Präsidiale Hand am Regierungsruder
Nach den Wahlen in Litauen bremst Staatschefin Grybauskaite eine linke Koalition
Von Thomas Mell, Tallinn *
Drei Oppositionsparteien wollen nach
den litauischen Parlamentswahlen die
neue Regierung bilden, doch Staatspräsidentin
Dalia Grybauskaite versucht,
die Arbeitspartei des umstrittenen
Viktor Uspaskich rauszukegeln.
Litauens Staatspräsidentin Dalia
Grybauskaitė steht in der Wählergunst
ganz weit oben. Um diese
Zustimmung musste Grybauskaitė
(56) bei den jüngsten Wahlen in
Litauen, am 14. und 28. Oktober,
aber gar nicht ringen. Die ehemalige
EU-Haushaltskommissarin
wurde bereits 2009 als erste Litauerin
zum Staatsoberhaupt gekürt.
Eigentlich sind ihre Kompetenzen
bescheiden. Allerdings
steht ihr das Recht zu, den Auftrag
zur Regierungsbildung zu erteilen.
Und das gibt ihr einen gewissen
Spielraum.
Nach den Parlamentswahlen ist
nur eines klar. Die Sozialdemokraten
sind nach vier Jahren wieder
stärkste Kraft. Sie werden 38
der 141 Sitze im Parlament (Seimas)
einnehmen. Parteichef Algirdas
Butkevičius (53) kann sich
wohl auf das Amt des Ministerpräsidenten
vorbereiten. Dagegen
hat auch Grybauskaitė nichts, wie
sie wissen ließ. Sie stören zwei andere
bisherige Oppositionsparteien:
die Arbeitspartei (29 Sitze) von
Viktor Uspaskich und die Partei
»Ordnung und Gerechtigkeit« (11
Sitze) des abgesetzten Expräsidenten
Rolandas Paksas. Dieses
Dreierbündnis hatte noch in der
Wahlnacht gemeinsame Regierungsabsichten
verkündet.
Die Geister scheiden sich insbesondere
an dem russischstämmigen
Uspaskich (53), einem ehemaligen
Schweißer, der mit Lebensmitteln
und als Vertreter von
Gazprom eine steile Geschäftskarriere
hinlegte. Nach Geld und Einfluss
folgte der Einstieg in die Politik,
der 2003 in die Gründung der
Arbeitspartei mündete. Uspaskich
ist der Dr. Jekyll und Mr. Hyde der
litauischen Politik. Einerseits ist
der begnadete Populist — sagen
seine Gegner — besonders bei den
sozial Schwächeren beliebt, anderseits
ist seine politische Laufbahn
mit Betrugsvorwürfen, Finanzaffären
und Haftbefehlen gespickt.
2006 tauchte er für ein Jahr
in Russland unter, danach hat er
sich als Mitglied des litauischen
bzw. des Europäischen Parlaments
durch Immunität das Gericht
vom Leibe halten können.
Präsidentin Grybauskaitė aber
zog sofort nach den Wahlen die
Reißleine. »Eine Partei, die des
vielfachen Wahlbetrugs und der
Bilanzfälschung verdächtigt wird,
und deren Anführer strafrechtlich
angeklagt sind, darf nicht
an der Regierungsbildung
teilnehmen«, sagte sie
nach einem Treffen mit
Butkevičius. Der zeigte
sich überrascht, sucht
jetzt aber einen Kompromiss.
So beteuerte er,
dass er Uspaskich weder
als Präsidenten des Seimas
noch auf einem Ministerposten
zulassen
würde. Zudem erwäge er,
einen vierten Koalitionspartner
einzubeziehen,
und schlug vor, dass die
Präsidentin den neuen
Außenminister bestimmen
könne. Starker Tobak
für eine parlamentarische
Republik.
Uspaskich selbst hat schon Bereitschaft
signalisiert, sich aus der
Regierung herauszuhalten. Zudem
bekräftigte er frühere Aussagen,
dass die gegen ihn laufenden Ermittlungen
politische Verfolgung
seien.
Der Streit lässt für die restlichen
vier Parteien, die den Sprung
in den Seimas geschafft haben, eine
Hintertür offen. In Lauerstellung
warten die Konservativen um
den bisherigen Regierungschef
Andrius Kubilius, deren Sparkurs
in der Wirtschaftskrise mit Stimmenverlust
bestraft wurde, die mit
33 Sitzen und Platz 2 aber einen
unerwartet soliden Wahlauftritt
hinlegten. Eine große Koalition mit
den Sozialdemokraten ist aber
wegen der verhärteten Fronten
unwahrscheinlich. Vage Hoffnungen
auf Regierungsverantwortung
hegt auch die Partei der polnischen
Minderheit, die zum ersten
Mal mit einer eigenen Fraktion im
Seimas vertreten ist.
Der frühere Finanzminister
Butkevičius ist nach den Wahlen
zudem in Kernfragen zurückgerudert.
Er möchte zwar den Mindestlohn
anheben und die Steuerlast
umverteilen, aber seine Möglichkeiten
sind begrenzt. Das
Haushaltsminus dürfe im nächsten
Jahr nicht 2,5 Prozent übersteigen,
was auch Kubilius’ Regierung zum
Ziel hatte. Der Euro soll kommen,
aber ein Jahr später — 2015. Und
er sei nicht gegen Atomenergie,
sondern bemängele nur das »hastig
entworfene« Projekt Visaginas.
Der geplante Meiler im Nordosten
des Landes hatte am 14. Oktober
bei einer unverbindlichen Volksbefragung
60 Prozent Gegenstimmen
erhalten.
Litauens Politik muss nicht zuletzt
darauf achten, dass das Schiff
nicht zu stark schaukelt. Vilnius
wird im Juli 2013 den Vorsitz der
EU übernehmen. Egal, welche
Konstellation am Ende steht, die
Präsidentin wird noch einige Zeit
am Regierungsruder mitdrehen.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 01. November 2012
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