mitreden.

Die Situation in Libyen ist keine Wiederholung des tunesischen oder ägyptischen Szenarios - dort stand die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung im Vordergrund. In Libyen spielten andere Faktoren eine wichtigere Rolle. Die USA wiederbelebten ihre Idee, Gaddafi zu stürzen. Diese Pläne hatte Washington bereits in den 1980er Jahren gehegt, die damals jedoch gescheitertet waren. „Ausgehend von den eigenen Interessen würden die USA jede andere Führung in Libyen statt Gaddafi bevorzugen“, hieß es damals in einem Bericht der US-Geheimdienste.

Journalist Bob Woodward, der einen guten Draht zu den Geheimdiensten hatte, bezeichnete die damalige Strategie in Bezug auf Gaddafi als „Kombination von realen und Desinformationsaktionen“. Unter anderem wurden Gerüchte über die Stärkung der Oppositionskräfte und über den Verrat in der Umgebung des Obersts gestreut. Außerdem wollte Washington Gaddafi mittels Meldungen über die Vorbereitung einer gegen ihn gerichteten militärischen Aktion einschüchtern.

Bei der Arbeit an dieser Strategie berücksichtigte man im Weißen Haus den Umstand, dass der exaltierte Oberst sehr misstrauisch selbst gegenüber seiner nächsten Umgebung war, was als seine Schwäche galt. Menschen zu vertrauen ist eine schwierige Sache, wenn man ein Dutzend Attentate überlebt hat, von denen einige von Personen organisiert wurden, die als enge Freunde Gaddafis galten.

Der libysche Staatschef stand bereits kurz nach seiner Revolution im Jahr 1969 im Fadenkreuz seiner Gegner. 1975 plante beispielsweise sein Mitstreiter Umar al-Moheishi ein Attentat gegen Gaddafi, den er seit Schul- und Armeezeiten kannte. Nachdem die Verschwörung aufgeflogen worden war, konnte Al-Moheishi nach Tunesien und später nach Ägypten flüchten.

Jetzt entsteht eigentlich der Eindruck, dass sich die Amerikaner diesmal nicht einmal etwas Neues einfallen lassen mussten, sondern nach den Unruhen in Libyen nur ihre früheren Pläne aus der Schublade holen mussten. Die Diskussion über eine Nato-Intervention dauert bereits seit gut zwei Wochen und ähnelt der oben erwähnten „Kombination von realen und Desinformationsaktionen“, deren Ziel es ist, Druck auf Gaddafi und seine Umgebung auszuüben.

Ob Gaddafis Nachfolger aber das Land in den jetzigen Grenzen erhalten können, die erst 1951 nach dem Erringen der Souveränität festgelegt wurden? Bis dahin hatten drei Provinzen - Tripolitanien, Kyrenaika und Fessan - nahezu autonom voneinander existiert. König Idris schloss sie zu einem Königreich zusammen, das zunächst nach dem föderativen Prinzip bestand, später aber in einen Einheitsstaat verwandelt wurde.

Für die Einheit musste der Monarch einen hohen Preis bezahlen, indem er die Stationierung von ausländischen Militärstützpunkten auf dem libyschen Territorium und die Übergabe der nationalen Öl- und Gasindustrie an amerikanische und britische Unternehmen akzeptierte. De facto musste er dadurch die ersehnte Unabhängigkeit teilweise opfern. Nur unter Muammar Gaddafi etablierte sich Libyen als ein wirklich unabhängiges und zentralisierteres Land - im Rahmen des neuen „Systems der Volksmacht“, der vom Revolutionsführer erfundenen „Dschamahirija“. Das libysche Volk wurde jedoch nie frei.

Heutzutage werden in Libyen die separatistischen Stimmungen dagegen immer stärker. Dabei geht es nicht um die geografisch weit auseinander liegenden und wirtschaftlich ungleichberechtigten Provinzen, wie Fessan als die ärmste in der Wüste und Kyrenaika als die reichste mit ihrem Ölhafen am Mittelmeerküste.

Man sollte auch den Umstand berücksichtigen, dass die libysche Bevölkerung (insgesamt sieben Millionen Menschen) aus etwa 140 Stämmen und Clans besteht, von denen mehr als 30 großen Einfluss in Nordafrika haben. Etwa zehn Stämme haben einen grenzübergreifenden Charakter und weiten ihren Einfluss auf die Nachbarländer aus - Ägypten, Tunesien, Marokko und Tschad. Einige Nomadenstämme sind sogar aus Saudi-Arabien gekommen.

Muammar Gaddafi musste sich deshalb immer nach den Besonderheiten dieser Gesellschaftstruktur richten. Dabei stützte er sich nur auf seine nächsten Stämme, wie Gaddafi oder Megrahi. Der Warfalla-Stamm stand zwar den Machthabern nahe, fühlte sich aber gekränkt, weil seine Mitglieder keine hohen Staats- und Armeeposten bekleiden durften.

Das könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass mehrere Warfalla-Scheichs nach dem Ausbruch der Anti-Gaddafi-Proteste die Opposition unterstützten. Aber langjährige Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen sind eine Selbstverständlichkeit. Es ist unklar, wofür sie sich letztendlich entscheiden - für die selbstständige Kyrenaika, für die Republik Tripolitanien (was schon einmal passierte) oder doch für das einheitliche Libyen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Streitkräfte die Staatseinheit garantieren. Denn auch die Armee hat sich wegen des Bürgerkriegs gespalten. Ein Teil der Soldaten ist bereits auf die Seite der Opposition gewechselt. Viele andere sind aber weiterhin Gaddafi treu ergeben. Dabei geht es übrigens nicht nur um die Söldner, von denen es in den letzten Jahren in der libyschen Armee viele gab (das bedeutet, dass nicht alle erst nach dem Ausbruch der Massenproteste angeheuert wurden).

Obwohl die libyschen Streitkräfte immer gut ausgerüstet waren, gab es ständig Probleme mit der Zuverlässigkeit der Offiziere. „Gaddafi wusste, dass die Armee seine Herrschaft gefährden könnte, was die zahlreichen Putschversuche bewiesen, die von Offizieren, darunter von manchen Verteidigungsministern, organisiert wurden“, sagte der russische Libyen-Experte Anatoli Jegorin vom Institut für Orientalistik. „Gaddafi verhielt sich wegen der Aktivitäten der Top-Offiziere gegen das Regime vorsichtig und schränkte die Rolle der Armee bereits in den späten 1980er Jahren allmählich ein“, erinnert er.

Was könnte also Libyen vor dem Zerfall retten? Es könnte sich das Szenario aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wiederholen, als sich die führenden Großmächte für die Unteilbarkeit dieses kleinen Landes entschieden. Aber diesmal müssten sie sich in die inneren Angelegenheiten Libyens einmischen, was die libysche Opposition enttäuschen könnte, die nach dem Gaddafi-Sturz eine aus dem Ausland aufgezwungene Regierung bekommen könnte.

Zu einem anderen Vereinigungsfaktor könnte der Islam werden. Fast alle Libyer sind religiös. Das bedeutet, dass eine starke islamische Partei bzw. ein Bündnis entstehen könnten. Ob sich aber der Westen eine solche Lösung in Libyen gefallen lässt?

* Zum Verfasser: Jelena Suponina ist Orientalistin und Journalistin der Zeitung „Moscow News“

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 14. März 2011; http://de.rian.ru



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