Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kurz vor Explosion

Libyen von verfeindeten Milizen kontrolliert. Exmilitärs und frühere ­Ghaddafi-Anhänger verbünden sich gegen Islamisten

Von Gerrit Hoekman *

Ende Juni hat Libyen ein neues Parlament gewählt. Viel zu regieren werden die 188 Abgeordneten, die am kommenden Montag offiziell ihre Arbeit aufnehmen sollen, vorerst jedoch nicht haben, denn die politische Macht in dem Wüstenstaat kommt aus den Gewehrläufen der Milizen. Die Lage im Land ist explosiv, nicht nur weil seit Tagen zehn Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt Tripolis entfernt unkontrolliert zwei riesige Treibstofftanks in Flammen stehen und samt einem nebenan liegenden riesigen Gasreservoir in die Luft zu fliegen drohen.

Die Tanks waren am Wochenende von Raketen getroffen worden – ein Kollateralschaden heftiger Gefechte um den internationalen Flughafen. Seit zwei Wochen kämpfen Milizen aus der 160 Kilometer entfernten Stadt Sintan und überwiegend islamistische Kräfte aus dem 200 Kilometer weit weg liegenden Misrata erbittert um die Kontrolle über den wichtigen Airport. Die Schäden an den Gebäuden und den zivilen Flugzeugen sollen bereits erheblich sein. Aufgrund des Großfeuers rief die libysche Regierung alle Bewohner im Umkreis von drei Kilometern auf, sich in Sicherheit zu bringen.

Auch aus Tripolis selbst berichteten Reporter der Onlinezeitung Libya Herald während des Eid-Al-Fitr-Festes zum Ende des Ramadans von ausgestorbenen Straßen und Cafés. Hin und wieder verirren sich Raketen der Milizen in die Wohngegenden der Hauptstadt. Viele Läden blieben geschlossen und verzichteten auf das sonst so gute Geschäft. Auch die Polizei sei nirgendwo zu sehen gewesen. In den Vierteln stapele sich der Müll, weil die Straßenkehrer aus Angst, beschossen zu werden, nicht mehr arbeiten. Der Gestank des Abfalls vermische sich mit dem vom Flughafen rüberwehenden Benzingeruch.

Viele Libyer fliehen in die Nachbarländer. Alleine am vergangenen Montag sollen es an der Grenze zu Tunesien 6000 gewesen sein. Auch die Regierung hat Reißaus genommen, berichten libysche Medien. Sie hält sich jetzt angeblich in Al-Baida auf, dem früheren Sommersitz des Königs Idris.

Was soll die Regierung auch noch in Tripolis? Die Macht im Land haben ohnehin längst die rund zwei Dutzend Milizen, die sich vor drei Jahren erst auf Muammar Al-Ghaddafi stürzten, um nach dessen Sturz aufeinander loszugehen – schwerbewaffnet, wie sie inzwischen alle mit westlicher Hilfe waren. Die Brigaden aus Misrata etwa verfügen heute über 800 gepanzerte Fahrzeuge, 7000 auf Pickups montierte Maschinengewehre und an die 40000 Kämpfer, heißt es.

Auch in Bengasi, der zweitgrößten libyschen Stadt, gehen die Kämpfe weiter. Islamische Brigaden, darunter die berüchtigte Ansar Al-Scharia, haben am Dienstag das größte Militärcamp der »Al-Saika« erobert, einer Eliteeinheit der libyschen Armee. »Spezialeinheiten unter dem Kommando von Wanis Abu Khamada haben sich nach mehreren Angriffen zurückgezogen«, bestätigte ein Armeesprecher die bis jetzt schwerste Niederlage des offiziellen Militärs gegen die radikalen Islamisten. Seit Samstag sind bei den Kämpfen in Bengasi nach Presseangaben 60 Menschen ums Leben gekommen.

Wanis Abu Khamada steht an der Seite des libyschen Milizenführers und Exgenerals Khalifa Haftar und unterstützt dessen »Operation Würde«. Ihr gemeinsames Ziel ist das Ende der Gesetzlosigkeit in Libyen und der Sieg über die Islamisten. Die Allianz wird von den Milizen aus Sintan unterstützt. Auch Brigaden aus Warschefana haben sich hinter Haftar gestellt. Sie hatten bis zum Ende treu zu Ghaddafi gehalten. Die Beduinenfamilien der Tebu, die Tuareg und die Swai stehen offenbar auch auf der Seite der »Operation Würde«. Die Allianz verfügt als einzige der Konfliktparteien über Kampfjets, mit denen sie die Stellungen der Gegner bombardiert.

Trotz der anhaltenden Kämpfe fördert Libyen immer noch jeden Tag 500000 Barrel Öl. Die Erdölfelder seien bis jetzt sicher, sagte ein Vertreter des libyschen Ölministeriums gegenüber Reuters. Vor drei Jahren war Libyens Produktion noch dreimal so hoch.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 31. Juli 2014


Extremisten erobern Stützpunkt

Eliteeinheit der Armee ergriff im ostlibyschen Bengasi vor Terrorgruppe die Flucht **

Libyens Regierung ruft zwar zu einer Waffenruhe auf – doch die Appelle verhallen. In Bengasi vertreiben Extremisten eine Eliteeinheit. Paris bringt seine Staatsbürger in Sicherheit.

Radikale Islamisten haben in der ostlibyschen Stadt Bengasi einen wichtigen Stützpunkt der Armee eingenommen. Die Extremisten verbreiteten im Internet Fotos, die ihre Kämpfer in der Kaserne einer Eliteeinheit zeigen. Zu sehen war unter anderen der Anführer der Terrorgruppe Ansar al-Scharia, wie die libysche Nachrichtenseite Libya Herald berichtete.

Ein Sprecher der Eliteeinheit teilte am Mittwoch mit, die Soldaten hätten sich aus taktischen Gründen aus der Kaserne zurückgezogen. Zuvor hatten fast zehn Tage lang heftige Kämpfe um den Stützpunkt getobt. Dabei seien zahlreiche Menschen ums Leben gekommen, berichtete die libysche Staatsagentur Lana. Die Regierung hatte am Dienstag zu einer Waffenruhe in Bengasi aufgerufen.

Seit dem Sturz des Staatschefs Muammar al-Gaddafi vor rund drei Jahren kommt es in Libyen immer wieder zu Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Gruppen. In der früheren Revolutionshochburg Bengasi gehen der pensionierte Generalmajor Chalifa Haftar und abtrünnige Soldaten der Eliteeinheit eigenmächtig gegen islamistische Milizen vor. Heftige Kämpfe gab es in den vergangenen Wochen auch um den internationalen Flughafen in der Hauptstadt Tripolis.

Nach der Massenflucht der Libyer Richtung Tunesien und der Evakuierung mehrerer Botschaften brachte Frankreich seine Staatsbürger per Schiff in Sicherheit. Die Franzosen in Libyen seien gemeinsam mit britischen Staatsangehörigen aus dem Land geholt worden, gab Regierungssprecher Stéphane Le Foll in Paris bekannt. Zahlen nannte er nicht. Die französische Botschaft habe zuletzt 55 Franzosen gezählt, hieß es aus unbestätigten Quellen.

Zuvor hatten Tausende Libyer wegen der heftigen Kämpfe zwischen bewaffneten Milizen das Land verlassen. Begonnen hatte die Massenflucht mit der Evakuierung der US-Botschaft am Wochenende. Deutschland und andere Länder zogen ebenfalls ihre Diplomaten ab. Tunesien kündigte wegen des Flüchtlingsstroms an, seine Grenze zu Libyen zu schließen, sollte sich die Lage verschlimmern und die Sicherheit des Landes gefährdet sein.

Unbekannte verschleppten unterdessen den früheren libyschen Premier Mustafa Abu Schagur aus seinem Haus, ließen ihn jedoch nach einigen Stunden wieder frei. »Mir geht es gut«, teilte der Abgeordnete des neu gewählten Parlaments über Facebook mit.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 31. Juli 2014


Zurück zur Libyen-Seite

Zur Libyen-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage