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Ein "Kollateralschaden"

Hintergrund. Der Zerfall Malis als Folge des NATO-Angriffs auf Libyen ist Teil einer dramatischen Verelendung der gesamten Sahelzone. Destabilität kennzeichnet die Lage in der Region

Von Gerd Schumann *

Gemeinsam mit seinen Nachbarn zählt das Binnenland Mali – gelegen im nördlichen Zentralafrika, 13 Millionen Einwohner – zu den ärmsten Ländern der Welt. ­Speziell sein Norden, ein Gebiet doppelt so groß wie die BRD, gilt als besonders trauriges Stück Elend. Auf der Mali-Website der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die offensichtlich seit einigen Monaten nicht gepflegt wurde, ist zu lesen, daß die »Republik Mali« trotz aller Armut zu den »stabilsten Demokratien in Westafrika« gehört. Schließlich habe sie bereits »drei friedliche und demokratische Machtwechsel« vollzogen.

Waren mit diesen »Machtwechseln« die Unabhängigkeit von Frankreich am 22. September 1960 gemeint? Diese begründete tatsächlich – und im Gegensatz zu den meisten Nachbarstaaten – eine antikoloniale, vom Westen argwöhnisch beäugte und dann offen bekämpfte Entwicklungsrichtung. Sie hielt kein Jahrzehnt und wurde 1968 mit einem Putsch gegen den linken Präsidenten Modibo Keita gewaltsam beendet. Oberst Moussa Traorés Regime hatte danach das Land gen Westen geöffnet und regierte mit harter Hand bis zu den Aufständen von 1991. Im Jahr darauf wurde eine »demokratische Verfassung« verabschiedet, die Präsidentschaft von Alpha Oumar Kouaré begann, der 2002 von Amadou Toumani Touré – genannt »ATT« – abgelöst wurde. Das geschah in Abstimmungen, an denen sich zwischen 23,6 Prozent (1992, erster Wahlgang) und maximal 36,8 Prozent (2002, erster Wahlgang) der registrierten Abstimmungsberechtigten beteiligten. Vielleicht waren es diese, die den Schein vom »demokratischen Musterländle« erzeugten?

Die Ernüchterung trat spätestens mit dem Putsch mittlerer Ränge der malischen Armee vom 21. März 2012 ein. Diesem folgte wenig später die Ausrufung des »Unabhängigen Staats von Azawad« im Norden ebenso wie die Gefahr einer Militärintervention. Die Möglichkeit, daß das Land zu einem »failed state« werden könnte, ein zweiter gescheiterter Staat in Afrika nach Somalia, wird inzwischen allüberall und zumeist ohne genaueren Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse beschworen. Fest steht allerdings, daß die für den April vorgesehenen Wahlen in Mali ausfielen. Sie wären alles andere als »demokratisch« verlaufen und hätten doch noch einmal die alte Legende vom »friedlichen Machtwechsel« reproduzieren können. Das fiel aus und wird auch absehbar nicht nachgeholt werden können angesichts der labilen, unübersichtlichen Herrschaftsverhältnisse in Bamako und der Lage im Norden.

Ag-Bahangas Tod

Am 26. August 2011, einem Freitag, starb Ibrahim Ag-Bahanga. Ein Verwandter erklärte tags darauf, daß der militante Anführer von Teilen der Tuareg-Freiheitsbewegung »bei einem Unfall in Nord-Mali« ums Leben gekommen sei. Kein Wort fiel zu den näheren Umständen, auch später nicht. Lediglich, daß die Beerdigung Ag-Bahangas bereits stattgefunden hatte, erwähnte Baye Ag-Alhassane noch.

Es existieren weitere Versionen davon, wie der Mann ums Leben kam – und nicht nur die britische Agentur Reuters brachte den Krieg um Libyen ins Gespräch. Sie zitierte »lokale Stimmen«, wonach Ag-Bahanga in einen Streit mit Händlern geraten sei. Diese hätten Waffen an die libyschen »Rebellen« geliefert, also an jene vom Westen in Szene gesetzten Kräfte, die wenige Tage zuvor – mit letztlich entscheidender NATO-Unterstützung aus der Luft – Oberst Muammar Al-Ghaddafi aus Tripolis vertrieben hatten, und die diesen nun jagten.

