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Fortgesetzter Staatszerfall

Libyen zwei Jahre nach dem Sturz des "Revolutionsführers" Muammar Al-Ghaddafi: Das Land versinkt immer tiefer in Chaos und Gewalt

Von Joachim Guilliard *

Mit dem Fall der Hauptstadt Tripolis Ende August 2011 war der Krieg der NATO gegen das Libyen Muammar Al-Ghaddafis, des damaligen Oberhaupts des Landes, und der »Dschamahirija«, der Volksherrschaft, faktisch entschieden. Westliche Politiker und Medien feierten den unter dem Vorwand des »Schutzes der libyschen Zivilbevölkerung« gestarteten Angriff auf die legitime Führung eines souveränen Landes als den bis dato gelungensten Fall einer humanitären internationalen Militärintervention. Schätzungen zufolge haben jedoch mindestens 50000 Libyer die Operation »Unified Protector« (Vereinigte Beschützer) nicht überlebt. Das durch den Krieg verwüstete Land am Mittelmeer, das bis dahin den höchsten Lebensstandard Afrikas aufwies, versank nun Monat für Monat immer tiefer in Chaos, Willkür und Gewalt.

Libyen ist seither ohne zentrale Staatsgewalt, ohne funktionierende Regierung, Verwaltung und Polizei. Es fehlt eine nationale Armee, die sich gegen die Milizen und lokalen Militärräte, unter denen die Macht aufgeteilt ist, durchsetzen könnte. Alle Anstrengungen, das Land wieder zu stabilisieren, sind bisher gescheitert. Lege man die gängige Definition zugrunde, so sei Libyen nicht bloß ein schwacher, sondern überhaupt kein Staat mehr, so der renommierte US-Politologe Robert D. Kaplan in einer Analyse für den privaten US-amerikanischen Nachrichtendienst Stratfor. Es stehe knapp zwei Jahre nach dem Sturz Ghaddafis vor dem Zerfall, warnte auch eine NATO-Delegation, die Ende Juni 2013 das Land bereiste.

Während die Medien ihre Aufmerksamkeit auf Syrien, das nächste Opfer imperialistischer Umsturzbemühungen, konzentrieren, nehmen in Libyen die Auseinandersetzungen um Macht, Pfründe und die Aufteilung des Landes immer schärfere Züge an: Dutzende Politiker, Richter, Journalisten und Aktivisten, die sich gegen das Treiben der Milizen und islamistischer Kräfte engagierten, fielen in den letzten Wochen Attentaten zum Opfer. Bombenanschläge zerstörten öffentliche Einrichtungen in Bengasi, und wütende Stammesmilizen unterbrachen die Trinkwasserversorgung von Tripolis. Zur größten Zerreißprobe entwickelt sich aktuell der Kampf um die Hoheit über die libyschen Ölhäfen. Deren seit Wochen anhaltende Blockade hat den Erdölexport nahezu zum Erliegen gebracht. Die Regierung droht mit dem Einsatz der Armee. Einige NATO-Staaten haben sich nun verpflichtet, eine neue allgemeine militärische Streitkraft mit knapp 20000 Mann aufzustellen.

Absehbare Entwicklung

Eine solche Entwicklung war vorhersehbar. Mit dem Lynchmord an Ghaddafi tötete man jene charismatische Persönlichkeit Libyens, die durch ihre hohe Autorität das komplexe Gefüge von Stammesbeziehungen und lokalen Interessen und Befindlichkeiten bis dahin ausbalancieren konnte. Und mit der Ermordung, der Einkerkerung oder Flucht der Repräsentanten und Aktivisten der »Dschamahirija« verlor man auch den größten Teil der nationalistischen Kräfte des Landes, die gesamtlibysche Interessen verfolgten.

