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Das grandiose libysche Ablenkungsmanöver / The Great Libyan Distraction

Von Immanuel Wallerstein *

In dem ganzen libyschen Konflikt des letzten Monats – der Bürgerkrieg in dem Land und die US-geführte militärische Aktion gegen Gaddafi - geht es weder um eine humanitäre Intervention noch um die unmittelbare Versorgung der Welt mit Erdöl. Es handelt sich in der Tat um ein großes Ablenkungsmanöver – ein bewusstes Ablenkungsmanöver dazu – von der grundlegenden politischen Auseinandersetzung innerhalb der arabischen Welt. Eine Sache gibt es, bei der Gaddafi und die westlichen Regierungschefs aller politischen Schattierungen vollständig übereinstimmen. Sie alle wollen die zweite arabische Revolte verlangsamen, kanalisieren, kooptieren und eingrenzen, und dadurch verhindern, dass die grundlegenden politischen Realitäten der arabischen Welt und deren Rolle in der weltweiten Geopolitik verändert werden.

Um dies zu erkennen muss man die Chronologie der Ereignisse verfolgen. Obwohl das politische Grummeln in verschiedenen arabischen Staaten und Versuche, durch verschiedene Kräfte von außerhalb die eine oder andere Seite innerhalb dieser Staaten zu unterstützen, schon seit längerem eine Art Konstante darstellen, brachte der Selbstmord von Mohamed Bouazizi am 17.12.2010 einen gänzlich anderen Prozess in Gang.

Dies war meiner Ansicht nach die Fortsetzung des Geistes der Weltrevolution von 1968. In jenem Jahr, wie auch in den letzten Monaten in der arabischen Welt, bestand die Gruppe derer, die den Mut und den Willen hatten , den Protest gegen die institutionalisierten Autoritäten zu beginnen, aus jungen Menschen. Ihre Motivation erwuchs aus vielen Faktoren : die Willkür, Grausamkeit und Korruptheit derer an der Macht, ihre eigene sich verschlechternde wirtschaftliche Situation und vor allem aus dem Insistieren auf ihrem moralischen und politischen Recht, eine Hauptrolle beim Bestimmen ihres eigene politischen und kulturellem Schicksals einzunehmen. Gleichzeitig protestierten sie gegen die gesamte Struktur des Weltsystems und die Art und Weise, in der ihre Führer dem Druck fremder Mächte unterworfen waren.

Diese jungen Menschen waren nicht organisiert, wenigstens nicht anfangs. Und sie durchschauten auch die politische Szene nicht immer vollständig. Aber sie waren couragiert. Und, wie 1968, ihre Aktionen waren ansteckend. Sehr bald bedrohten sie in praktisch jedem arabischen Staat und ohne Rücksicht auf die Außenpolitik die etablierte Ordnung. Als sie ihre Stärke in Ägypten – immer noch der arabische Schlüsselstaat – ihre Stärke demonstrierten, begann jeder sie ernst zu nehmen. Dabei gibt es zwei Wege eine derartige Revolte ernst zu nehmen. Der eine ist, sich ihr anzuschließen und dadurch versuchen sie zu kontrollieren. Der andere ist, sie mit harten Maßnahmen niederzuwerfen. Beides ist versucht worden.

Es gab drei Gruppierungen, die sich anschlossen, wie Samir Amin in seiner Analyse Ägyptens unterstrichen hat: die traditionelle und wiederbelebte Linke, die Selbständigen der Mittelschicht und die Islamisten. Die Stärke und der Charakter dieser Gruppierungen variierte in jedem der arabischen Länder. Amin sah die Linke und die Mittelschicht (in dem Maße, in dem sie Nationalisten und nicht internationale Neo-Liberale waren) als positive Kräfte und die Islamisten, die als letzte auf den Zug aufsprangen, als negative. Und dann gibt es da noch die Armee, immer eine Bastion der Ordnung, die sich der ägyptischen Revolte spät anschloss, und zwar genau um ihre Auswirkungen zu begrenzen.