Anderen Berichten zufolge könnte Ag-Bahanga durch einen Einsatz einer von US-Ausbildern trainierten »Antiterroreinheit« der malischen Armee getötet worden sein. Er habe zu der Zeit versucht, aus seinem libyschen Exil, in das er 2009 nach einem mißglückten Aufstand geflohen war, in seine nordmalische Heimat zurückzukehren, so Scott Stewart im Internetportal Stratfor. Tatsächlich hielt sich Ag-Bahanga bereits seit Januar im Norden auf, reaktivierte seine Kontakte zu Veteranen der Tuareg-Aufstände von 1990 und 2006, die sich einst den »grünen Einheiten« Ghaddafis angeschlossen hatten. Hunderte von ihnen dienten in Libyen als Offiziere.

Das gewaltsame Ende Ag-Bahangas markiert den Beginn einer bewaffneten Erhebung, die am 6. April 2012 zur Gründung eines eigenen Staats in Nord-Mali führte. In den Monaten vor seinem Ableben hatte der ehemalige Hirte, spätere Offizier der malischen Armee und langjährige Tuareg-Aktivist eine erneute Offensive gegen die Regierungstruppen vorbereitet und den Zusammenschluß des Widerstands gegen die Zentralregierung im südlich gelegenen Bamako vorbereitet.

Gründung der MNLA

Nun hieß es im »Kommuniqué Nummer 1« der gerade gegründeten Nationalen Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA) vom 16. Oktober 2011: »An mehreren Treffen, abgehalten in der Basis des verstorbenen Ibrahim Ag-Bahanga und an anderen Orten Azawads zwischen dem 7. und dem 15. Oktober 2011 nahmen Vertreter der beiden Bewegungen MNA (Nationalbewegung von Azawad) und der ehemals von Ag-Bahanga geführten MTNM (Tuareg-Bewegung Nord-Mali) sowie anderer militärischer und politischer Verantwortlicher von Azawad teil.«

Diese hätten angesichts der Hoffnungen der Bevölkerung – in Nord-Mali leben etwa 1,3 Millionen Menschen – entschieden, »sich zusammenzuschließen und eine neue politische Organisation zu schaffen«. Das geschehe aus Respekt vor den Versprechen und dem Engagement von Ag-Bahanga. Ziel der MNLA sei es, die »illegale Besetzung« des azawadischen Gebiets durch Mali zu beenden. Weiter wird in dem Kommuniqué ein umgehender Dialog gefordert und an die Länder der Region wie an die »internationale Gemeinschaft« appelliert, die neue »historische Initiative« zum Nutzen einer Stabilisierung der Region zu unterstützen.

Das geschah nicht. Aus der malischen Hauptstadt wurden weitere Truppen in den Norden geschafft, und Washington schickte eilends Militärtrainer, um in Crashkursen Elitesoldaten auszubilden. Die Regierenden mit ATT an der Spitze setzten darauf, daß sich der seit Kolonialzeiten bestehende Konflikt mit dem nomadischen Berbervolk der Tuareg, das immer wieder aufgestanden und nie völlig besiegt worden war, relativieren würde. Noch Ende Februar 2012, keine vier Wochen vor seinem Sturz durch einen Militärputsch, erklärte Präsident Touré: »Das Problem besteht seit 50 Jahren. Unsere Vorfahren mußten damit umgehen, wir gehen damit um, und unsere Enkel werden damit umgehen.«

Tourés Fehleinschätzung

ATT, ein ehemaliger General und militärischer Inspirator der Protestbewegung von 1991, lieferte kurz vor Ablauf seiner zweiten und letzten Amtsperiode eine Fehleinschätzung mit fatalen Folgen. Er hatte die Tuareg wie auch die anderen Völker Azawads, als deren Vertreterin sich die MLNA ausdrücklich versteht, nicht ernst genug genommen – wie schon vor Jahren, als er Ag-Bahanga als »Enfant terrible« bezeichnete, und die Zusagen des Friedensabkommens, das Regierung und Aufständische 2001 im südalgerischen Tamanrasset geschlossen hatten, nicht erfüllte.

Der Norden blieb das weitgehend ignorierte Stiefkind, das es in Mali schon immer gewesen war, Touré selbst hatte die Lage eindringlich charakterisiert: »In Nord-Mali gibt es keine Straßen, Krankenhäuser, Schulen oder Brunnen, keine Infrastruktur für das tägliche Leben, Dort gibt es eigentlich gar nichts. Ein junger Mensch aus der Gegend hat keine Chance, zu heiraten oder ein gutes Leben zu führen, es sei denn, er klaut ein Auto und schließt sich den Schmugglern an.« Auch die Vereinbarungen nach dem Aufstand von 2006 blieben Makulatur. Ag-Bahanga zog schließlich im Zusammenhang mit Verhandlungen in Algier 2008 ein Fazit, das nach Desillusionierung klang. Gegenüber dem TV-Sender France 24 meinte er: Trotz Zusagen der Zentralregierung in Bamako habe sich die Lage in Azawad nicht ansatzweise verbessert. Gefragt, was denn notwendig sei, forderte er »mehr Autonomie, mehr Entwicklung, mehr Stabilität«. Genau dieses sei mehrfach zugesagt worden. Doch, so der Tuareg-Führer, »die Regierung betreibt Sabotage«.

Die Spannungen hielten an, der Rest ist Geschichte. Die geostrategische Lage in der gesamten Region veränderte sich in Folge des Mordes am libyschen Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi und des Regime change in Libyen, vorgenommen durch westlich-orientierte Gruppierungen. Weite Teile der Sahelzone befinden sich in einer Dauermisere, verarmt, getreten, deklassiert, zudem fast regelmäßig betroffen von Katastrophen. Das Elend hier – wie auch in anderen Teilen Afrikas – wächst seit Jahrzehnten analog zum Grad der Ausplünderung. Und dann der »Sturz des libyschen Machthabers Ghaddafi«: Durch diesen sei die gesamte Sahelzone »erschüttert« worden, wie die Deutsche Welle kommentierte. Er habe besonders in Nord-Mali »wie ein Brandbeschleuniger« gewirkt. »Neben 300000 bis 400000 Gastarbeitern strömten Tausende ehemalige Soldaten und Söldner Ghaddafis zurück nach Mali, Niger, Mauretanien oder in den Tschad – und mit ihnen Waffen aus Libyen.«

Als »Kollateralschaden der libyschen Krise« bezeichnete der nigrische Präsident Mahamadou Issoufou denn auch den MNLA-Sieg über die malische Armee im ersten Vierteljahr von 2012. Dieser könnte, wußte das Staatsoberhaupt, Folgen haben für die von ihm regierte ehemalige Kolonie Frankreichs: Dort leben und arbeiten etwa 600000 Tuareg unter erbärmlichsten Ausbeutungsbedingungen. Sie stellen gerade in jenem Gebiet südlich der algerischen Grenze, in dem mit dem Uran einer der global begehrtesten Stoffe lagert, die Bevölkerungsmehrheit.

Zum grenzübergreifenden Siedlungsgebiet des traditionell nomadischen Wüstenvolks gehören neben Niger, Nord-Mali und Süd-Libyen Teile Mauretaniens, Burkina Fasos und Algeriens. Im Norden Malis werden – ebenso wie im westsudanesischen Darfur – umfangreiche Vorkommen an Öl, Gold, Uran und andere Schätze vermutet. Und obwohl die MLNA im Mai erklärte, daß der neue Staat Azawad ausschließlich im Nordosten Malis angesiedelt sei, geht die Angst vor Abspaltungen unter anderem auch in Niger um. Paris ist ebenso wie die politischen Eliten in der Hauptstadt Niamey an der Einheit des Landes interessiert. Frankreichs weitgehend staatlicher Atom- und Energiekonzern Areva und seine Töchter förderten seit 1968 ebendort mehr als 100000 Tonnen Uran. Etwa die Hälfte des Brennstoffs für die französischen Kernkraftwerke stammt aus dem nigrischen Département Arlit.

