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"Leugnung sowjetischer Aggression"

Erster Maulkorb-Prozeß in Litauen endet mit Freispruch für linken Politiker

Von Frank Brendle *

In der litauischen Hauptstadt Vilnius ging in der vergangenen Woche ein Gerichtsverfahren wegen »Leugnung einer sowjetischen Aggression« mit einem Freispruch für den sozialistischen Politiker Algirdas Paleckis zu Ende. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr auf Bewährung gefordert. Paleckis sollte gegen ein Gesetz aus dem Jahr 2010 verstoßen haben, das mit bis zu zwei Jahren Haft bedroht, wer Nazi- oder sowjetische Verbrechen »leugnet oder in grober Weise verharmlost« und dadurch den öffentlichen Frieden gefährdet. Anlaß war ein Radiointerview, in dem der Politiker bestritt, die Sowjetarmee habe im Januar 1991 das Feuer eröffnet, um eine Menschenmenge an der Besetzung des Vilniuser Fernsehturms zu hindern. 14 Personen, die für die Unabhängigkeit Litauens protestiert hatten, waren ums Leben gekommen. Paleckis hatte ausgeführt, es hätten vielmehr »unsere eigenen Leute auf unsere eignen Leute« geschossen, also litauische Provokateure aus dem Inneren des Fernsehturms. Gegenüber jW erklärte der Politiker, mit dem Verfahren wolle die nationalistische Regierung »das Feindbild Rußland bzw. UdSSR pflegen«.

Paleckis ist der erste, dem wegen seiner »falschen« Meinung über historische Vorgänge der Prozeß gemacht wurde. Aus Sicht litauischer Nationalisten eignet er sich gleich mehrfach als Versuchskaninchen für die erstmalige Anwendung des Maulkorb-Gesetzes: Der Enkel eines sowjetlitauischen Politikers ist Chef der Sozialistischen Volksfront, einer Partei, die bei den letzten Wahlen auf knapp über drei Prozent der Stimmen gekommen war. Zudem ist er einer der wenigen Politiker im Land, der seine Stimme gegen Antisemitismus, die Relativierung des Holocaust und die Glorifizierung von Nazikollaborateuren als Nationalhelden erhebt.

Eine Klärung der tatsächlichen Vorgänge am Fernsehturm strebte das Gericht nicht an. Weil das inkriminierte Interview in russischer Sprache gegeben worden war, wurden Sprachwissenschaftler als Zeugen gehört. Die Richter kamen zum Schluß, Paleckis habe die 14 Todesopfer nicht »diffamiert«. Damit könne er sich auf die in der UNO-Menschenrechtserklärung verankerte Meinungsfreiheit berufen. Die Staatsanwaltschaft kündigte bereits wenige Stunden nach der Urteilsverkündung an, sie werde in Berufung gehen.

Die Sozialistische Volksfront erklärte während des Prozesses in einer Pressemitteilung, Paleckis habe »nie das Verbrechen Gorbatschows bestritten, Panzer gegen Menschenmassen zu schicken«, aber geschossen hätten in diesem Fall andere. Die Anklage sei ein »brutaler Angriff auf grundlegende Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit«. Aus Estland, Lettland und Rußland kamen einige Prozeßbeobachter antifaschistischer Organisationen, darunter die Vereinigung »Welt ohne Nazismus«, der Paleckis selbst angehört. Innerhalb Litauens ist er weitgehend isoliert: Nicht einmal bürgerliche Menschenrechtsorganisationen hatten sich zu dem offenkundig politischen Prozeß geäußert.

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2012


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