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Fanal gegen Arbeitslosigkeit

Marokkanische Aktivisten protestieren gegen tatenlose Regierung

Von Alfred Hackensberger, Tanger*

Aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lage greifen Arbeitslose in Marokko teilweise zu einer drastischen Protestform: Selbstverbrennung.


Einige erinnern sich vielleicht noch an Jan Palach, den tschechischen Studenten, an Oskar Brüsewitz, den Pastor aus der DDR, oder auch an Thich Quang Duc, einen Mönch aus Vietnam. Sie gehören zu den bekannteren Menschen, die sich aus Protest öffentlich selbst verbrannten. Palach zündete sich 1969 wegen der Sowjet-Herrschaft an, Brüsewitz 1976 wegen der SED, weil sie die Kirche unterdrückte, und der vietnamesische Mönch 1963 wegen dem Diktator seines Landes Ngo Dinh Diem.

Selbstverbrennungen gelten als Ausdruck der Verzweiflung und als letzter Protest gegen eine wie immer geartete »große Ungerechtigkeit«. Man will ein buchstäblich brennendes Fanal gegen Verbote und Unterdrückung setzen. Ein sehr schmerzhaftes Unterfangen, da es relativ lange dauert, bis das Feuer den Tod bringt. Außerdem überleben viele ihre Selbstverbrennungsaktionen, liegen monatelang in Krankenhäusern und sind ein Leben lang verstümmelt oder behindert. In Marokko haben nun einige Menschen »Selbstverbrennung« als Waffe entdeckt. Aber nicht als Mittel im Kampf für höhere Ziele wie beispielsweise den »Islam« oder die »Weltrevolution«. Es sind ausnahmslos marokkanische Arbeitslose, die auf ihre Situation aufmerksam machen und die Behörden zwingen wollen, ihnen Arbeit zu geben. Dabei nehmen sie offensichtlich auch das Risiko in Kauf, dabei zu sterben.

Erstmals versuchten im Dezember 2005 20 Mitglieder der Gruppe »Unabhängige Nationale Arbeitslose«, in der Hauptstadt Rabat öffentlich Selbstmord zu begehen. Fünf der Gruppe, im Alter von 25 und 41 Jahren, erlitten Verbrennungen 3. Grades. Ein Anderer wurde schwer verletzt und lag mehrere Tage auf der Intensivstation. »Wir haben die falschen Versprechungen der Regierung satt«, sagte Azeddine Raouchi, einer der Demonstranten, der sich selbst anfackelte. »Wir zünden uns an, damit die Regierung uns mehr Aufmerksamkeit schenkt.«

In Marokko liegt die Arbeitslosenquote offiziell bei 11,6 Prozent, wobei von allen Universitätsabsolventen fast 30 Prozent keine Arbeit finden. Jedes Jahr sollten 300 000 Arbeitsplätze geschaffen werden, in der Realität sind es aber nur 200 000. 14,3 Prozent der Marokkaner leben unter der Armutsgrenze, etwa 30 Prozent der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt.

Seit Oktober 2003 hatte die Arbeitslosengruppe bereits mit Regierungsbeamten immer wieder verhandelt, um ihre Probleme zu lösen. Erst zwei Jahre später, im Juni 2005, willigte das Justizministerium ein, 27 der insgesamt 48 Mitglieder umfassenden Gruppe zu beschäftigen. »Aber das Ministerium ignorierte die anderen 21«, sagte Azeddine Raouchi. »Das ist nicht genug, wir wollen gleiche Rechte für alle.« Im März zog die Gruppe nun erneut durch die Straßen der marokkanischen Hauptstadt Rabat. »Wir tränkten unsere Kleidung mit Petroleum«, berichtete Raouchi, »aber die Polizei war sofort zur Stelle und begann uns zu schlagen«. Trotzdem gelang es insgesamt zehn Demonstranten, Feuer an sich zu legen und auch Gift zu schlucken. Durch die Präsenz von Polizei und dem Einsatz der Rettungsdienste konnte aber eine Katastrophe vermieden werden.

»Das war nicht unser letzter Auftritt«, meinte Raouchi, der bei der Aktion selbst nur leicht verletzt wurde. »Solange die Regierung unsere Forderungen nach Arbeit nicht erfüllt, wird es mit den kollektiven Selbstmordversuchen weiter- gehen«. Bei seiner Entschlossenheit und auch bei der der anderen Mitglieder der Arbeitslosengruppe scheint es nur eine Frage der Zeit, wann es den ersten Toten gibt. Auch wenn die Aktivisten in den letzten drei Monaten keine neue öffentliche Aktion gestartet haben, bleibt die Drohung im Raum. Denn bisher ist die Regierung der Forderung nach den ausstehenden 21 Arbeitsplätzen noch nicht nachgekommen. Sie fürchtet einen Nachahmereffekt. Was wenn auch die restlichen 3 Millionen arbeitslosen Marokkaner für sich einen Arbeitsplatz reklamieren? Vielleicht gar als brennende Fackeln auf der Straße?

Die wachsende soziale Not lässt eine Verbreitung des Phänomens Selbstverbrennung im Arbeitskampf denkbar erscheinen. Ein schlüssiges Konzept zur Arbeitslosigkeitsbekämpfung lässt auf sich warten. Und auch der im Mai 2005 von Marokkos König Mohamad VI. auf den Weg gebrachte Nationale Plan zur menschlichen Entwicklung hat noch keine vorzeigbaren Ergebnisse gebracht.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2006


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