Umbruch im Sahel

Die südlich an die Sahara anschließende Sahel-Zone befindet sich inmitten einer Umbruchphase, wie sie es seit Etablierung des Kolonialsystems Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat. Alle Staaten jenes Gürtels, der sich vom Atlantik – Mauretanien, Senegal – über den nördlichen Rand Zentralafrikas – Mali, Tschad, Zentralafrikanische Republik – über die westsudanesische Provinz Darfur und den Südsudan bis zum Indischen Ozean erstreckt, sehen sich seit Jahren mit bewaffneten Organisationen – gemeinhin trotz ihres unterschiedlichen Charakters »Rebellen« genannt – konfrontiert. Sie stellen allesamt mehr oder weniger stark die alten, auf die Berliner Konferenz von 1884/85 zurückgehenden Grenzziehungen in Frage oder ignorieren diese.

Ob und in welcher Verfaßtheit der »Unabhängige Staat von Azawad« aus den drei malischen Provinzen Timbuktu, Kidal und Gao Bestand haben wird, steht in den Sternen. Noch fehlt ihm jegliche internationale Anerkennung. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas bereitet eine zwischen 3000 und 5000 Mann starke Interventionstruppe vor, die von Niger, Nigeria und Senegal gestellt werden soll – Hungerleider, die sich »um Krümel schlagen«, wie es jüngst der ivorische Professor Nicolas Agbohou bei einem Vortrag in Berlin formulierte. Die in Westafrika (»Françafrique«) besonders einflußreiche ehemalige Kolonialmacht Frankreich sprach sich Mitte Juli für ein militärisches Eingreifen aus. Dieses müßte unter afrikanischer Führung geschehen, so Präsident François Hollande, könne aber von »internationalen Truppen unterstützt« werden.

Ein gutes Vierteljahr nach seiner Proklamation droht Azawad ein Untergang mit Schrecken, zumal sich die aktuellen Kräfteverhältnisse in dem riesigen Gebiet, das außerhalb der wenigen Städte kaum kontrollierbar ist, offensichtlich zugunsten von eher an »reaktionär-fundamentalistischen Interpretationen des Islam orientierten Gruppen« (Claus-Dieter König von der Rosa-Luxemburg-Stiftung) verändert hat. Zu diesen werden Ancar Dine (Verteidigung des Islam) oder AQIM (Al Qaida im islamischen Maghreb) gezählt. Sie hätten der Tuareg-Freiheitsbewegung das Heft des Handelns entrissen, heißt es. In westlichen Medien wird nun »befürchtet«, es könnte sich »in der Sahelzone eine neue terroristische Gefahr etablieren« (Deutsche Welle). Mali könnte zu einem »zweiten Afghanistan« (FAZ, Berliner Zeitung) werden: »Ein neues Afghanistan – und niemand greift ein«, brachte der österreichische Standard die doch eher oberflächlichen, propagandakompatiblen Lageeinschätzungen auf den Punkt.

Derweil sind in der Sahelzone akut zwischen fünf bis sieben Millionen Menschen von Dürre und Hunger, von den Auswirkungen einer miserablen Ernte 2011, betroffen. Naturbedingt, wird behauptet. »Naturbedingt« verhungern täglich weltweit in Zeiten der Globalität und der Nahrungsmittelüberproduktion 18000 Kinder?

Gefahren unterschätzt

Die Lage in Timbuktu und im gesamten Azawad ist verworrener denn je. Die Nachrichten darüber, wer in jenem Konglomerat aus Befreiungsbewegung, religiös geprägten Gruppen und Schmugglerorganisationen das Geschehen bestimmt, sind mit Vorsicht zu genießen. Ökonomische Interessen prägen das Handeln vieler Beteiligter. Auf der alten Karawanenstrecke durch den Norden Malis in Richtung Europa beispielsweise werden inzwischen pro Jahr 50 bis 60 Tonnen Kokain im Wert von bis zu zehn Milliarden Dollar durch die Sahara geschleust, so UNO-Experten. Manche Gruppierungen sicherten ihre Existenz durch Entführungen. Korruption gehört zum Geschäft und reicht weit bis in staatliche und militärische Strukturen hinein. Es kommt zu religiös motivierten Angriffen auf Kulturdenkmale.

Derzeit scheint es, als habe die MNLA die militärische Stärke der verschiedenen, grenzübergreifend agierenden Gruppierungen verkannt. Deren Aktionen seien »eine Schande für das Land«, die nur »wegen der Unfähigkeit der Regierung in Bamako« anhielten, hatte die Befreiungsbewegung bereits wenige Wochen nach Beginn des Aufstands im Februar 2012 erklärt und einen – naiv anmutenden – Appell an die »internationale Gemeinschaft« gerichtet: »Gebt uns die Unabhängigkeit, und die AQIM in Mali ist am Ende« (Le Jeune Afrique, Februar 2012).

Mitte Juli nun konstatierte der Schriftsteller Moussa Ag-Assarid, der einigen Quellen zufolge als »Sprecher der MNLA« fungiert, daß »die Terroristen der AQIM und deren Verbündete« die Befreiungsbewegung »bekämpfen« würden. Unterstützt würden diese Kräfte »von gewissen Staaten« in Verbindung mit malischen Autoritäten sowie finanziert aus Lösegeldern und dem Drogenhandel. Die MNLA bleibe jedoch bei ihrer Position und setze sich weiter »für einen demokratischen und laizistischen Staat im Interesse aller Azawadi, den Songhai, Fulbe, Mauren und Tuareg« ein, so Ag-Assarid auf seiner Website.

Dieses Konzept entspreche durchaus dem Bemühen, als »moderne politische Bewegung« zu erscheinen, meint dazu Arndt Hopfmann von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die MNLA habe bewußt auf jegliche »religiöse oder ethnische Präferenz« verzichtet – unabdingbare Voraussetzung im übrigen, um überhaupt international Resonanz erreichen zu können. Inwieweit sich trotz dessen »Trittbrettfahrer« mit anderen Interessen und Hintergründen in der Befreiungsbewegung etabliert hätten, sei schwer einzuschätzen.

»Französisch-Sudan«

Ag-Assarid war zuvor von der Süddeutschen Zeitung (4.7.) mit der Forderung zitiert worden, Frankreich und die USA sollten »uns helfen, sie (die AQIM-Kräfte) zu töten«. Und sicherlich möchte Paris, das seine Kolonie »Französisch-Sudan«, wie Mali in verschiedenen Konturen ab 1887 und seit 1920 in seiner heutigen Gestalt hieß, die Region restabilisieren. Auch Washington versucht verstärkt, seinen Einfluß geltend zu machen. Daß beide, wie gelegentlich vermutet, die Finger im Spiel hatten, als am 21. März eine Gruppe von Offizieren und Soldaten in Bamako den Präsidenten stürzte, läßt sich nicht ausschließen, da die Schwierigkeiten, die die malische Armee im Norden hatte, allgemein bekannt waren.

Insofern entsprachen die Klagen von Hauptmann Amadou Sanogo, der den Putsch anführte und bis heute in der Politik Rest-Malis mitmischt, über die verzweifelte Lage der malischen Soldaten und einer bevorstehenden Niederlage den Sorgen Frankreichs und der USA. Diese hatten Sanago – und nicht nur ihn – zwischen 2004 und 2010 unter anderem auf der Akademie Quantica militärisch ausgebildet. Dort werden ansonsten die Marines getrimmt. Sanago nahm in den USA an mehreren Förderprogrammen für militärische Erziehung und Training (IMET) teil sowie an einer Basis-Offiziersausbildung. Solche Leute, heißt es, würden von den US-Botschaften handverlesen.

US-Militär im Einsatz

Nach der Besetzung Afghanistans hätten die USA »befürchtet«, daß »Terrorgruppen mit Verbindungen zu Al-Qaida in den Wüstengebieten im Nordwesten Afrikas Stützpunkte errichten und von dort aus Anschläge planen«, heißt es in einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung. Tatsächlich diente die unterstellte »Terrorismusgefahr« jederzeit einem forcierten Ausbau von US-Präsenz in den jeweils »gefährdeten« Gebieten. Im September 2007 gab ein Sprecher des Afrika-Kommandos der US-Streitkräfte (AfriCom) an, daß am Abend des 11. Septembers 2007 ein Flugzeug der Airforce über der malischen Wüstenregion mit AK-47-Sturmgewehren beschossen worden sei. Es sei eingesetzt gewesen, um Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen.