Den diversen aufständischen Gruppierungen, die ab Februar 2011 mit Waffengewalt die Regierung bekämpften, ging es keineswegs um Demokratie und Menschenrechte – diese waren dabei höchstens Rhetorik. Sie kämpften für eine Neuverteilung von Macht, Einfluß und Reichtum. Wobei meist partikulare Interessen der einzelnen Gruppen im Vordergrund standen. War die Bedeutung der Stammeszugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen, heißt es in einer Analyse der transatlantischen Denkfabrik International Crisis Group (ICG), so steigt sie nun wieder – z.T. mit direkter Unterstützung der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Auch ethnische Konflikte flammten auf, und rassistische Einstellungen unter den überwiegend islamistischen »Rebellen« führten zu Gewaltexzessen gegen Schwarzafrikaner und afrikanische Ethnien bis hin zu ihrer völligen Vertreibung.

Die aufständischen Gruppen und Milizen einte allein die Feindschaft gegen Ghaddafi und das von ihm geschaffene Gesellschaftssystem. Der von den NATO-Staaten als Schattenregierung installierte »Nationale Übergangsrat« hatte nie die Führung im Aufstand inne. Mit Ausnahme von Bengasi, wo seine Basis lag, bildeten die Aufständischen auf städtischer oder Stammesebene Milizen und Räte, die weitgehend eigenständig operierten.

Diese waren nach dem Sieg nicht bereit, die Waffen abzugeben oder sich der Interimsregierung, die den »Übergangsrat« ablöste, unterzuordnen. Die Zahl der Ortschaften, die Militärräte gebildet und ihre eigenen Brigaden aufgestellt hatten, hatte gegen Ende des Krieges sogar noch zugenommen – zum erheblichen Teil, um die eigene Stadt oder Gemeinde gegen Übergriffe, willkürliche Festnahmen und Hinrichtungen der »revolutionären« Milizen zu schützen. So waren auch in jenen Orten zivil-militärische Strukturen entstanden, die im Krieg die Regierung unterstützten oder neutral geblieben waren.

Andere nutzten das Machtvakuum, so die ICG, um benachbarte Gemeinden, lokale Schmuggelrouten, Grenzübergänge, See- und Flughäfen oder industrielle Anlagen unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese dienen ihnen z.T. noch heute als äußerst lukrative Einnahmequellen. In anderen Fällen wurden Militärräte von kriminellen Banden infiltriert oder neu geschaffen, um unter diesem Deckmantel Plünderungen, Drogenhandel und ähnliches betreiben zu können. Viele Milizionäre suchen dabei jedoch auch einfach eine Form bezahlter Anstellung.

Die politisch wie militärisch stärkste Fraktion in der libyschen Anti-Ghaddafi-Koalition bildeten die islamistischen Gruppierungen. Wie in anderen arabischen Ländern war auch in Libyen der örtliche Ableger der Muslimbruderschaft von Anfang an die am besten organisierte oppositionelle Kraft, die einzige, die nach wie vor landesweit präsent ist. Doch auch radikalere, teils Al-Qaida-nahe Gruppen spielen bis heute eine bedeutende Rolle.

Während die Islamisten ihre Machtposition sukzessive ausbauten, entstanden im Süden und Osten mächtige Bewegungen, die für eine Aufteilung des Landes in eine lose Föderation aus der Cyrenaika im Osten, Tripolitanien im Westen und Fessan im Südwesten kämpfen. Anfang 2012 riefen 3000 Politiker und Stammesführer im Osten eine autonome »Republik Barqa« aus und begannen mit dem Aufbau unabhängiger Regierungsinstitutionen. »Barqa« ist der arabische Name der Cyrenaika, die – von Ägypten bis zur Syrte reichend – fast die Hälfte Libyens und drei Viertel seiner Ölreserven umfaßt. Auch Stämme im Fessan, die sich über eine Vernachlässigung der Region beklagen, forderten Autonomie.

Gescheiterte Stabilisierung

Trotz Unterstützung der NATO und der EU fand die Zentralregierung kein Rezept, um die Milizen unter Kontrolle zu bekommen oder gar aufzulösen. Diese hatten sich 2011 die Waffenbestände – von Luftabwehrraketen bis zu Panzern – aus den Armeedepots angeeignet. Die reguläre Armee war ihnen daher an Zahl und Bewaffnung hoffnungslos unterlegen. Die stärksten Verbände stellt dabei die Küstenstadt Misurata. Diese einstige Hochburg der Aufständischen mit rund 200000 Einwohnern hat 40000 Männer unter Waffen. An zweiter Stelle stehen die Milizen des Stammes Sintan aus der gleichnamigen westlibyschen Stadt. Während in Misurata islamistische Kräfte dominieren, unterstützen die Sintaner die prowestlichen liberalen Kräfte in Tripolis.

