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Geschichte auf Litauisch

Hintergrund. Mit einer Gleichsetzung von Naziverbrechen und "stalinistischen" Untaten gibt sich die baltische Republik nicht zufrieden: Sie hält den Holocaust für ein vergleichsweise unbedeutendes Ereignis

Von Frank Brendle *

Eine im Kaftan steckende Gestalt mit krummer Nase und hinterhältigem Grinsen lacht dem Genossen Stalin über die Schulter, der gerade Seifenblasen produziert. Die um 1940 entstandene Karikatur soll die angeblich jüdisch inspirierte Propaganda der Kommunisten denunzieren. Im »Museum der Opfer des Genozids« in der litauischen Hauptstadt Vilnius hängen noch weitere Zeugnisse antisemitischer Bildersprache. Das Bemerkenswerte ist dabei: Sie hängen dort nicht etwa in aufklärerischer Absicht, um das faschistische Deutungsmuster von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung zu kritisieren. Sie hängen dort, weil sie der in Litauen gängigen Vorstellung entsprechen, daß Juden und Kommunisten eins seien und sie gemeinsam das litauische Volk unterdrückt hätten.

Das »Museum der Opfer des Genozids« ist ein großangelegter Etikettenschwindel. Zweifellos hat es in Litauen einen Völkermord gegeben: Zwischen 1941 und 1944 wurden von den rund 220000 Juden rund 95 Prozent umgebracht. Die Befehlsgeber waren Deutsche, die Ausführer meist litauische Hilfswillige. Man würde erwarten, daß ein »Genozid-Museum« genau hiervon handelt. Doch Holocaust und Kollaboration werden nicht einmal gestreift. Das einzige Thema ist hier die Besetzung durch die Sowjetunion und die »stalinistischen« Deportationen und illegalen Hinrichtungen. Das ist es, was in der litauischen Geschichtserzählung als »Genozid« gilt.

Komplette Umdeutung

Litauen mit seinen 3,3 Millionen Einwohnern gehört zu den Vorreitern des europaweiten Versuchs, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben. Programmatische Grundlage hierfür ist die sogenannte Prager Deklaration vom Juni 2008. Dieses Dokument »antitotalitärer« Politik basiert auf einer Gleichsetzung von Nazifaschismus und Kommunismus. Beide seien gleich verbrecherisch gewesen, beide müßten gleichermaßen geächtet werden.

In Deutschland spürt man den »Geist« dieser Erklärung beim Gerede von der DDR als »zweiter deutscher Diktatur«, deren Ungerechtigkeiten »genauso« verurteilt werden wie der Nazifaschismus. Er wabert durch KZ-Gedenkstätten, in denen sich die Opfer der Nazis den Platz teilen müssen mit den Insassen späterer Internierungslager, in denen die Sowjets neben Unschuldigen auch viele Schuldige gefangenhielten. Wer die Grundannahme, »Rot gleich Braun«, teilt, kommt zwangsläufig an einen Punkt, an dem der Holocaust kein extremes, singuläres Verbrechen mehr darstellt, sondern nur eines unter zahlreichen anderen.

In Litauen hat der Präsident bereits 1998 eine »Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der Besatzungsregime von Nazis und Sowjets« installiert, welche die Gleichsetzung schon im Titel vornimmt. Im Jahr 2008 wurde die Verwendung nazistischer wie kommunistischer Symbole verboten. Seit Juni 2010 stehen zwei Jahre Gefängnis darauf, »den von der UdSSR oder Nazideutschland verübten Völkermord gegen litauische Bürger« zu »leugnen oder zu bagatellisieren«. Kritische Journalisten und Wissenschaftler wurden in den letzten Jahren diffamiert, entlassen und weitgehend zum Schweigen gebracht.