Zudem gehört der Militärstützpunkt mit Landebahn nahe dem strategisch wichtigen Ort Tessalit im Nordosten, siebzig Kilometer von der algerischen Grenze, nun den Rebellen. Er war bisher als Kontrollpunkt der USA und Frankreichs in der Region ins Auge gefaßt worden. An »Militärhilfe« lieferte Washington »fast 138 Millionen Dollar Hilfe für Mali«, das Mitglied des ›Trans-Sahara Counter-Terrorism Programme‹ von AfriCom ist. 2012 sollte die Summe auf 170 Millionen Dollar steigen. Derzeit verstärken die USA ihr Spionagenetzwerk,

Das im vergangenen Jahrzehnt gewachsene Engagement der Supermacht hängt zum einen mit der latenten sozialen Deklassierung der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung Westafrikas zusammen. Diese eröffnet religiös geprägten Kräften neue Möglichkeiten zur Verankerung – wie aktuell unter anderem am Beispiel der »Boko Haram« auch in Nord-Nigeria zu beobachten. Dort setzt die Regierung von Staatschef Good­luck Jonathan mit entschiedener Rückendeckung von Außenministerin Hillary Clinton auf repressive Lösungen. Die USA versuchen so, ihre Energieimporte aus Westafrika und dem Golf von Guinea zu sichern. Von dort bezieht Washington zwischen 15 und 20 Prozent seiner Erdöl- und Gaseinfuhr. Es geht demzufolge bei den militärischen Aktivitäten von AfriCom auch um die ökonomisch begründete »nationale Sicherheit« der Vereinigten Staaten.

US-Bürger als Premier

Mitte April schließlich wurde in Bamako ein Mann als Premier einer Übergangsregierung installiert, der – neben dem malischen – auch einen Paß der Vereinigten Staaten von Amerika besitzt. Cheick Modibo Diarra, Astrophysiker, lange Zeit in führenden Positionen der US-Raumfahrtbehörde NASA tätig, seit 2006 Afrika-Chef von Microsoft, übernahm mit dem Posten des Ministerpräsidenten im Übergang »ein politisches Himmelfahrtskommando«, wie die FAZ bemerkte. Den provisorischen Präsidenten Dioncounda Traoré, der am 6. April nach einer Übereinkunft der Ecowas mit Hauptmann Sanago eingesetzt worden war, hatte seinen Posten bereits verlassen, nachdem er am 21. Mai von Demonstranten im Präsidentenpalast angegriffen worden war. Ein »zweiter Putsch«, wie Ecowas erklärte. Traoré sei zusammengeschlagen und zur medizinischen Behandlung nach Frankreich ausgeflogen worden. Er hält sich immer noch in Paris auf – nicht nur aus verletzungsbedingten Gründen, wie vermutet wird, sondern wegen der »Sicherheitslage«.

Kürzlich nun verkündete Diarra die baldige Einberufung einer nationalen Versammlung zur Bildung einer Regierung, an der »alle wichtigen Kräfte« beteiligt sein sollen. Dabei erwähnte er zwar, daß der Weg zu »Verhandlungen« auch mit »gewissen Gruppen (MNLA und Ancar Dine)« aus dem Norden eventuell offen bleiben könnte, doch werde »parallel« und »minutiös die militärische Option« vorbereitet – mit einer rund­umerneuerten Armee. Realistisch klingt anders, er entsprach damit Forderungen von außen.

Ob allerdings der jüngste Appell der Afrikanischen Union (AU) vom 15. Juli – sie folgte damit dem Postulat der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas – wirkt, eine »Regierung der nationalen Einheit« zu bilden, um die Integrität des Landes und »die Ordnung im Norden« wiederherzustellen, darf bezweifelt werden: Nicht etwa, weil sich die AU nach den Regime changes in Libyen und Côte d’Ivoire mittlerweile in einen »Papiertiger« (tagesschau) verwandelt hat, sondern weil System hinter der malischen Entwicklung steckt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juli 2012


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