Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Stich um Stich gegen den Staat

Marokko: Unbekannter Hacker veröffentlicht Hunderte Geheimdokumente

Von Jörg Tiedjen *

Seit Oktober vergangenen Jahres veröffentlicht ein unbekannter Hacker unter den Namen »Le Makhzen« bzw. »Chris Coleman« über den Internetdienst Twitter Unterlagen und Mitteilungen von marokkanischen Funktionsträgern aus den Jahren 2012 bis 2014. Zu Beginn war die Tragweite der Enthüllungen – aufgrund ihrer eigenwilligen Präsentation – kaum abzuschätzen. Auch wurden Behauptungen laut, es handele sich um Fälschungen. Doch mittlerweile sind einige hundert Dokumente zusammengekommen, und es besteht kaum noch Zweifel an ihrer Echtheit.

Das Pseudonym »Chris Coleman« könnte sich auf einen Jazzmusiker oder Fußballtrainer beziehen. »Makhzen« wiederum heißt Magazin oder Speicher und ist traditionell in Marokko die Bezeichnung für die zentrale Staatsgewalt. Heutzutage steht es für den Machtzirkel um den marokkanischen König Mohammed VI., auf den schon die Wikileaks-Botschaftsnachrichten 2011 ein grelles Schlaglicht warfen. Ihn will Coleman »destabilisieren«, wie er in einer seiner Nachrichten erklärte.

Steckt ein feindlicher Geheimdienst hinter den Enthüllungen? Sind sie schlicht das Werk eines Empörten? Ein Teil der Dokumente sind E-Mails von persönlichen Konten, die mit ein wenig Sachverstand von jedermann »gehackt« werden konnten. Schwieriger ist, sich vor Verfolgung über das Internet zu schützen. Das scheint Coleman bisher gelungen, der unbekümmert von allen »königlichen Hackern«, die fieberhaft nach ihm fahnden mögen, fortfährt, seine Fundstücke Trumpf um Trumpf auszuspielen.

Die Enthüllungen beweisen: Die Energien der marokkanischen Politik sind absorbiert von der Bekämpfung der Opposition und dem Festhalten an der widerrechtlichen Besetzung der Westsahara. Immer wieder geht es darum, Unternehmungen der Westsahara-Befreiungsfront Polisario oder des zuständigen UN-Sondergesandten Christopher Ross zu hintertreiben und zu verhindern, dass das Mandat der UN-Blauhelmtruppe für die Westsahara (MINURSO) auf die Beobachtung der Menschenrechtslage ausgeweitet wird.

Auf der Agenda des Makhzen ganz oben steht die Kontrolle der Medien, nicht nur im eigenen Land, das ohnehin eine absolute Monarchie darstellt. In den USA gibt Marokko jährlich Millionen US-Dollar für Public Relations aus. Einem jüngsten Coleman-Leak zufolge erhielt ein US-Journalist für einen positiven Artikel über »königlichen Reformgeist« auf forbes.com 20.000 US-Dollar. In Frankreich sponsert das Land eine ganze Phalanx von Journalisten, vom Rundfunk bis zur linksliberalen Zeitung Libération. Außerdem bestätigen die Dokumente die Kollaboration Marokkos mit Israel. Als Twitter das Konto »Le Makhzen« vorübergehend schloss, hatte Coleman Belege angekündigt für das illegale Verschieben von Kapital ins Ausland – durch Vertreter des Makhzen.

Die marokkanischen Eliten sind mit sich selbst beschäftigt. Die Westsahara ist für sie eine Goldgrube, die sie keinesfalls preisgeben wollen. Die vielbeschworene Einheit des Landes gehört ebensowenig zu ihren Sorgen wie überhaupt das Wohlergehen ihrer Untertanen. Als der Süden Marokkos im November und Dezember von den schlimmsten Regenfällen seit 30 Jahren heimgesucht wurde, die mehr als 70 Menschenleben forderten, gab es keine Warnungen, keinen Katastrophenschutz, Hilfslieferungen wurden aufgehalten, ja gegen Entgelt an die Bedürftigen ausgegeben. Der König reiste mitsamt Hofstaat in fünf staatlichen Flugzeugen in den Türkei-Urlaub. Frankreichs Expräsident Nicolas Sarkozy und seine Ehefrau Carla Bruni logieren gratis in einem königlichen Palais in Marrakesch. Von dem Enthüllungsskandal ist in der Monarchie, wenn überhaupt, nur am Rande die Rede – auch in Frankreich. Nach wie vor wirken die Mechanismen der Einflussnahme, die die Coleman-Leaks offenlegen.

Die Coleman-Leaks und ein Pressespiegel finden sich unter: http://www.arso.org/ColemanPaper.htm

* Aus: junge Welt, Freitag, 9. Januar 2015


Zurück zur Marokko-Seite

Zur Marokko-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage