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Litauens verordnete Wahrheit

In Vilnius wurde ein Politiker wegen "Leugnung der Verbrechen der UdSSR" verurteilt

Von Viktor Timtschenko *

Das Berufungsgericht in Litauens Hauptstadt Vilnius verurteilte am Dienstag einen linken Politiker dafür, dass er Zweifel an der staatlich verordneten Wahrheit äußerte. Demokratiewächter im Westen beobachten schweigend, wie in Europa ein politischer Dissident für sieben Worte bestraft wird.

In der Nacht vom 12. zum 13. Januar 1991 sammelten sich vor dem Fernsehturm in Vilnius die Kämpfer für die nationale Unabhängigkeit des noch sowjetischen Litauens. Mitglieder der Bewegung »Sajudis« hatten den Fernsehsender bereits in ihre Gewalt gebracht, die »Russen« - die KGB-Spezialeinheit »Alpha« und Soldaten der Sowjetarmee - sollten den Sender zurückerobern.

Aufgebrachte Litauer standen auf der einen Seite, »Alpha« und Fallschirmjäger auf der anderen Seite. Auch sowjetische Panzer rollten Richtung Fernsehturm und richteten ihre Läufe auf die Menge. Schüsse fielen. 13 erzürnte, aber unbewaffnete Bürger ließen ihr Leben. »Russen« hätten sie kaltblütig umgebracht, hieß es nicht nur in litauischen Nachrichten. Zum Begräbnis kamen Zehntausende Litauer. Hass auf »die Russen« war die vorherrschende Stimmung im Baltikum.

Sehr bald zogen sich die »Russen« aus Vilnius, aus Litauen, schließlich aus dem ganzen Baltikum zurück. Der Fernsehturm von Vilnius war zum Symbol der Befreiung vom »russischen« Joch geworden, ein Markstein des Zerfalls der Sowjetunion. Der Platz vor dem Turm hieß fortan »Platz des 13. Januar«. Die Toten wurden zu Helden der Nation erklärt, die Geschichte in der damals verbreiteten Fassung wurde zur Staatsideologie. Und obwohl die Ermittlungen zu den Todesursachen der 13 Menschen bis heute - 21 Jahre später - nicht abgeschlossen sind, verabschiedete das litauische Parlament ein Gesetz, das die Leugnung der Ereignisse vom 13. Januar unter Strafe stellt.

Im November 2010 aber wagte es ein Litauer, Zweifel zu äußern. Er sagte: »Wie sich jetzt herausstellt, schossen unsere auf unsere.« Nicht »die Russen«. Im Litauischen sind das sieben Wörter. »Unsere schossen auf unsere«, heißt im Klartext: »Sajudis«, damals in Litauen bereits dominierend, hatte bewaffnete Provokateure zum Turm geschickt und Tote billigend in Kauf genommen. Ist der Unruhestifter noch bei Trost?

Algirdas Paleckis wurde 1971 als Sohn eines litauischen Diplomaten in der Schweiz geboren. Er studierte Außenpolitik in Vilnius und Paris und stand seit 1994 in Diensten des litauischen Außenministeriums. Zwischen 2004 und 2007 war er Abgeordneter des Parlaments, 2004 erhielt er den Orden »Für Verdienste um Litauen«. Paleckis ist Vorstandsmitglied der internationalen Menschenrechtsbewegung »Welt ohne Nazismus«. Also ein Mann, der seine Worte zu wählen weiß. Warum sagte er in einer Radiosendung: »Unsere schossen auf unsere«?

Es gibt Zeugen, die aussagen, dass nicht »die Russen« in die Menge schossen, sondern Leute aus den Fenstern und vom Dach eines Hauses in der Nähe und aus dem Fernsehturm selbst. In seinem Buch »Das Narrenschiff« schrieb Vytautas Petkevičius, einer der »Sajudis«-Gründer, im Jahre 2004: »Das Blut der dreizehn Opfer liegt auf dem Gewissen von Landsbergis und Audrius Butkevičius (»Sajudis«-Führer - V.T.). Sie haben angeordnet, dass Dutzende (litauische) Grenzsoldaten in Zivil in den Fernsehturm geschickt wurden. Sie schossen mit scharfer Munition von oben nach unten in die Menge. Ich sah mit eigenen Augen, wie die Kugeln auf den Asphalt prallten und als Querschläger um meine Füße flogen. Davon, wie es war, erzählten mir auch verletzte Grenzer. Sie versuchten, die Wahrheit mithilfe der Presse wiederherzustellen, konnten aber nichts beweisen, weil sie von den Listen der Verteidiger (des Fernsehturms) gestrichen wurden ...«

Zweites Argument: Die Kugeln flogen nicht horizontal (nicht so, als hätten Soldaten auf der Straße auf Bürger geschossen), sondern von oben nach unten, und zwar im Winkel von 50 bis 60 Grad. Drittens stammten die Projektile nicht aus Kalaschnikows oder Scharfschützengewehren, mit denen Soldaten ausgerüstet gewesen wären, sondern aus Jagdwaffen mit glattem Rohr, aus Kleinkalibergewehren und aus einem Gewehr aus dem Jahr 1891. Das haben die litauischen Gerichtsexperten immerhin festgestellt. Viertens wurde auch ein sowjetischer Offizier erschossen - einige Aufständische in Zivil müssen also Waffen bei sich getragen haben. Fünftens wurden zwei der »Ermordeten« als Verkehrstote (Auto-, nicht Panzerunfall) identifiziert. Sechstens starb einer von 13 an Herzversagen, ein anderer wurde von Kugeln durchlöchert, nachdem er bereits tot war. Siebtens ist bekannt, dass die Bewegung »Sajudis« 1991 bewaffnete paramilitärische Einheiten besaß. Achtens und neuntens existieren auch Zeugenaussagen derjenigen, die auf der litauischen Seite bewaffnet waren, und es gibt Bilder aus jener Nacht, die litauische Freiheitskämpfer mit Glattrohrgewehren zeigen. Schließlich zehntens: Einer der Organisatoren des litauischen Widerstands am Fernsehturm gab öffentlich zu, dass man mit Opfern am Turm gerechnet und die Menschen auch provoziert habe. Deshalb sagte Algirdas Paleckis laut, was in Litauen keiner sonst auch nur zu flüstern wagt.

Beim ersten Prozess brachte Paleckis zwölf Augenzeugen mit ins Gericht, darunter einen ehemaligen Mitarbeiter des Innenministeriums und einen ehemaligen hohen »Sajudis«-Funktionär, die seine Version bestätigten. Am 18. Januar 2012 wurde er daraufhin freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wollte jedoch an ihm ein Exempel statuieren - und ging in Berufung.

Am Dienstag verurteilte das Gericht Paleckis in zweiter Instanz wegen »Leugnung der Verbrechen der UdSSR gegen Litauen« zu einer Geldstrafe von 10 400 Litas (ca. 3000 Euro).

Zum Vergleich: Am 11. März 2008 marschierten 200 Skinheads über den Zentralprospekt von Vilnius, auf ihren Fahnen Totenkopf und Hakenkreuz. Sie schrien: »Litauen ohne Russen!« (etwa 5 Prozent der Bevölkerung), grölten auf Deutsch »Juden raus!« und riefen einen populären litauischen Kinderreim: »Nehmt, Kinder, einen Stock und haut das Judenbürschlein tot!« Die Polizei griff wie gewöhnlich durch: Nach Zeugenaussagen achtete sie streng darauf, dass die Demonstranten den Bürgersteig nutzen und auf keinen Fall die Fahrbahn betreten. Nach internationalen Protesten wurden die Neonazis sogar bestraft: einer zu umgerechnet 867 Euro, zwei zu je 377 Euro.

Für Paleckis ist die Geldstrafe zweitrangig. Er sieht in seiner Verurteilung einen Schlag der Macht gegen seine politische Kraft, die Sozialistische Volksfront, vor den Wahlen im Herbst dieses Jahres. »Diese Strafverfolgung ist ein deutliches Beispiel für den Missbrauch des Gerichts zur Einmischung in den demokratischen politischen Prozess«, sagte Paleckis. Eine unabhängige internationale Untersuchungskommission könnte helfen, Licht in die dunkle Geschichte zu bringen. Aber als Realist glaubt er nicht, dass so ein Ausschuss im heutigen Litauen möglich wäre.

»Als unbeugsamer Kämpfer für Demokratie und soziale Rechte in Litauen und Europa erlangte Algirdas Paleckis breite internationale Bekanntheit«, schrieb Anfang Juni die russische Zeitung »Prawda«. In diesem Punkt ist das Organ der russischen Kommunisten zu korrigieren: Paleckis besitzt keinen internationalen Bekanntheitsgrad (wie etwa Chodorkowski oder Timoschenko…), jedenfalls nicht in Deutschland. Und ich bin sicher, dass die deutschen Konzern- und GEZ-Medien alles Erdenkliche dafür tun werden, damit er diese Bekanntheit auch nie bekommt. In der EU gibt es, wie man weiß, per se keine politische Justiz.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 14. Juni 2012


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