Am spektakulärsten, und ansatzweise auch im westlichen Ausland wahrgenommen, ist allerdings die juristische Verfolgung und mediale Diffamierung ehemaliger jüdischer Partisanen, die ihren Kampf notgedrungen nicht nur gegen die deutschen Besatzer, sondern auch gegen deren litauische Helfer geführt hatten. Wüste Beschimpfungen der rechten Presse, die »roten Mörder« hätten unschuldige Litauer getötet, erhielten den Anschein der Ernsthaftigkeit, als die Staatsanwaltschaft vor einigen Jahren Ermittlungen gegen mindestens vier noch lebende Partisanen einleitete, von denen bislang nur eines eingestellt wurde.

Oberflächlich betrachtet entspricht dies der »Prager Erklärung«, ein genauerer Blick zeigt jedoch: In Litauen wird nicht mehr gleichgesetzt, hier wird komplett umgedeutet. Das Verbot von Nazisymbolen ist faktisch außer Kraft, seit im Frühjahr 2010 ein Gericht in der Ostseestadt Klaipeda entschied, das Hakenkreuz sei kein Nazisymbol, sondern gehöre zum litauischen Kulturerbe.

Umdefinierte Begriffe

Das »Genozid-Museum« trägt, wie gezeigt, die Geschichtsklitterung schon in seiner Bezeichnung. In seine Außenwände sind die Namen von Litauern eingraviert, die im Kampf gegen die Rote Armee fielen oder von den Sowjetbehörden erschossen wurden – oftmals außergerichtlich. Sie werden als »Freiheitskämpfer« bezeichnet; dieser Begriff bedeutet hier den Widerstand gegen den 1940 erfolgten sowjetischen Einmarsch, der die Unabhängigkeit der kleinen Republik beendet hatte. Den ein Jahr später begonnenen deutschen Angriffskrieg begrüßte die Litauische Aktivistenfront (LAF) als Chance, die Rote Armee zu vertreiben. Das Museum verschweigt die antisemitischen Pamphlete dieser »Freiheitskämpfer«. Die LAF ging wie selbstverständlich von einer Identität von Juden und Kommunisten/Sowjets aus und kündigte an, im »freien Litauen« den Juden keinen Platz mehr einzuräumen. Die LAF-dominierte »Provisorische Regierung« versuchte, mit den Nazis zu koexistieren und ordnete noch vor ihnen die Einrichtung eines jüdischen Konzentrationslagers, die Pflicht zum Tragen eines gelben Sterns und die Entlassung aller Juden aus Staatsbetrieben an. Unmittelbar nach Kriegsbeginn, im Vakuum zwischen Roter Armee und Wehrmacht, brachen antisemitische Pogrome los. 68 Juden starben beim sogenannten Garagen-Massaker am 27. Juni 1941 in Kaunas. Bis 1944 beteiligten sich Zehntausende Litauer an den Massenmorden. Litauische Bauern erschossen in Dörfern ihre jüdischen Nachbarn. Das Museum blendet diese Periode entschlossen aus: Auf den Ausstellungsraum »1939–1941« folgt unmittelbar »1944«, als ob es dazwischen nichts Wissenswertes über einen Genozid zu lernen gäbe. 1944 treten dann plötzlich »Partisanen« auf die Bildfläche, auch so ein neudefinierter Begriff: Gemeint ist die »Litauische Freiheitsarmee«, auch als »Waldbrüder« bekannt, die in Fortführung des »Freiheitskampfes« von 1941 gegen die heranrückende Rote Armee kämpfte. Sie werden als heroische Patrioten dargestellt, ohne auf ihre Rolle in der LAF und der Kollaboration einzugehen. Nur soviel: »Über 200 Mitglieder wurden in deutsche Geheimdienstschulen geschickt, um auf die Guerillakriegführung vorbereitet zu werden«, heißt es. Das tut ihrem Heroenstatus jedoch keinen Abbruch.

Unter Stalin sind Zehntausende litauische Bürger deportiert und etliche umgebracht worden. Selbstverständlich habe Litauen einen Anspruch darauf, an diese Unterdrückung zu erinnern, betont Simon Alperavitchius von der Jüdischen Gemeinde. Aber den Versuch, »ein Gleichgewicht herzustellen« zwischen dem Holocaust und den Sowjetverbrechen, lehnt er kategorisch ab: »Das waren unterschiedliche Verbrechen, die getrennt untersucht werden müssen.« Alperavitchius weist zudem darauf hin, daß von den Verfolgungen natürlich auch Juden betroffen waren und es in der Spätphase von Stalins Herrschaft etliche antijüdische Maßnahmen gegeben habe. Doch kein Wort davon im Museum. Von Juden als Opfern redet man in Litauen nicht gern.

Die Aufarbeitung des Holocaust bleibt den Juden selbst überlassen. Rahel Kostanian ist weit über 80, und doch hat sie in diesem Jahr die Leitung der »Holocaust-Abteilung« des Jüdischen Museums übernommen. Anders als das Genozid-Museum befindet sich das kleine, grüne Holzhaus (das »Grüne Haus«) weitab von den Touristenpfaden in einer schmalen Seitenstraße. In der Ecke von Kostanians überladenem Büro liegt ein Schild »Arbeit macht frei«, es war im Oktober aufgehängt worden, als die komplett überarbeitete Ausstellung eröffnet wurde. 300 neue Dokumente galt es in die fünf kleinen Räume zu integrieren, die das Häuschen bietet. Es werden jetzt Themen angesprochen, die in Litauen bislang nicht berührt worden sind. Zu sehen sind Auszüge aus dem Tagebuch von Zenonas Blynas, dem Generalsekretär der Nationalistischen Partei, der dazu riet, die Morde an Juden nicht bei Tageslicht durchzuführen, damit das Ausland nicht schlecht über die Litauer denke. Auch die zwiespältige Rolle der katholischen Kirche wird gezeigt, bei der es neben mutigen Menschen, die Juden versteckt hatten, auch viele Unterstützer der Nazis gab.

Der Staat übernimmt die Kosten für Instandhaltung und Gehälter – wobei sämtliche Gelder seit Beginn der Wirtschaftskrise um 50 Prozent gekürzt wurden –, aber für jedes Projekt muß Kostanian Sponsoren finden, meist außerhalb Litauens. Die einheimische Bevölkerung interessiert sich kaum für die Ausstellung. Die knapp 4000 Besucher, die jährlich hereintröpfeln, sind meist Nachkommen jüdischer Einwohner. Kinder, Enkel und Urenkel wollen wissen, wo das Schtetl ihrer Vorfahren lag und wie deren Kultur aussah. Schulklassen und Jugendliche kommen kaum noch, seit vor einigen Jahren der Lehrplan geändert wurde.

Über die Diffamierung der jüdischen Partisanen will Kostanian nicht reden, sie sei ja keine Politikerin. Auf die Frage, ob die Kampagne Auswirkungen auf ihre Arbeitsmöglichkeiten habe, antwortet sie kryptisch: Es gebe Augenblicke, »da ist es sehr hart«. Und dann spielt sie den Ball zurück: »Sie müssen das selbst recherchieren, Sie müssen die Massenmedien lesen, wenn Sie das verstehen wollen.«

»Demokratie geht zurück«

»Sie hat Angst um ihren Job«, erklärt Dovid Katz die ausweichende Reaktion von Rahel Kostanian. Der 54jährige Professor aus New York lebt seit elf Jahren in Vilnius. Er half, das Jiddische Institut an der Uni aufbauen, und er hat seinen Job schon verloren, weil er sich offensiv und bisweilen polemisch für die Sache der Partisanen eingesetzt hatte. Eigentlich, sagt Katz, sei er nicht sonderlich politisch. Aber seine Zuneigung zur jiddischen Sprache könne er nicht trennen von einer Zuneigung »zu den letzten jiddisch-sprechenden Menschen hier«. Er bekam im Frühjahr 2008 mit, wie die Polizei die Bibliothekarin des Instituts, Fania Yocheles-Brantsovskaya, eine ehemalige Partisanin, suchte. »Das war ein Schritt, den ich als Mensch, als Jude und als Freund des Jiddischen nicht schweigend hinnehmen konnte.« Es sei ein »Verbrechen«, diese hochbetagten Menschen, »Helden im Kampf gegen Hitler, jetzt als verdächtige Kriegsverbrecher in die Geschichte schicken zu wollen«. Auf seiner Homepage (www.holocaustinthebaltics.com) berichtet Katz regelmäßig über die antisemitischen Vorgänge in Litauen. »Ich war sehr schockiert, daß der Direktor unseres Instituts, nachdem er Anweisungen von weiter oben erhalten hatte, mir sehr deutlich zu verstehen gab, daß meine Laufbahn am Institut beendet wäre, wenn ich nicht Ruhe gäbe.« Ruhe gab er nicht, so ist Katz nun freischaffender Wissenschaftler.

Katz löst die Hinweise von Rahel Kostanian auf die Rolle der Medien auf: Er zeigt uns eine Karikatur auf der Titelseite der populären Tageszeitung Respublikas aus dem Jahr 2009. Sie zeigt eine Gestalt mit Schläfenlocken, krummer Nase, verschlagener Mimik und langem Kaftan, die gemeinsam mit einem muskulösen, fast nackten Mann, der einen Schwulen darstellt, die Weltkugel hält. Titel: »Wer regiert die Welt?« Der Anlaß für dieses hetzerische Bild: Ein paar prominente Juden hatten sich gegen das Verbot einer Schwulenparade ausgesprochen, die nach einigem Hin und Her von einem Gericht genehmigt wurde. Einem Journalisten, der beim Presserat Beschwerde gegen die Hetzkarikatur eingelegt hatte, wurde mit einer Anklage wegen Verletzung der Pressefreiheit gedroht. Schlimmer war, daß sein Konterfei mit voller Namensnennung in einer neuerlichen antisemitischen und homophoben Karikatur abgedruckt wurde: Viele Journalisten hätten damals »beschlossen, daß es manchmal besser ist, ruhiger aufzutreten«, stellt Simon Gurevichius, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde, fest. »Noch vor fünf Jahren war die Stimme der Intellektuellen viel lauter als heute. Und das liegt eindeutig an der Medienkampagne«, berichtet Gurevichius weiter, und auch Katz bestätigt, daß Filmproduzenten oder Historiker heute ihren Protest nur noch flüsternd äußern. Es herrsche heute das Gefühl eines rapiden Freiheitsverlustes und der Angst, so Katz.

Zu diesem Gefühl trägt die Summe aller »antitotalitären« Vorgaben bei: Auf der »wissenschaftlichen Ebene« das Genozid-Museum, die präsidiale Untersuchungskommission zu Nazi- und Sowjetverbrechen, ein dazugehöriges Forschungszentrum, die gezielte Vergabe von Fördermitteln. Auf der juristisch-politischen Ebene stellen die Gesetze, die »totalitäre Symbole« und die »Verharmlosung« von Kommunismus und »Nationalsozialismus« verbieten, klar, was die erwünschte Geschichtspolitik ist. Begleitet wird dies von regelmäßigen antisemitischen Ausfällen in Medien und Politik. Erst Ende November schwadronierte ein Mitarbeiter des Innenministeriums, der Nürnberger Prozeß sei eine »Justizfarce« gewesen, welche die »Legende von sechs Millionen mutmaßlich ermordeten Juden« etabliert habe. In Litauen wird so eine Äußerung nur von wenigen als Skandal begriffen.

All dies schafft ein Klima, in dem es als anrüchig gilt und speziell für Nachwuchswissenschaftler extrem karriereschädlich ist, den vorgegebenen historischen »Weisheiten« zu widersprechen. »In Litauen geht die Demokratie zurück«, bilanziert Katz.