Angesichts seiner Ohnmacht begann das Innenministerium, über die Einrichtung von »Obersten Sicherheitskomitees« (OSK) komplette Milizeinheiten in den staatlichen Sicherheitsapparat zu integrieren und mit Polizeifunktionen zu betrauen. Allein in Tripolis standen Ende 2012 26000 Personen auf der Gehaltsliste der OSK; landesweit wurden sie auf zirka 130000 Mann geschätzt. Die Milizen behielten jedoch ihre internen Befehlsstrukturen bei, so daß das Innenministerium keine direkte Kontrolle über die einzelnen Einheiten hat. Parallel dazu erklärte das Verteidigungsministerium auch die von lokalen Militärräten geschaffenen Verbände »Libyens Schild« zu offiziellen nationalen Sicherheitskräften und übernahm ihre Entlohnung. Auch sie stehen weiterhin unter dem Kommando ihrer jeweiligen Militärräte.

Indem man Dutzende rivalisierende Milizen mit der Wiederherstellung von Recht und Ordnung betraute, machte man den Bock zum Gärtner. Der Aufbau einer funktionierenden Polizei und einer regulären Armee kommt unterdessen nicht voran. Innenminister Mohammed Al-Sheikh legte daher im August frustriert sein Amt nieder und klagte in seinem Rücktrittsschreiben, die Regierung sei zu schwach, werde von der Muslimbruderschaft dominiert und sei völlig abhängig von der Unterstützung bestimmter Stämme.

Die Libyer bleiben so auch zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Staates der Willkür der Milizen ausgeliefert, die außerhalb der Gesetze agieren. Zigtausende Ghaddafi-Anhänger wurden nach dem Sturz des Staatschefs gefangengenommen, aus ihren Wohnungen vertrieben oder exekutiert. Und auch heute geht jede Miliz in ihrem Gebiet auf eigene Faust gegen Personen vor, die als Gegner der neuen Ordnung angesehen werden. Nach wie vor gibt es Berichte über »klandestine Gefangenenlager, die von Milizen betrieben werden, die niemand Rechenschaft schuldig sind«, schrieb Ende August der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan Méndez. Auch Human Rights Watch berichtete über fortgesetzte willkürliche Gefangennahmen sowie Folter und Tod in illegalen und teils geheimen Gefängnissen von Milizen in ganz Libyen.

Die Auflösung der Milizen ist eine der zentralen Forderungen der häufigen Protestkundgebungen in Tripolis, Bengasi und anderen Städten. Die Milizionäre reagieren daraufhin nicht selten mit rücksichtsloser Gewalt. Es wurden z.B. im Juni 31 Demonstranten getötet und über 100 verwundet, als die »Libyens Schild«-Brigade in Bengasi das Feuer auf Protestierende vor ihrer Kaserne eröffnete.

Das »Intoleranzgesetz«

Nachdem es der Übergangsregierung weder gelang, die Macht der Milizen einzuschränken noch eine funktionierende Verwaltung in Gang zu bringen – und dadurch auch die Wiederaufnahme der Geschäfte ausländischer Unternehmen stockten –, ruhten bald alle Hoffnungen der westlichen Regierungen und Konzerne auf der Wahl eines Parlaments und der größeren Autorität einer gewählten Regierung. Faire und geordnete Wahlen waren unter den herrschenden Bedingungen an sich ausgeschlossen, insbesondere ohne eine Zentralgewalt, die sie vor Ort kontrollieren kann. Dennoch wurden sie am 7. Juli 2012 durchgezogen und vom Westen als Meilenstein der Demokratisierung Libyens gefeiert.

Nur 80 der 200 Sitze wurden dabei an Parteilisten vergeben, der Rest ging an unabhängige Einzelkandidaten. Die liberale prowestliche, vom Chef der »Exekutive« des Übergangsrats, Mahmud Dschibril, geführte »Allianz Nationaler Kräfte« erhielt bei der Listenwahl knapp die Hälfte der Sitze. In dieser Allianz haben sich u.a. die einstige Exilopposition und Angehörige der großbürgerlichen Familien gesammelt, die vor der Revolution 1969 eine führende Rolle spielten. Die von den Muslimbrüdern geschaffene »Partei für Gerechtigkeit und Aufbau« kam nur auf Platz zwei und mußte sich mit 17 Sitzen begnügen. Dennoch dominiert sie zusammen mit anderen islamistischen Gruppen, gestützt auf eine Mehrheit unter den 120 »Unabhängigen« und ihre militärische Stärke, die neue, drei Monate später gebildete Regierung.

Die Islamisten konnten in der Folge ihre Vorherrschaft mit finanzstarker Unterstützung aus Katar noch weiter ausbauen. Unter anderem wurden in Tripolis liberale Sufi-Imame aus den Moscheen vertrieben und durch Salafisten ersetzt. Mit Drohungen gegen die Abgeordneten und der Besetzung zweier Ministerien durch ihre Milizen erzwangen sie schließlich im Mai die Verabschiedung des »Gesetzes für politische Isolation«. Danach werden alle Personen von politischen Ämtern ausgeschlossen, die nach dem Sturz der Monarchie 1969 als Staatsbedienstete wichtige Positionen innehatten. Aus Protest erscheinen seitdem die Abgeordneten der Dschibril-Allianz nicht mehr zu den Parlamentssitzungen.

Das Gesetz ist so vage formuliert, daß im Grunde alle ausgeschlossen werden können, die einmal in der Verwaltung, den Sicherheitseinrichtungen, Universitäten, Schulen oder staatlichen Konzernen gearbeitet hatten, auch wenn sie schon vor Jahren in die Opposition gegangen waren. Aus der aktuellen Regierung sind daher auch Ministerpräsident Ali Seidan und die Minister der Ressorts Äußeres, Verteidigung, Finanzen und Öl unter Druck.

Da längst keine wichtigen Ämter mehr mit Ghaddafi-Anhängern besetzt sind, zielt das Gesetz offensichtlich auf die Schwächung der nationalen und nichtislamistischen Kräfte. Mit Hilfe dieser Regelung werden aber vor allem die ohnehin schwachen staatlichen Strukturen weiter demontiert. »Durch das Isolationsgesetz haben wir das mittlere Management in allen Bereichen des Staates eingebüßt«, so Seidan bereits Ende Juli.

Der »Grüne Widerstand«

In Libyen stehen sich heute vier Hauptströmungen gegenüber, die in sich alles andere als homogen sind. Die Islamisten stehen dabei gegen die liberalen prowestlichen Kräfte wie auch gegen die Föderalisten, die wiederum ebenfalls erbittert gegeneinander kämpfen. Allen dreien steht eine Strömung gegenüber, die in westlichen Medien weitgehend ausgeblendet wird: die Ghaddafi-loyalen Kräfte, die wieder zurück zur »Dschamahirija« wollen. Dazu kommen viele, die von der Unfähigkeit der Regierung die Nase voll haben. Diese schafft es nicht, das Unwesen der Milizen zu beenden und wieder eine funktionierende Verwaltung herzustellen sowie den Bestrebungen der islamistischen Organisationen wirkungsvoll entgegenzutreten.

Aufgrund ihres dominierenden Einflusses auf die Politik und auf die in den Sicherheitsapparat integrierten Milizen richten sich die landesweiten Proteste vor allem gegen Muslimbrüder. Nach dem Mord an dem Menschenrechtsaktivisten Abdulsalam Musmari, der zu den profiliertesten Kritikern der Milizen zählte, griffen am 26. Juli wütende Bürger in Bengasi Büros und Einrichtungen der »Gerechtigkeits- und Aufbaupartei« an. »Wir wollen eine Polizei und keine Muslimbrüder«, hieß es auf einem Schild. Während der Unruhen gelang es bewaffneten Kämpfern, rund 1200 Häftlinge aus einem Gefängnis am Rande von Bengasi zu befreien. Darunter sollen auch Ghaddafi-Anhänger gewesen sein.

