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Wo sie nichts mehr halten konnte

Im Norden Malis haben Islamisten einen Scharia-Staat errichtet, Hunderttausende fliehen aus der Region

Von Jan-Niklas Kniewel *

Im nordmalischen Azawad - oder wie die Islamisten, die hier im Mai 2012 die Macht übernommen haben, das Gebiet nennen; Islamische Republik Azawad - ist ein Scharia-Staat entstanden, in dem die malische Regierung keinerlei Kontrolle mehr hat. Hunderttausende sind auf der Flucht aus einer Region, die seit jeher zwischen den Fronten aufgerieben wird.

Roter Staub umspült das sich die holprige Piste entlangwälzende Motorrad, die flirrende Hitze liegt wie eine erstickende Glocke über dem Land. Die Straße, der wir folgen, führt zu einem Lager für Binnenflüchtlinge, das sich etwa zwölf Kilometer entfernt von Mopti befindet, der letzten freien Stadt. Hier leben einige Hundert der fast 436 000 Flüchtlinge, die dem Gottesstaat entrinnen konnten. Und ständig kommen neue an. Verstärkt wird die Problematik noch dadurch, dass eine verheerende Dürre über den Norden hereingebrochen ist.

Zwischen den provisorischen Unterkünften, den Zelten des Roten Kreuzes, versuchen die Menschen ihr Leben zu leben, das Beste aus dem zu machen, was Ihnen bliebe, in der Hoffnung, dass sich die Situation im Norden rasch bessern möge. Es ist Mittag. Die Männer sind bereits frühmorgens verschwunden. Sie sind auf der Suche nach Arbeit. Einige in Mopti, manche sind auch - wie Fatoumatas Ehemann - in die Hauptstadt, ins über 500 Kilometer entfernte Bamako, gefahren. Ich treffe Fatoumata umgeben von ihren vier Kindern. Einmal hatte er ihr Geld geschickt, da war sie noch im Norden gewesen, damit sie mit den Kindern fliehen kann. Nun hat sie schon lange nichts mehr von ihm gehört. Seit drei Wochen - kein Wort. Hat keine Ahnung wie es ihrem Mann geht. Schlafen kann sie kaum noch. Doch nicht nur deshalb: »Immer, wenn ich in der Nacht ein Auto höre, denke ich, es sind die Islamisten oder die MNLA.«

Die MNLA, das ist die Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad, wie der nördliche Teil Malis bezeichnet wird. In ihr kämpfen die Tuareg, deren traditionelle Heimat die Region ist. Seit Jahrzehnten leiden sie zunehmend unter politischer und ökonomischer Marginalisierung, fühlen sich im Stich gelassen von der Regierung in Bamako und so kam es seit der Gründung des Staates Mali im Jahr 1960 immer wieder zu Revolten. Die jüngste begann im Januar dieses Jahres.

Auch deshalb, weil man Öl im Azawad gefunden hat und die Tuareg befürchten, wieder einmal übergangen zu werden. Gestärkt durch Waffen, die sie aus dem libyschen Bürgerkrieg mit in die Heimat brachten, in dem sie als Söldner an der Seite Gaddafis gekämpft hatten, gelang es ihnen rasch größere Gebiete des Nordens unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch die Tuareg kämpften für einen säkularen Staat, was verschiedene islamistische Gruppierungen auf den Plan rief, die der Al-Qaida im islamischen Maghreb nahe stehen und erklärten, keinen Staat Azawad zu dulden, der nicht die Scharia als Recht habe. Nach einem kurzen strategischen Bündnis überwarf man sich. Daraufhin vertrieben die Islamisten die MNLA aus den eroberten Gebieten, wie den bedeutenden Städten Timbuktu und Gao. Im Azawad wird inzwischen rigoros Recht nach der Scharia gesprochen.

Frauen dürfen das Haus nicht unverschleiert verlassen, Rauchen und Alkohol sind ebenso wie weltliche Musik verboten. Unehelicher Sex wird mit dem Tode bestraft, Diebstahl mit der Amputation der Hand. In Aguelhok haben sie ein Pärchen gesteinigt, das ein Kind bekam - weil sie nicht verheiratet waren. Dennoch haben die Islamisten viele Menschen hinter sich und das sind vor allem die Ärmsten. Denn die kriegen Nahrungsmittel für die sie nichts zahlen müssen. Außerdem zwingt man die Reichen dazu, Besitz abzugeben, so versuchen die Islamisten die soziale Lage zu entspannen.

Manche sagen, sie seien zumindest nicht so schlimm wie die MNLA. Als diese nach Gao kamen, haben sie die Frauen zwischen 18 und 22 zusammenrufen lassen. »Dann haben sie die Schönste ausgewählt, mit der Waffe in ihr Auto gezwungen und nach Hause gefahren. Dort haben sie sie dann vor den Augen ihrer Familie mit sechs Mann vergewaltigt.« Das erzählt eine Mutter, die die Auswahl beobachtet hat. So oder so, sagen die Flüchtlinge, kann man im Norden nicht mehr leben. »Einer meiner Söhne ist gerade 18 geworden, treibt sich viel rum. Wie könnte ich dieses Risiko eingehen? Sie peitschen dich aus, wenn du Alkohol trinkst …«

»Wenn ein Mann im Norden heute heiraten will, so muss er nur zu den Islamisten gehen und 5000 Westafrikanische Franc zahlen. Die Frau darf nicht widersprechen«, erklärt man mir. 5000 CFA-Franc - das sind keine acht Euro. Der Preis eines weiblichen Lebens im Azawad. Die Regierung hat hier jede Kontrolle verloren - oder besser gesagt: mehr oder weniger ohne jede Gegenwehr aufgegeben. Es sei beschämend gewesen, so erzählt Hama, ein Mann in den Dreißigern. »Als die MNLA mit sechs Jeeps in mein Dorf gekommen ist, war nur noch ein einziger Soldat da. Er nahm seine Uniform ernst, alle anderen waren weggelaufen. Doch was sollte er tun? Allein?« Das Dorf musste ihn mit zehn Kühen und fünf Schafen freikaufen, damit ihn die MNLA nicht tötet.

Hama besitzt drei Boote, transportiert Menschen und Waren den Niger entlang. Als einer der Wohlhabenderen muss er nicht im Camp leben, für etwa 300 Euro hat er sich ein kleines Grundstück mit einem kleinen Häuschen auf einer Insel im Niger gekauft. Er hat beschlossen, für immer hier zu bleiben, die Instabilität der Region Azawad, die hält er nicht mehr aus. Er ist verbittert. In einer Hütte auf derselben Insel ist ein Soldat mit seiner Familie untergekommen. »Seine Frau fährt mit den Kindern für ein Wochenende zurück. Sie will Ramadan mit ihren Eltern feiern. Der Soldat«, spottet er, ein bitteres Lächeln auf den Lippen, »bleibt hier. Er hat Angst, lässt seine Frau lieber allein gehen!« Es ist ein Familienbesuch, der voller Risiko ist, denn auch die Polizei ist geflüchtet. In Mopti heißt es, dass wochenlang auf jedem Boot, das den Niger entlang aus dem Norden kam, Dutzende Soldaten und Polizisten gewesen seien - verkleidet als Zivilpersonen. Das Resultat ist, dass große Teile des Nordens gesetzesfreie Zonen sind. Das nutzen Banditen aus, die die Busse überfallen, mit denen zahlreiche Flüchtlinge versuchen, in den Süden zu kommen.

Auch die Wirtschaft Malis leidet unter dem Konflikt. Yanogue ist Touristenführer. Raucht Kette. »Das Leben ist ein verdammter Scheiß«, spuckt er aus. Seit Februar hatte er keinen einzigen Klienten mehr. »Niemand kommt mehr nach Mali. Alle haben sie Angst.« Er lebt von den 50 Euro, die ihm ein Freund aus Frankreich monatlich schickt. Der Tourismus schwemmt jährlich etwa 232 Millionen Euro in die Kassen des Landes. Eine gewaltige Menge Geld für ein bitterarmes Land, die fast gänzlich wegfällt. Mit seinen hageren Fingern fährt Yanogue über die Tastatur seines Mobiltelefons, ständig erhält er Nachrichten von denen, die noch im Norden sind, die ihm die Situation vor Ort schildern. Das kriegen sie alle, ständig kommen auf diesem Weg die neuesten Nachrichten in den Umlauf. Journalisten dürfen ihrem Job im Norden nicht mehr nachgehen, das Programm, das die Radiostationen (der wichtigste Informationskanal mit einem Land in dem drei Viertel der Menschen Analphabeten sind) im Norden senden, ist das, was ihnen die Islamisten vorschreiben.

Die Europäische Union würde am liebsten sehen, dass das Staatenbündnis ECOWAS Truppen entsendet. Dies wird jedoch seitens Bamako und der malischen Bevölkerung äußerst kritisch gesehen. Wie man dem Terror der Islamisten auch Einhalt gebietet, anschließend - so diskutiert man in der Wirtschaftsunion - könne man die Tuareg befrieden, indem man ihnen mehr Autonomie zugesteht. Ein vager Plan. Nur eines ist klar: Seit gut einem Monat hat das Land eine neue Einheitsregierung. Das hatte die ECOWAS als Bedingung für eine mögliche Truppen-Entsendung genannt. Die Zeichen in Mali stehen weiter auf Instabilität.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. September 2012


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