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Wahlzeit im spannungsreichen Mazedonien

Regierung wirbt mit der "billigsten Arbeitskraft Europas" / Kluft zwischen den Ethnien wird wieder größer

Von Jerko Bakotin *

Zweimal in diesem Monat werden Mazedoniens Bürger zur Wahl gerufen: am Sonntag zur ersten Runde der Präsidentenwahl, zwei Wochen später zur zweiten, die mit den Parlamentswahlen zusammenfällt.

Jede dritte Person lebt unterhalb der Armutsgrenze, es gibt ethnische Spannungen, Korruption, Repression gegen die Medien, eine Arbeitslosenquote von fast 30 Prozent: Die Lage in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien ist verheerend.

»Wie stets vor Wahlen erleben wir eine starke ethnische Lagerbildung. Nachdem sich die Regierungsparteien, die rechtskonservative VMRO-DPMNE und ihr albanischer Koalitionspartner DUI, nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, hat der DUI-Vorsitzende Ali Ahmeti zum Boykott der Präsidentenwahl aufgerufen. Darauf forderte die VMRO-DPMNE eine massive Teilnahme ihrer Wähler, um sich eine absolute Parlamentsmehrheit zu sichern und nicht mehr den ›Erpressungen der Albaner‹ ausgesetzt zu sein«, erläutert Tamara Čausidis, Präsidentin der mazedonischen Journalistengewerkschaft. Die VMRO-DPMNE unter Ministerpräsident Nikola Gruevski regiert mit verschiedenen Partnern seit 2006 und gilt als unbesiegbar. Doch der Präsidentschaftskandidat der oppositionellen Sozialdemokratischen Union Mazedoniens, der Universitätsprofessor Stevo Pendarovski, ist gegen Amtsinhaber Gjorge Ivanov (VMRO-DPMNE), der ganz im Schatten Gruevskis steht, nicht chancenlos.

»Pendarovski wirbt auf Plakaten und im Fernsehen auch auf albanisch, er besucht mehrheitlich albanisch bewohnte Siedlungen. Und er trägt keine schmutzige Weste aus der Vergangenheit«, sagt Čausidis. Man erinnert sich seiner gemäßigten Auftritte als Sprecher des Innenministeriums während des blutigen Konflikts mit albanischen Aufständischen im Jahre 2001. Das danach vereinbarte Ohrid-Abkommen gestand den Albanern, die etwa ein Viertel der zwei Millionen Bewohner Mazedoniens ausmachen, größere Rechte zu.

Laut Tamara Čausidis gibt es jedoch »ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlkampagne«. Sie berichtet von Phantomwählern, die alle an derselben Adresse gemeldet sind, und von der Allgegenwart der Minister in den Medien. »Überhaupt ist die Kampagne ziemlich unfair.« Čausidis beklagt, dass es in Mazedonien keine Medienfreiheit gebe und die Redefreiheit ernsthaft bedroht sei. Eine Umfrage ihrer Gewerkschaft zeige, dass mindestens 65 Prozent der Journalisten bereits Opfer oder Zeugen von Zensur waren. »Die meisten großen Medien werden von der Regierung kontrolliert. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, jeder kann entlassen oder verhaftet werden«, berichtet die Journalistin.

Wichtiges Wahlthema ist die schlechte wirtschaftliche Lage. Doch Artan Sadiku, Leiter des unabhängigen Instituts für Sozial- und Geisteswissenschaften, hat wenig Hoffnung, dass die Wahlen wesentliche Änderungen bringen. »Nirgends in Europa ist die Ungleichheit so groß wie bei uns«, sagt er. »Mit Beginn der Krise wurden die Rechte von Gewerkschaften und Arbeitnehmern immer weiter eingeschränkt. Jetzt sprechen die Sozialdemokraten davon, dass sie für die ›Rückkehr des Mittelstands‹ sorgen werden. Aber sie selbst waren es, die in der Vergangenheit die Arbeitnehmerrechte geschwächt haben.« Um Investoren wirbt die Regierung mit »der billigsten Arbeitskraft Europas«. Der Mindestlohn liegt offiziell bei 120 Euro, aber in der Textilindustrie verdienen Frauen weniger als 100 Euro monatlich. Nach Angaben der Schweizer Organisation »Erklärung von Bern« entspricht die Lücke zwischen den Einnahmen mazedonischer Textilarbeiterinnen und ihren Lebenshaltungskosten etwa denen in Bangladesch.

Die erste Runde der Präsidentschaftswahl könnte Vorzeichen für die Parlamentswahlen setzen. Tamara Čausidis sieht Pendarovski leicht in Führung. Ungeachtet dessen erwartet Artan Sadiku für die Parlamentswahl einen neuerlichen Sieg der VMRO-DPMNE, weil sie »die staatlichen Ressourcen unter Kontrolle hat. Es gibt keine klare Grenze zwischen der Partei und dem Staat.« Staatsangestellte müssen angeblich 20 bis 30 Stimmen für die Regierungspartei sichern und das – etwa durch Fotos der Stimmzettel – belegen.

Derweil wird die Kluft zwischen den Ethnien immer größer: getrennte Schulen, ethnisch »saubere« Stadtteile, »albanische« und »mazedonische« Ministerien und Medien ... »Albaner und Mazedonier leben in getrennten Welten. Busse, die auf ihrem Weg zu mazedonischen Vierteln durch albanische Wohngebiete fahren, werden mit Steinen beworfen, umgekehrt genauso«, berichtet Sadiku. Er wünschte sich eine »wirklich linke politische Organisation, die auf sozioökonomischen und nicht auf nationalistischen Prinzipien basiert«. Aber davon sei Mazedonien »noch Jahre entfernt«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. April 2014


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