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Flüchtlinge in Malta - Wo Europa beginnt

Laissez-faire, Dilettantismus und böser Wille: Flüchtlinge werden auf der Mittelmeerinsel einfach weggesperrt

Von Armin Köhli, Valletta*

Beinahe 800 Flüchtlinge sind in diesem Jahr in Malta gelandet. Auf der kleinen Insel ist die Aufregung gross: «Wissen Sie, was das für Malta bedeutet? Stellen Sie sich vor, in Italien wären 80 000 illegale Einwanderer angekommen», sagt Joe Azzopardi, Informationschef im Innenministerium. «Asylkrise», titelte der «Malta Independent on Sunday», nachdem Anfang September in einem Lager für Asylsuchende ein Tunesier einen Landsmann umgebracht hatte.

Wer ohne Visum und gültige Papiere in Malta landet, wird erst einmal weggesperrt. 2002, als zum ersten Mal eine grössere Zahl von Flüchtlingen ankam, errichteten die Behörden Haftanstalten für die «Illegalen». In drei geschlossenen Anstalten warten heute rund 800 Flüchtlinge auf ihren Entscheid. Und das kann Monate dauern. Faktisch sind die Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt - in völliger Unkenntnis, wie lange ihre Haft noch dauert. Die durchschnittliche Haftzeit beträgt acht Monate, aber drei Männer aus Mali beispielsweise sitzen schon seit 23 Monaten.

Das Aus im Stacheldraht

Ein Besuch eines Lagers ist für JournalistInnen nicht möglich. «Wir lassen Sie ja auch nicht in ein Gefängnis», begründet dies Joe Azzopardi. Aber nicht-staatliche Organisationen hätten freien Zutritt, versichert er. Dem widersprechen AktivistInnen verschiedener Gruppen. Die Warteliste sei lang, das Bewilligungsverfahren dauere ewig, und viele kämen einfach nicht rein. Wer die Lager besucht, wird aufgefordert, nicht darüber zu reden. So berichten einige nur anonym, aus Angst, die Besuchsbewilligung zu verlieren. Ihre Berichte stimmen überein. Im Lager Hal Safi etwa stehen fünf grosse Armeezelte für zehn Personen, elf kleine Zelte und eine Wellblechbaracke für 120 Menschen - im Sommer ist sie ein Ofen, im Winter ein Kühlschrank. Und bald kommt die Regenzeit. Für all diese Leute stehen sechs mobile und eine feste Toilette zur Verfügung. Die mobilen sind längst ausser Betrieb, weil sie nicht gewartet wurden. Also gibt es eine einzige funktionierende Toilette für rund 200 Menschen. Der Innenhof ist mit Stacheldraht eingezäunt. Wenn die Flüchtlinge Fussball spielen, ist der Stacheldraht die Outlinie. Zurzeit sind in Hal Safi sieben Kinder und drei schwangere Frauen inhaftiert. Es gibt Babys, die im Spital geboren wurden und seither in Haft leben. Alle drei von Armee und Polizei geführten Internierungslager sind völlig überfüllt. Das Rote Kreuz rief Anfang September zu Spenden auf: Es brauche dringend Feldbetten, Matratzen, Bettzeug, Männerkleider und Schuhe für die grosse Zahl der neuen Flüchtlinge.

«Sicher ist es für unser kleines Land schwierig, für so viele Menschen Unterkünfte zu schaffen, sie medizinisch zu betreuen, ihren Kindern die Einschulung zu ermöglichen», sagt der Labour-Parlamentarier Joe Abela. «Doch die Probleme werden übertrieben, man will den Maltesern Angst machen. Die eigentliche Krise sind die Zustände in den Haftanstalten.»

Eine, die die Lager regelmässig besucht, ist die zwanzigjährige Mary Claire Abdilla. Sie gehört der katholischen Dritte-Welt-Gruppe an, doch diese Gruppe hat keinen Zutritt. Der Jesuitische Flüchtlingsdienst nahm Abdilla und zwei ihrer Kollegen auf seine Liste, um ihnen Besuche zu ermöglichen. Sie begann mit ihren Besuchen vor zweieinhalb Jahren, als das erste Lager errichtet wurde. Zuerst ging sie wegen der Kinder, um mit ihnen zu spielen und zu singen. Die Kinder wurden nach und nach aus dem Lager entlassen, und so änderten sich auch die Besuche von Abdilla. «Jetzt sind fast nur noch Männer dort», sagt sie. Sie will Freundschaft zeigen, mit den Flüchtlingen zusammenkommen - ihnen zeigen, dass es in Malta auch Leute gibt, die sich um ihr Los kümmern, die sie nicht einfach ablehnen. «Wir bringen Djembes mit, wir machen Musik und tanzen. Das hilft!»