Als also der Aufstand in Libyen begann, war das das direkte Resultat des Erfolgs der Revolten in den beiden Nachbarstaaten, Tunesien und Ägypten. Gaddafi ist ein besonders skrupelloser politischer Führer, der entsetzliche Aussagen von sich gab, was er mit Verrätern anstellen würde. Wenn es nun sehr schnell starke Stimmen in Frankreich, Großbritannien und den USA gab militärisch zu intervenieren, so war das kaum, weil Gaddafi ein anti-imperialistischer Stachel in ihrem Fleisch war. Er verkaufte sein Öl bereitwillig an den Westen und rühmte sich der Tatsache, dass er Italien half, die Flut der illegalen Einwanderung einzudämmen. Auch bot er der westlichen Geschäftswelt lukrative Vereinbarungen an.

Das Lager der „Interventionisten“ bestand aus zwei Komponenten: einmal diejenigen für die alle und jede Interventionen durch den Westen einfach unwiderstehlich sind, und solche, die für eine humanitäre Intervention plädierten. Beide trafen auf die starke Opposition des US-Militärs, das den Krieg in Libyen als nicht zu gewinnen und als eine enorme militärische Belastung für die USA ansah. Diese letztere Gruppe schien sich durchzusetzen, als plötzlich die Resolution der Arabischen Liga das Gleichgewicht veränderte.

Wie konnte das passieren? Die saudische Regierung hatte sehr hart aber erfolgreich daran gearbeitet, eine Resolution zu verabschieden, die die Einrichtung einer Flugverbotszone billigte. Um Einstimmigkeit der arabischen Staaten zu erreichen, machten die Saudis zwei Konzessionen. Gefordert wurde lediglich eine Flugverbotszone, und es wurde eine zweite Resolution angenommen, die den Einsatz von westlichen Bodentruppen ausschloss.

Was bewegte die Saudis dazu, dies durchzudrücken ? Hatte jemand in den USA jemand in Saudi-Arabien angerufen und dies gefordert? Ich denke es war das genaue Gegenteil. Es handelte sich um einen Versuch der Saudis, die US-Politik zu beeinflussen und nicht den umgekehrten Vorgang. Und es hat geklappt. Es kippte den Entscheidungsprozess. Was die Saudis wollten und was sie bekamen, war die Ablenkung von etwas für sie sehr dringlichem, das sie gerade durchführten – ein Niederschlagen der arabischen Revolte, da diese vor allem Saudi-Arabien selbst berührte, danach die Golf-Staaten und dann die übrige arabische Welt.

Wie schon 1968 schafft diese Art von „Anti-Autoritäts“ Revolte Risse in den betroffenen Ländern und kreiert unerwartete Bündnisse. Der Ruf nach humanitärer Intervention stiftet dabei insbesondere Uneinigkeit. Das Problem, das ich mit humanitären Interventionen habe ist, dass ich nie sicher bin, dass sie humanitär sind. Befürworter verweisen immer auf Fälle, in denen sie nicht erfolgten, wie z.B. in Ruanda. Aber sie schauen nie auf die Fälle, in denen sie tatsächlich stattfanden. Ja, relativ kurzfristig können sie verhindern, was andernfalls zu einem Abschlachten von Menschen führte. Aber erreichen sie dies auch längerfristig? Um Saddam Husseins kurzfristiges Abschlachten zu verhindern, sind die USA in den Irak einmarschiert. Sind nun als Resultat weniger Menschen in den folgenden zehn Jahren abgeschlachtet worden? Das scheint doch nicht so zu sein.

Die Befürworter scheinen ein quantitatives Kriterium zu haben. Tötet eine Regierung zehn Protestierer, dann ist dies „normal“, wenn auch vielleicht einer verbalen Kritik wert. Tötet sie 10.000, dann ist dies kriminell und verlangt nach humanitärer Intervention. Wie viele Menschen müssen denn getötet werden, bis, was als normal gilt, kriminell wird? 100, 1.000?

