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Marokko in der Krise

Regierungschef nach Rückzug der Unabhängigkeitspartei aus der Koalition unter Druck. Macht bleibt beim König

Von Jörg Tiedjen *

Pünktlich zu Beginn des Fastenmonats Ramadan hat in Marokko der Generalsekretär der konservativen Partei der Unabhängigkeit (PI), Hamid Chabat, am vergangenen Dienstag seine seit längerem im Raum stehende Drohung wahr gemacht und die Regierungskoalition mit der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) aufgekündigt. Zwar folgten nicht alle PI-Minister Chabats Aufruf, ihr Amt niederzulegen. Doch Regierungschef Abdelilah Benkirane benötigt gemeinsam mit den beiden verbliebenen Koalitionspartnern, der Volksbewegung (MP) und der Partei des Fortschritts und des Sozialismus (PPS), dringend eine neue Mehrheit. Ansonsten sind Neuwahlen unumgänglich.

Chabat begründete seinen Schritt mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, der die Politik der PJD nicht gewachsen sei. Rhetorisch ist das geschickt, tatsächlich dürfte es dem PI-Chef aber hauptsächlich um eigenen Einfluß gehen – und dabei ist er lieber erste Kraft in der Opposition als zweite in der Regierung. Die erst vor kurzem auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) durchgesetzte Rücknahme von Subventionen auf Grundnahrungsmittel und Energie ist da eine willkommene Gelegenheit, sich populistisch schadlos aus der Verantwortung zu stehlen. Das Schicksal der ägyptischen Muslimbrüder mag Chabat zusätzlich ermuntert haben, deren marokkanischen Verbündeten von der PJD die Unterstützung zu entziehen. Wahrscheinlich ist nun, daß die Nationale Sammlung der Unabhängigen (RNI) den Platz der PI in der Regierungskoalition einnimmt. Dieses Bündnis könnte sich allerdings als schwere Belastung für Benkirane erweisen. Denn noch weit mehr als die PI, Marokkos älteste und nach der PJD derzeit zweitstärkste Partei, ist die RNI ein Werkzeug der Monarchie. Die wiederum ist die wahre Machtzentrale im Land.

Die Option würde zudem die große Popularität der PJD aufs Spiel setzen. 2011 war die Partei im Zuge des »arabischen Frühlings« vor allem mit dem Versprechen an die Regierung gelangt, der allgegenwärtigen Korruption ein Ende zu setzen. Der Chef der RNI und frühere Wirtschafts- und Finanzminister Salaheddin Mezouar ist aber in eine Korruptionsaffäre verstrickt: Gemeinsam mit dem Schatzmeister des Königs hatte er sich aus der Staatskasse bedient. Ganz legal war das, entschied die Justiz – und ermittelte gegen diejenigen, die den Skandal publik gemacht hatten. Eine Zusammenarbeit mit der RNI könnte Benkiranes Ansehen in der Bevölkerung nachhaltig schaden. Die gegenwärtige Entwicklung deutet so darauf hin, daß seiner Partei ein ähnliches Ende beschieden sein könnte wie der Sozialistischen Union der Volkskräfte (USFP), die 1997 unter vergleichbaren Umständen wie die PJD an die Regierung kam. Auch damals hatte sich der König genötigt gesehen, dem allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Druck durch die formale Übergabe der Regierung an die bisherige Opposition ein Ventil zu verschaffen. Auch damals hatte es eine oberflächliche Verfassungsreform und Wahlen gegeben, aus denen dann die USFP trotz aller üblichen Manipulationen als stärkste Partei hervorging. In der Folge scheiterte sie aber an dem geringen Handlungsspielraum gegenüber dem König. Schließlich verwandelte sie sich vom gefürchteten, grausam bekämpften Gegner der Monarchie in ein handzahmes Häuflein Opportunisten.

Der aktuelle König Mohammed VI. , der seit 1999 auf dem Thron sitzt, scheint das Machtspiel weiter betreiben zu wollen und versucht mit schrittweisen Zugeständnissen für Beruhigung zu sorgen. Noch im Mai hatte er Chabat zur Räson gerufen, als dieser zum ersten Mal den Austritt der PI aus der Regierung erklärte. Dieses Mal scheint sich der Monarch dagegen nicht mehr einmischen zu wollen. Um aber angesichts der dramatischen Finanzlage künftigen Brotrevolten vorzubeugen, müßte sich Mohammed VI. tatsächlich aus der Politik und der Wirtschaft zurückziehen, über die er nach wie vor absolutistisch und zu seinem eigenen Nutzen gebietet. Das allerdings ist ein Tabuthema in Marokko.

* Aus: junge Welt, Montag, 15. Juli 2013


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