Warmes Wasser gebe es nicht in den Lagern, berichtet Abdilla. «Im Winter kann man dann riechen, dass die Leute nicht mehr duschen.» Oft komme es zu Kämpfen. «Vorletzte Woche haben sich bei einer Auseinandersetzung zwischen Ägyptern und Sudanesen acht Leute verletzt. Sie sind mit Steinen aufeinander losgegangen.»

Fair Trade aus dem Lager

Seit einiger Zeit bringt Abdilla Wolle in die Lager, damit die Flüchtlinge sie verarbeiten können. Sie fertigen daraus Mützen, Gürtel und Taschen, und Abdilla bringt sie in den winzigen Fair-Trade-Laden in Valletta, den einzigen in ganz Malta. Sie arbeitet dort auch als Verkäuferin, ohne Lohn. Auf der Rückseite des Preisschildes steht dann zum Beispiel «Ali, Elfenbeinküste». Der ganze Erlös geht zurück in die Haftanstalt, zu den Flüchtlingen. Damit sie sich Kleinigkeiten kaufen können, Seife zum Beispiel. «Doch der Laden ist so klein, und für unsere Sachen gibt es nur eine Ecke.» Deshalb lagert sie die Sachen bei sich zu Hause, ihr Zimmer ist voll damit. «Meine Eltern haben viel Geduld!», lacht Abdilla. Manchmal bringt sie Käufer auch einfach zu sich nach Hause.

Malta hat wenig mehr EinwohnerInnen als die Stadt Zürich, und die Insel ist kaum grösser als der Kanton Schaffhausen. Die Bevölkerungsdichte ist enorm, und weite Teile Maltas sind zugebaut. Zweifellos überfordert die gegenwärtige Zahl von Ankommenden die Behörden. Aber mittlerweile kann man der Regierung wohl bösen Willen unterstellen. Der Jesuitische Flüchtlingsdienst forderte in einem Bericht schon vor gut einem Jahr, die Regierung solle sich endlich um andere, offene Unterbringungsmöglichkeiten bemühen. «Die Internierungslager sollen abschreckend wirken», sagt Labour-Parlamentarier Abela. «Aber das ist lächerlich. Die meisten Flüchtlinge wollten ja gar nicht nach Malta kommen, sondern sie befanden sich in Seenot. Von denen, die hier sind, wussten viele nicht einmal, dass Malta existiert.» Es sei offensichtlich, dass die Abschreckung nicht funktioniere. «Unser Problem ist der Rassismus, nichts anderes.»

Joe Abela ist einer von zwei Labour-Parlamentariern, die sich gegen die Haftlager engagieren. Im stockkatholischen Malta wechseln sich seit der Unabhängigkeit 1964 die Nationalistische Partei und die Labour-Partei an der Macht ab, beide darauf bedacht, dass ausser ihnen keiner auch nur einen Zipfel politischer Macht ergattern kann. Wenn sich die beiden Parteien ausnahmsweise einmal einig sind - wie im Falle der Haftanstalten für Flüchtlinge -, ist es praktisch aussichtslos, etwas anderes durchzusetzen. Dass Labour die Politik der nationalistischen Regierung unterstütze, liege ebenfalls am Rassismus, meint Abela. «Labour-Kollegen sagen mir privat: 'Unser Land ist nicht vorbereitet auf so viele Fremde.' Öffentlich aber argumentieren sie mit 'Sicherheit'. Die Partei sollte mit Erziehung, Aufklärung beginnen, den Leuten die Ängste nehmen, von wegen sie nehmen uns die Jobs weg, leben auf unsere Kosten' und so weiter.» Wenigstens komme langsam etwas in Bewegung. Labour-Sprecher Gavin Gulia habe seine Positionen geändert, nachdem er ein Internierungslager besucht hatte. «Bis vor einigen Wochen hatten die Menschen in den Lagern nicht einmal Zeitungen. Wir mussten das im Parlament durchsetzen, stellen Sie sich das vor!»

Asylentscheide im Nebenjob

Es sei alles so willkürlich, sagt Joe Abela. «Einzelne sind nur für zwei Wochen im Haftlager. Wissen Sie, was das für einen bedeutet, der seit 23 Monaten wartet?» Die meisten Flüchtlinge müssen lange auf ihre erste Befragung warten. Der maltesische Kommissar für Flüchtlinge, der über die Asylgesuche entscheidet, macht dies - bei sicher grossem persönlichem Einsatz - als Nebenjob, hauptberuflich arbeitet er als PR-Verantwortlicher des Bischofs. Und als Übersetzer stellt er ausgerechnet ehemalige Lagerinsassen an. Das bringt Missgunst und Abhängigkeiten, und es lässt die Konflikte in den Herkunftsländern ausser Acht.