Diese Tage haben die westlichen Mächte einen libyschen Krieg mit ungewissem Ausgang angefangen. Es wird wahrscheinlich in einen Morast führen. Hat das Vorgehen erfolgreich von der derzeitigen arabischen Revolte abgelenkt? Vielleicht, wir wissen es noch nicht. Wird es gelingen, Gaddafi zu entfernen? Vielleicht, wir wissen es noch nicht. Wenn Gaddafi geht, wer oder was wird ihm folgen? Selbst US-Sprecher sorgen sich über die Möglichkeit, dass seine alten Kumpane oder al-Kaida oder auch beide an seine Stelle treten.

Die US-Militäraktion in Libyen ist ein Fehler, selbst vom engen Standpunkt des US-Interesses aus und sogar aus der humanitären Perspektive. Sie wird nicht sehr bald beendet sein. Präsident Obama hat seine Handlungen in einer sehr komplizierten und subtilen Art und Weise erklärt. Was er im wesentlichen gesagt ist, dass, falls der Präsident der USA, in seinem sorgfältigen Urteil eine Intervention als im Interesse der USA und der Welt liegend einschätzt, er dies tun kann und sollte. Ich bezweifele nicht, dass ihm diese Entscheidung Kopfzerbrechen bereitete. Aber das ist trotzdem nicht zufriedenstellend. Es ist ein schreckliches, verhängnisvolles und letztlich selbstzerstörerisches Vorhaben.

In der Zwischenzeit bleibt die beste Hoffnung für uns alle, dass die zweite arabische Revolte wieder Fahrt auf-nimmt – vielleicht im Moment doch eher eine geringe Wahrscheinlichkeit - und sich zuerst die Saudis vornimmt.

[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]

* Immanuel Wallerstein, geb. 1930, ist Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker. Sein wichtigstes Werk ist das in vier Bänden erschienene "The Modern World-System". Von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1999 lehrte er an der Binghamton University (SUNY) und war außerdem Leiter des dortigen Fernand Braudel Center for the Study of Economies Historical Systems and Civilization.


The Great Libyan Distraction

by Immanuel Wallerstein **

The entire Libyan conflict of the last month - the civil war in Libya, the U.S.-led military action against Gaddafi - is neither about humanitarian intervention nor about the immediate supply of world oil. It is in fact one big dis-traction - a deliberate distraction - from the principal political struggle in the Arab world. There is one thing on which Gaddafi and Western leaders of all political views are in total accord. They all want to slow down, channel, co-opt, limit the second Arab revolt and prevent it from changing the basic political realities of the Arab world and its role in the geopolitics of the world-system.

To appreciate this, one has to follow what has been happening in chronological sequence. Although political rumblings in the various Arab states and the attempts by various outside forces to support one or another element within various states have been a constant for a long time, the suicide of Mohamed Bouazizi on Dec. 17, 2010 launched a very different process.

It was in my view the continuation of the spirit of the world revolution of 1968. In 1968, as in the last few months in the Arab world, the group that had the courage and the will to launch the protest against instituted authority were young people. They were motivated by many things: the arbitrariness and cruelty and corruption of those in authority, their own worsening economic situation, and above all the insistence on their moral and political right to be a major part of determining their own political and cultural destiny. They have also been protesting against the whole structure of the world-system and the ways in which their leaders have been subordinated to the pressures of outside forces.

These young people were not organized, at least at first. And they were not always totally cognizant of the polit-ical scene. But they have been courageous. And, as in 1968, their actions were contagious. Very soon, in virtually every Arab state, without distinction as to foreign policy, they have threatened the established order. When they showed their strength in Egypt, still the key Arab state, everyone began to take them seriously. There are two ways of taking such a revolt seriously. One is to join it and try thereby to control it. And one is to take strong measures to quash it. Both have been tried.

