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Das "Forum Wahrheit und Gerechtigkeit"

Staat, Zivilgesellschaft und die Menschenrechte in Marokko

Wer durch Marokko reist, sieht an zahlreichen Berghängen einen Schriftzug, der wie ein Mahnmal die drei Eckpfeiler der marokkanischen Gesellschaft in die trockene Erde gräbt: Gott, König und Vaterland werden in Stein und Farbe beschworen. Die drei Begriffe beschreiben letztlich das von oben verordnete, aber auch tief verinnerlichte Staatsverständnis. Es gebe, heißt es in politischen Beschreibungen Marokkos immer wieder, drei wichtige Tabuthemen: Medien und Öffentlichkeit könnten über den Islam, die Monarchie und die Westsahara nicht kritisch diskutieren. Davon abgesehen, daß der wichtige und hoch sensible Bereich der Armee dabei übersehen wird, beginnen die drei Tabus seit der Thronbesteigung Mohammeds VI. merklich zu bröckeln.

In vielen Konferenzen und Diskussionen wurde in den letzten Jahren über die Frage einer "islamischen Moderne" diskutiert, die Islamisten geben bei Themen wie der umstrittenen Reform des restriktiven Personenstandsrechtes zwar durchaus die Parameter vor, bestimmen aber nicht mehr die Diskussion.

In der Sahara-Frage testen die Medien bereits seit einiger Zeit die Freiräume der Berichterstattung aus, die vor allem in den letzten Monaten merklich größer geworden sind. Zwar ist sich die überwältigende Mehrheit der Marokkaner einig, daß die Sahara marokkanisch sei und bleiben müsse, doch gibt es in der Frage über die beste politische Strategie inzwischen durchaus unterschiedliche Meinungen. Ursprünglich absolute Chefsache, ist der Dauerkonflikt nun überraschend sogar ein Thema für die Zivilgesellschaft geworden: Am 15. April erreichte ein Kommuniqué die marokkanischen Medien, in dem sich ein Zusammenschluß "Société Civile Marocaine" vorstellte, dem mit Alternatives, Afak, Zakoura und Maroc 2020 einige der wichtigsten politischen NGOs des Landes angehören. Kernthese des neuen Kollektivs ist, daß der Sahara-Konflikt letztlich nur durch eine verstärkte regionale Integration gelöst werden könne. Dazu wollen die Gruppen eigene Kontakte mit Algerien und, falls möglich, auch mit der Polisario knüpfen.

Besonders problematisch bleibt die Rolle der Monarchie, da mit ihr letztlich die Konstitution des marokkanischen Gesellschaftssystems insgesamt verknüpft ist. Bislang ist die Monarchie faktisch absolut, da die Verfassung lediglich festlegt, daß der König über ihr steht. Wie heikel die Diskussion um die künftige Rolle des Königshauses ist, belegt nicht erst der Fall Moulay Hichams, eines Cousins von Mohamed VI., der nach kritischen Äußerungen über die Monarchie und deren Herrschaftsstil beim Palast in Ungnade fiel und schließlich im Frühjahr wieder in die USA zurückkehrte - oder, wie andere spekulieren, ins Exil ging.

Auch das Thema Menschenrechte, bei dem Marokko seit Mitte der neunziger Jahre unbestreitbare Fortschritte gemacht hat und sich vor allem im regionalen Kontext positiv heraushebt, ist zugleich ein Gradmesser sowohl für das Verhältnis der marokkanischen Politik zum Königshaus als auch für die Spielräume der Diskussion über die Rolle der Monarchie. Schließlich sind die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit, um deren Aufarbeitung sich mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft seit Jahren bemühen, im Kern auf die Herrschaft König Hassans II. zurückzuführen.

Mohamed VI., der nach dem Tod seines Vaters im Juli 1999 an die Macht kam, hat sich von Anfang an vom Erbe Hassans II. distanziert. Schon die Absetzung des repressiven Innenministers Driss Basri im November desselben Jahres war dafür ein klares Signal. Doch die Bestrafung aller Verantwortlichen, wie sie beispielsweise die Association Marocaine des Droits Humains (AMDH) fordert, ist vor dem Hintergrund des komplexen marokkanischen Machtgefüges kaum durchsetzbar und vom König bereits abgelehnt worden. Sie käme, ließ er die Aktivisten wissen, einer "Enthauptung des Staates" gleich.

Immerhin diskutierten die AMDH, die moderatere Organisation Marocaine des Droits Humains (OMDH) und die Vereinigung der Opfer, das Forum Vérité et Justice (FVJ), vom 9. bis 11. November 2001 erstmals gemeinsam in einem nationalen Kolloquium in Rabat über "massive Menschenrechtsverletzungen". Zwar waren die Banner mit dem provokativen Titel von der Stadtverwaltung zunächst nicht genehmigt worden, doch gab schließlich das Innenministerium selbst grünes Licht für die Veranstaltung, an deren Eröffnung auch Menschenrechtsminister Mohamed Aujjar teilnahm. Aujjar applaudierte stehend, als der Sohn des 1965 ermordeten Politikers Mehdi Ben Barka, Bashir, in einer beeindruckenden Rede über das Erbe der "schwarzen Jahre" sprach.