Asyl erhält auf Malta kaum jemand. Doch vielen wird ein humanitäres Bleiberecht gewährt, weil sie aus Bürgerkriegsländern wie Somalia kommen. Die Quote jener, die bleiben können, ist mit 53 Prozent im europäischen Vergleich sehr hoch. Wer abgewiesen wird, bleibt bis zur Ausschaffung interniert - und das kann noch einmal lange dauern. Wer bleiben darf, landet in der Regel in einem offenen Lager und wird fortan von der Emigranten-Kommission der katholischen Kirche betreut (vgl. Kasten). «2003 kamen die Ersten aus den Lagern raus», sagt Monsignore Philip Calleja, der Leiter der Emigranten-Kommission. «Wir mussten den Leuten helfen.» Wer als Flüchtling etwas will, muss seither zur Emigranten-Kommission. Calleja verteilt auch Arbeit und Taschengeld. «Malta kann nicht alle aufnehmen, es ist einfach zu klein», sagt Calleja. Die Mehrheit der Aufgenommenen seien Frauen mit Kindern. «Wir wollen ihnen helfen, mit ihren Partnern wieder zusammenzukommen, die sich meist in anderen europäischen Ländern aufhalten.» Das schaffe nicht nur finanzielle Probleme. «Wenn eine schwarze Frau mit ihren vier, fünf oder gar sieben Kindern unterwegs ist - da ist offensichtlich, dass sie nicht als Touristin nach Europa kommt. So suchen wir andere Wege und lassen beispielsweise Familien getrennt reisen. Als karitative Einrichtung müssen wir ihnen dabei einfach helfen.» Flüchtlinge erzählen, wie diese Hilfe funktioniert: Sie erhalten etwa temporäre Reisepässe - und Instruktionen, wo und wie sie sie verschwinden lassen sollen.

Das sei nur noch zynisch, meint Joe Abela. «Sie argumentieren auch so zynisch: 'Die Zahl der Illegalen entspricht der Hälfte unserer Geburtenrate', sagen sie etwa - das sind genau jene, die sonst beklagen, unsere Geburtenrate sei zu tief, wir könnten unsere Renten nicht mehr bezahlen.» Der EU-Staat Malta brauche eine Immigrationspolitik, sagt Abela, und einen fairen Anerkennungsprozess für Flüchtlinge, mit einer fairen Rekursmöglichkeit. Internierungen sollten befristet sein. Die Regierung hofft derweil auf Hilfe von aussen und klammert sich an den deutsch-italienischen Vorschlag, in Nordafrika Auffanglager für Flüchtlinge einzurichten. Eine in Malta ansässige Libyerin spottet: «Vor ein paar Jahren wussten die Malteser nichts von Somalia, heute müssen sie Somalier integrieren. Und schon fürchten sie, dass es in ein paar Jahren nur noch eine somalisch-maltesische Republik gibt.» Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi werde sich amüsieren über den europäischen Vorschlag.

In Malta zirkulierende Gerüchte von anderen Lösungsversuchen zeugen von der Ratlosigkeit im südlichen Mittelmeer: Die maltesische Küstenwache tanke in internationalen Gewässern Flüchtlingsboote auf, damit sie es bis nach Italien schaffen, heisst es. Im Gegenzug sollen italienische Polizisten auf Fischerbooten mitfahren und die maltesische Polizei anrufen, sobald sie in maltesischen Gewässern ein Flüchtlingsboot entdeckten - damit es nicht nach Italien gelangt.

Interniert auf der Ferieninsel

Ein Besuch bei Mussa Samaké ist nicht möglich. Nur wenige handverlesene Menschen haben Zutritt zu den Haftanstalten für Flüchtlinge auf Malta, und JournalistInnen schon gar nicht. Doch es gelingt, mit dem 34-jährigen Samaké zu telefonieren. «Am 9. Juli 2003, vor vierzehn Monaten, kam ich aus Libyen nach Malta. Die Malteser stoppten unser Schiff, obwohl wir weiter nach Italien wollten. Sie schafften uns in dieses Gefängnis. Mein Asylgesuch wurde abgelehnt, ich legte Rekurs ein, und seither warte ich. Ich habe keine Ahnung, wie lange es noch dauert. Wir können nur herumsitzen und fernsehen und im Hof Fussball spie-len. Es ist so heiss hier drin, doch abends ab sieben, wenn es kühler wird, lassen sie uns nicht mehr in den Hof und schliessen die Fenster. Wir sind neun Männer in einem Raum von acht auf acht Metern. Wenn sie uns in die Poliklinik bringen, legen sie uns Handschellen an, auf dem Rücken. Und hier erhältst du bloss Panadol. Egal was dir fehlt, was dir wehtut: Panadol, Panadol, Panadol. Mit meiner Familie in der Elfenbeinküste habe ich keinen Kontakt, denn ich habe kein Geld, um zu telefonieren. Wir sind keine Verbrecher, aber trotzdem eingesperrt. Das macht uns verrückt. Wir sprechen kaum miteinander, jeder ist mit seinen Gedanken alleine. Du denkst und denkst und denkst.»

* Der Artikel erschien am 16. September 2004 in der kritischen Schweizer Wochenzeitung WOZ


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