Partisanenlager verschwindet

Fania Brantsovskaya kämpfte vor 70 Jahren bei den Partisanen. Als 2008 deswegen die Polizei zu ihr kam, hat sie die Aussage verweigert. Aber über die moderne Partisanenhatz mag sie genauso wenig reden wie Rahel Kostanian vom »Grünen Haus«: Auch Brantsovskaya hängt an ihrem Job. Mit ihren 88 Jahren arbeitet sie immer noch in der Bibliothek des Jiddischen Instituts. Auch sie tut dies nicht wegen des Geldes. Sie halte es schlicht und einfach für ihre Pflicht, die Geschichte der Juden in Litauen und ihres Widerstandes zu bewahren. »Solange mich die Füße tragen. Das hält mich moralisch aufrecht.« Wer im Jiddischen Institut an den internationalen Sommer-Sprachkursen teilnimmt, dem wird nicht nur die Sprache vermittelt. ­Brantsovskaya führt die Teilnehmer durch das ehemalige Ghetto und zu ihrem alten Partisanenlager im Wald. Die westlichen Botschaften haben ihr in den vergangenen zwei Jahren, als eine Form des diplomatischen Protests gegen die Diffamierungskampagne, eine Menge Auszeichnungen verliehen. Voriges Jahr bekam sie auch ein deutsches Verdienstkreuz. Fünf Minuten, nachdem die Verleihung bekannt wurde, polterte der (litauische) Vorsitzende der parlamentarischen Kontaktgruppe zu Deutschland los, das sei »unakzeptabel«: »Die Auszeichnung von Personen, an deren Händen das Blut von Litauern klebt, ist eine Demütigung!« Eine Reaktion der deutschen Botschaft hierauf blieb aus.

Brantsovskaya hatte sich Anfang 1942 im Wilner Ghetto der »Vereinigten Partisanen-Organisation« (Fareynigte Partizaner Organizatsie, FPO) angeschlossen, die sämtliche politischen Organisationen vereinte. Im Keller der Ghettobibliothek nahm die damals 19jährige an Schießübungen teil und baute aus alten Glühbirnen Molotow-Cocktails. Ob sie das heute noch könne? »Ich weiß nicht, das ist lange her«, lacht sie.

Im September 1943 ist Brantsovskaya mit einer Freundin zu den Partisanen in den Rudnicker Wald geflohen, 40 Kilometer südwestlich der Hauptstadt.

Heute ist das Partisanenlager im Begriff zu verschwinden. Die sozialistischen Behörden hatten es nach dem Krieg zu einer Art Modellcamp gemacht. Wände und Decken der ursprünglichen Holzhütten, die halb in den Waldboden eingegraben waren, wurden aus Beton nachgefertigt, und die jüdische Brigade mit dem Namen »Rächer« zur »sowjetischen« Brigade umdeklariert. Beides war der Authentizität nicht gerade förderlich, aber immerhin: Ohne die Sowjets gäbe es hier gar nichts mehr zu sehen. Sie hatten auch ein kleines Ausstellungsgebäude eingerichtet. »Das wurde 1990 liquidiert«, so Brantsovskaya.

Zu sehen sind noch die Überreste der Schlafstätten für die bis zu 107 Partisanen. Auch ein Bade­haus gab es damals. Drei Kilometer Luftlinie entfernt ist das nächste Dorf, zu dem es damals gute Kontakte gegeben habe. »Viele Menschen haben uns geholfen, ohne sie hätten wir nicht kämpfen können, « erklärt sie und stellt damit klar, daß es nicht nur Kollaborateure gegeben hat. Mehrfach ist Brantsovskaya zu Sabotageaktionen an Schienensträngen und Telefonleitungen ausgerückt. Die militärische Bedeutung dieses Widerstandes stellt sie aber hinter den moralischen zurück: Im Gegensatz zum Ghetto hätten sich die Juden im Wald wie Menschen fühlen können. Viele ihrer Freunde seien dort gestorben. »Aber sie sind wie Menschen umgekommen«, und das sei die eigentliche Botschaft »für die, die am Leben geblieben sind und für die kommenden Menschen: Wir brauchen uns nicht schämen. Wir sind stolz, daß Menschen so gekämpft haben.«

Diese Botschaft droht nun im wahrsten Sinn des Wortes im Boden zu versinken. Es ist schon eine Herausforderung, das Lager überhaupt zu finden. Wir werden von Sebastian Pammer gelotst, einem überaus engagierten 18jährigen Österreicher, der im »Grünen Haus« seinen »Gedenkdienst« ableistet, eine Art Wehrersatzdienst. Seine Ortskenntnis ist unverzichtbar, denn Hinweisschilder gibt es nicht (mehr), so wie ganz Litauen überall dort, wo es Holocaust-Erinnerungsorte gibt, hinweisfrei ist. Das gilt selbst für einen so »prominenten« Ort wie Ponar (Paneriai), einem Vorort von Vilnius, in dem in weniger als drei Jahren 100000 Morde geschahen: Keine Schilder, die vom Bahnhof aus den Weg weisen. Zu Sebastians Hauptprojekt gehört derzeit die kartographische Erfassung von Massengräbern mit GPS-Daten, so daß sie wenigstens für kundige Autofahrer zu finden sind. 230 Orte, an denen mal ein paar Dutzend, mal ein paar hundert bis tausend Juden ermordet wurden, sind übers Land verstreut, aber 45 Jahre Sowjetherrschaft und 20 Jahre Unabhängigkeit sind verstrichen, ohne sie zu erfassen. Was die Sowjets angeht, so hatten diese stets das »Sowjetische« über das spezifisch Jüdische gestellt.

Das Jüdische Museum, das 1945 von Überlebenden eröffnet wurde, mußte 1949 schließen: Keine Nation sollte als Opfer hervorgehoben werden. »Es war gerade so, als ob es keine Juden gegeben hätte«, sagt Rahel Kostanian, die das Museum 1989 ein zweites Mal eröffnete. Zugleich verdanken die Juden ihr Überleben in der Regel ihrer Evakuierung in die Sowjetunion oder ihrer Zusammenarbeit mit sowjetischen Partisanenverbänden – was sie in der nationalistisch aufgeladenen Szenerie Litauens wiederum zu Verdächtigen macht. Die Litauer indes haben überhaupt kein Interesse daran, an die Zeit von 1941 bis 1944 erinnert zu werden, die auch die Zeit ihrer Kollaboration war. Die Erinnerung an die jüdische Geschichte und den Holocaust ist heute wieder ein bedrohtes Randphänomen, das von wenigen, meist hochbetagten Personen getragen wird. Für ein Gedenken, das komplett unabhängig von staatlichen Zuwendungen und damit staatlichem Einfluß ist, fehlt es an Geld.

»2011 wird hart«

Im Jahr 2011 wird die offiziöse Geschichtspolitik ihrem nächsten Höhepunkt zustreben. Das Parlament verkündete im September anläßlich des Jahrestages der Auflösung des Wilner Ghettos am 23.9.1943, 2011 werde zum »Jahr des Gedenkens an den Holocaust.«

Das klang nach einem gewissen Fortschritt, doch kaum war der Präsident wieder zu Hause, rief ein zweiter Parlamentsbeschluß 2011 als Jahr des »Gedenkens an den Freiheitskampf und die Großen Verluste« aus. Eine vom Parlament verbreitete Presseerklärung behauptete die Kontinuität des »Freiheitskampfes« von 1941 mit den Unabhängigkeitsbestrebungen von Ende der 1980er Jahre. Die dabei erlittenen »Großen Verluste« wurden aufgelistet: Von den 30000 Menschen, die 1941 nach Sibirien deportiert wurden, bis zu den 14 Menschen, die sich im Januar 1991 am Fernsehturm gegen sowjetische Panzer gestellt hatten und erschossen wurden. Die rund 200000 ermordeten Juden hingegen stehen nicht auf der Verlustliste, und daß die Kollaboration der »Freiheitskämpfer« mit den Nazis thematisiert wird, ist nicht zu erwarten. »2011 wird sehr hart für die Juden hier«, befürchtet Katz. Die einzige Abhilfe, die er sich erhofft, ist die Aufmerksamkeit westlicher Medien. Das sei auch die beste Garantie dafür, daß Rahel Kostanian und Fania Brantsovskaya ihre Arbeit weitermachen könnten.

* Der Autor war im November 2010 mit der »Pinima-Filmproduktion« auf einer Recherchereise in Litauen.

Aus: junge Welt, 16. Dezember 2010



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