There were three groups who joined it, underlined by Samir Amin in his analysis of Egypt: the traditional and revivified left, the middle-class professionals, and the Islamists. The strength and character of these groups has varied in each of the Arab countries. Amin saw the left and the middle-class professionals (to the extent that they were nationalist and not transnational neoliberals) as positive elements and the Islamists, the last to get on the bandwagon, as negative elements. And then there is the army, always the bastion of order, which joined the Egyptian revolt late, precisely in order to limit its effect.

So, when the uprising began in Libya, it was the direct result of the success of the revolts in the two neighboring countries, Tunisia and Egypt. Gaddafi is a particularly ruthless leader and has been making horrific statements about what he would do to traitors. If, very soon, there were strong voices in France, Great Britain, and the United States to intervene militarily, it was scarcely because Gaddafi was an anti-imperialist thorn in their side. He sold his oil willingly to the West and he boasted of the fact that he helped Italy stem the tide of illegal immigration. He offered lucrative arrangements for Western business.

The intervention camp had two components: those for whom any and all military interventions by the West are irresistible, and those who argued the case for humanitarian intervention. They were opposed very strongly in the United States by the military, who saw a Libyan war as unwinnable and an enormous military strain on the United States. The latter group seemed to be winning out, when suddenly the resolution of the Arab League changed the balance of forces.

How did this happen? The Saudi government worked very hard and effectively to get a resolution passed endorsing the institution of a no-fly zone. In order to get unanimity among the Arab states, the Saudis made two concessions. The demand was only for a no-fly zone and a second resolution was adopted opposing the intrusion of any Western land forces.

What led the Saudis to push this through? Did someone from the United States telephone someone in Saudi Arabia and request this? I think it was quite the opposite. This was an instance of the Saudis trying to affect U.S. policy rather than the other way around. And it worked. It tipped the balance.

What the Saudis wanted, and what they got, was a big distraction from what they thought most urgent, and what they were doing - a crackdown on the Arab revolt, as it affected first of all Saudi Arabia itself, then the Gulf states, then elsewhere in the Arab world.

As in 1968, this kind of anti-authority revolt creates strange splits in the countries affected, and creates unexpected alliances. The call for humanitarian intervention is particularly divisive. The problem I have with humanitarian intervention is that I'm never sure it is humanitarian. Advocates always point to the cases where such intervention didn't occur, such as Rwanda. But they never look at the cases where it did occur. Yes, in the relatively short run, it can prevent what would otherwise be a slaughter of people. But in the longer run, does it really do this? To prevent Saddam Hussein's short-run slaughters, the United States invaded Iraq. Have fewer people been slaughtered as a result over a ten-year period? It doesn't seem so.

Advocates seem to have a quantitative criterion. If a government kills ten protestors, this is "normal" if perhaps worthy of verbal criticism. If it kills 10,000, this is criminal, and requires humanitarian intervention. How many people have to be killed before what is normal becomes criminal? 100, 1000?

Today, the Western powers are launched on a Libyan war, with an uncertain outcome. It will probably be a morass. Has it succeeded in distracting the world from the ongoing Arab revolt? Perhaps. We don't know yet. Will it succeed in ousting Gaddafi? Perhaps. We don't know yet. If Gaddafi goes, what will succeed him? Even U.S. spokesmen are worrying about the possibility that he will be replaced either with his old cronies or with al-Qaeda, or with both

The U.S. military action in Libya is a mistake, even from the narrow point of view of the United States, and even from the point of view of being humanitarian. It won’t end soon. President Obama has explained his actions in a very complicated, subtle way. What he has said essentially is that if the president of the United States, in his careful judgment, deems an intervention in the interests of the United States and the world, he can and should do it. I do not doubt that he agonized over his decision. But that is not good enough. It's a terrible, ominous, and ultimately self-defeating proposition.

In the meantime, the best hope of everyone is that the second Arab revolt renews steam - perhaps a long shot now - and shakes first of all the Saudis.

** Commentary No. 302, April 1, 2011; http://www.iwallerstein.com

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