Rund 300 Teilnehmer kamen zur Eröffnung, unter ihnen neben den Menschenrechtsaktivisten auch Vertreter nahezu aller linken Parteien (mit Ausnahme der USFP von Premierminister Abderrahmane Youssoufi, die, selbst jahrzehntelang Opfer staatlicher Verfolgungen, die Meinungsführerschaft für sich beansprucht) und der im Parlament vertretenen islamistischen PJD.

In mehreren Arbeitsgruppen wurden zahlreiche Forderungen diskutiert, die schließlich in mehreren konkreten Empfehlungen mündeten. So fordern die Menschenrechtsgruppen unter anderem eine öffentliche Entschuldigung des Staates, die Entschädigung und Rehabilitierung der ehemaligen Häftlinge, institutionelle und juristische Reformen und vor allem die Einsetzung einer Wahrheitskommission nach südafrikanischem bzw. südamerikanischem Vorbild. Bezeichnenderweise fehlt die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen. Die von der Frauenrechtlerin Amina Lemrini geleitete Arbeitsgruppe beschloß allerdings, das Thema auf einer eigenen Veranstaltung noch einmal aufzugreifen.

Bemerkenswert ist, daß die Menschenrechtsgruppen trotz aller inhaltlichen Differenzen verstärkt zusammenarbeiten, um ihren politischen Einfluß zu stärken. Ausdruck dafür war auch eine zweite Veranstaltung nur wenige Wochen später, zu der neben den drei Organisationen auch die Menschenrechtsliga (LDDH) und die Journalistenvereinigung SNPM aufgerufen hatten: Vom 1. bis 3. März 2002 diskutierten mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter zahlreiche ausländische Experten, über die Rolle und Aufgabe der Medien, die Aufarbeitung alter und die Berichterstattung über aktuelle Menschenrechtsverletzungen betreffend.

Zu der Veranstaltung hatte der ehemalige Vorsitzende der südafrikanischen Wahrheitskommission und Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu, eine Grußbotschaft geschickt, in der er darauf hinwies, daß erst das Wissen um die Hintergründe der Vergangenheit den Weg in eine bessere Zukunft ermögliche. Er forderte, mit Hilfe der Medien den Prozeß der Aufarbeitung der Vergangenheit so transparent wie möglich zu machen.

Auch wenn die zweite Veranstaltung eher mit technischen Empfehlungen denn mit politischen Forderungen endete, war sie doch ein wichtiger Schritt hin zu einer aktiveren Aufarbeitung und zu einer noch stärkeren Kooperation der verschiedenen Gruppen. Die Tatsache, daß im Konferenzsaal vom ehemaligen Berater König Hassans, Abdelhadi Boutaleb, bis zu Vertretern der islamistischen Organisation al- Adl wal-Ihsan Vertreter aller politischen Richtungen gemeinsam diskutierten, zeigt, wie weit die Entwicklung inzwischen fortgeschritten ist. Noch vor Jahresfrist wären Veranstaltungen wie die der Menschenrechtsgruppen kaum vorstellbar gewesen.

Inhaltlich gibt es zwischen Zivilgesellschaft und Königshaus allerdings noch manche Differenzen. So will Mohamed VI. lieber den bereits 1990 gegründeten, aber faktisch inaktiven Menschenrechtsrat CCDH mit neuen Kompetenzen ausstatten und wiederbeleben als eine Wahrheitskommission einzurichten. Seinen Berater Mohamed Moatassim ließ er schon einmal sondieren, unter welchen Umständen die Menschenrechtsgruppen zu einer Mitarbeit im CCDH bereit wären. In der neuen Variante soll der CCDH rund 40 Mitglieder haben, darunter 14 von NGOs. Zwar sind auch die Aktivisten prinzipiell daran interessiert, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, aber angesichts von möglicherweise mehreren hundert ungeklärten Fällen sind sie bislang nicht bereit, sich auf die Linie der Staatsführung einzulassen.

Während das Forum Vérité et Justice, so sein Vorsitzender Driss Benzekri, zwar "in seinen Prinzipien hart" ist, aber doch "die Realitäten Marokkos" anerkennt, fordert vor allem die AMDH die Verfolgung der Schuldigen. Dagegen sollen nach dem Willen des Palastes Amtsträger in den Genuß einer Amnestie kommen. Ohnehin argwöhnen die Menschenrechtsgruppen, daß sich der Staat mit den im Jahr 2000 begonnenen Entschädigungszahlungen an ehemalige politische Häftlinge lediglich freikaufen und vor einer inhaltlichen Aufarbeitung der Vergangenheit drücken wolle. Es darf allerdings bezweifelt werden, daß Marokkos Zivilgesellschaft des Jahres 2002 den Staat so einfach wird davonkommen lassen.

Achim Vogt, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko.

Der Beitrag erschien in Heft 30 (2002) der Zeitschrift "Inamo".
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