Am Tag darauf wurde im Zuge der größten Demonstration seit dem Sturz des ehemaligen Staatsoberhaupts in Tripolis auch ein von den Muslimbrüdern aufgebautes Zelt zerstört, in dem die Kommission zur Umsetzung des Isolationsgesetzes residierte. Die Muslimbrüder beorderten daraufhin Verstärkung in die Hauptstadt. 1000 Fahrzeuge der »Libyens Schild«-Milizen aus Misurata, wo die Islamisten das Sagen haben, in Bewegung und besetzten strategische Punkte in Tripolis. Offiziell, um nach den vorangegangenen Unruhen für Ordnung zu sorgen. Tatsächlich, um sich vor Ungemach wie im benachbarten Ägypten zu schützen.

Wie stark die von ihren Anhängern »Grüne Bewegung« oder »Grüner Widerstand« genannten Strukturen gegen die neuen Herren und für eine Restaurierung der »Dschamahirija« sind, ist schwer einzuschätzen. Es gelten jedoch immer noch viele Stämme und Städte im Süden und Westen des Landes als »pro Ghaddafi«, darunter vor allem Sirte, Bani Walid, Sawija, Kufra, Sabha und Gadamis. Auch in Tripolis gibt es noch etliche Stadtteile, die als mehrheitlich »grün« angesehen werden. Das Gros der aufständischen Milizen im Westen hatte wenig Neigung, Orte der Umgebung, die Ghaddafi treu oder neutral geblieben waren und sich mittlerweile ebenfalls bewaffnet hatten, gewaltsam einzunehmen. Häufig verständigte man sich über Stammesbeziehungen und allseits respektierte Vermittler, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen. Auf diese Weise wurde der größte Teil Libyens gar nicht von den aufständischen Kräften »erobert«, so die ICG. Vor allem im Westen des Landes sei es nicht leicht zu sagen, wer ein »Revolutionär« sei und wer nicht, bestätigten Milizkommandeure gegenüber der ICG.

Für internationales Aufsehen sorgte die Vertreibung der Aufständischen aus Bani Walid durch einheimische Kämpfer des Warfalla-Stammes im Januar 2012. Die Warfalla, die größte Stammesgruppe Libyens, zählten mehrheitlich zu den entschiedenen Unterstützern Ghaddafis. Die Stadt hatte sich auch am längsten gegen die von der ­NATO-Luftwaffe unterstützten Milizen verteidigt. Ein Auftakt der »Grünen Revolution« waren die Geschehnisse nicht. Die Bewohner wollten nur die Kontrolle über ihre Stadt zurück. Zunächst hatten sie damit auch Erfolg. Im Oktober 2012 wurde die Metropole jedoch wieder von »Libyens Schild«-Milizen eingenommen. Gebeugt hat sie sich nicht. Bereits im Dezember kam es zu neuen Kämpfen.

Die potentielle Macht der nach wie vor Ghaddafi-loyalen Stämme zeigte sich Anfang dieses Monats nach der Entführung Anoud Al-Senussis, der Tochter des ehemaligen Geheimdienstchefs und Schwagers Ghaddafis, Abdallah Al-Senussi. Nach einem Besuch bei ihrem Vater war die 22jährige zehn Monate lang eingesperrt worden. Bei ihrer Entlassung am 2. September 2013 wurde sie unmittelbar vor dem Gefängnis von Milizen, die auf dem Lohnzettel des Obersten Sicherheitskomitees stehen, erneut entführt. Daraufhin sperrte der ­Magraha-Stamm, dem Al-Senussis Famile angehört, die Stromversorgung für die Pumpstation, über die die Millionenstadt Tripolis mit Wasser versorgt wird. Erst nach einwöchigen Verhandlungen kam Anoud frei – und das Trinkwasser in der Hauptstadt begann wieder zu fließen.

Am 17. Februar 2012, dem ersten Jahrestag des Aufstandes, gab die »Libysche Nationale Volksbewegung« ihre Gründung bekannt. Die Organisation besteht im wesentlichen aus der Führung der »Grünen Bewegung«. Bereits im Oktober 2011 machte eine »Libysche Befreiungsfront« von sich reden, die begonnen hatte, Stützpunkte in der Sahelzone aufzubauen. Man hat in der Folge aber wenig von ihr gehört. Zahlreiche Anschläge im Land sollen jedoch nach Ansicht von Sympathisanten auf das Konto des »Grünen Widerstands« gehen, darunter die Ermordung des Mannes, der als Mörder Ghaddafis galt.

Auch der Großangriff auf das US-Konsulat in Bengasi im September 2012 schreiben einige Journalisten dem »Grünen Widerstand« zu. Da der beim Anschlag getötete US-Botschafter Christopher Stevens sehr gute Kontakte zu salafistischen Gruppen pflegte, ist dies in der Tat plausibler, als die Al-Qaida-nahen Gruppen für den Mord verantwortlich zu machen, wie es Washington tut. Ähnliches gilt für die Autobombe, die die Filiale des Außenministeriums in Bengasi (dieses Gebäude hatte während der Monarchie als US-Konsulat gedient) weitgehend zerstörte und auch die Zentralbank nebenan stark beschädigte.

Als Ende August 2011, nach dem Fall von Tripolis, die endgültige Eroberung des ölreichen Landes nur noch eine Frage der Zeit war, meldeten Politiker und Konzerne der Kriegsallianz ohne Einhaltung einer Schamfrist ihre Ansprüche an. »Wettlauf um Profit bei der Aufteilung des Nachkriegs-Libyen« titelte beispielsweise der britische Independent bereits am 24. August, und der Guardian machte kurz darauf mit »Das Rennen um Libyens Öl hat begonnen« auf. Während die Kämpfe in Tripolis in vollem Gange waren, meldete Reuters unter der Überschrift »Investoren begutachten Verheißungen und Fallstricke im Nach-Ghaddafi-Libyen«, das Land verheiße, »eine Bonanza für westliche Firmen und Investoren zu werden«.

Die hohen Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Erst nach anderthalb Jahren näherte sich die Ölförderung mit 1,4 Millionen Barrel pro Tag langsam wieder dem Vorkriegsniveau von 1,7 Millionen. Man konnte diesen Durchschnitt aber aufgrund von regelmäßigen Unterbrechungen durch Streik- und Blockadeaktionen nicht lange halten. Im August brach die Produktion schließlich wieder völlig auf rund 150000 Barrel ein.

Aus der vereinzelten Blockade einiger Ölterminals in der östlichen Provinz Cyrenaika hatte sich Ende August eine landesweite Protestbewegung entwickelt. Die Forderungen der Streikenden reichten zunächst von Lohnerhöhungen über Dezentralisierung bis hin zur Beendigung der ungeheuren Korruption. Bald stand im Osten jedoch das Verlangen nach Autonomie und einem größeren Anteil der Region an den Öleinnahmen im Vordergrund. Die Stammesmilizen, die angestellt waren, die Ölfelder und Terminals zu bewachen, übernahmen nun die Organisation der Blockaden, angeführt von führenden Köpfen der Bewegung für eine autonome »Republik Barqa«. Trotz der Drohungen des Premierministers, die Armee einzusetzen, wurde aus dem Osten, wo 70 Prozent des Energieträgers gefördert werden, auch im September kein Öl exportiert. Libyens Finanzminister Abdelkarim Kilani bezifferte den Verlust auf 130 Millionen US-Dollar pro Tag. Anfang September summierten sich die entgangenen Staatseinnahmen bereits auf mehr als fünf Milliarden Dollar. Frustrierte Kunden wanderten zu anderen Ölexporteuren ab. Auch an den inländischen Tankstellen wurde Benzin knapp, und in Tripolis nahmen die täglichen Stromausfälle aufgrund fehlenden Treibstoffs der Kraftwerke zu.

Libyen ist vollständig abhängig von den Öleinnahmen. Noch hat das Land einige Reserven. Wenn die Blockaden jedoch länger anhalten, können Ende des Jahres die staatlichen Angestellten nicht mehr bezahlt werden.

* Joachim Guilliard arbeitet im Heidelberger ­Forum gegen Militarismus und Krieg. Er betreibt den Blog »Nachgetragen«: jghd.twoday.net

Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. September 2013



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