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Spektakuläre Flucht der Drogenbosse

Mexiko: Tödliche Prügeleien im Gefängnis waren Ablenkungsmanöver für Massenausbruch

Von Andreas Knobloch, Mexiko-Stadt *

Die tödliche Auseinandersetzung in einem Gefängnis im Norden Mexikos war allem Anschein nach ein Ablenkungsmanöver für einen Massenausbruch. Darauf deuten erste Ergebnisse der Ermittlungen hin. Vierundvierzig Menschen waren am Sonntag (19. Feb.) in dem Hochsicherheitsgefängnis in Apocada im Bundesstaat Nuevo León ums Leben gekommen; allesamt Angehörige des Golfkartells. Dagegen konnten dreißig Mitglieder des rivalisierenden Kartells Los Zetas entkommen. Hilfe erhielten sie dabei von einigen Wächtern.

Der Gefängnisdirektor, drei weitere höhere Beamte und achtzehn Wärter wurden vorläufig vom Dienst suspendiert und festgenommen. »Wir können ohne Zweifel sagen, daß das vorher überlegt und geplant war«, sagte der Gouverneur von Nuevo León, Rodrigo Medina, auf einer Pressekonferenz am Montag. Später wurde bekannt, daß neun der Wächter ihre Komplizenschaft mittlerweile zugegeben. Sie hatten unter anderem den Zugang zu den Zellenblocks erleichtert. Die Kämpfe begannen demnach zwei Uhr morgens, als Zetas-Mitglieder mit Stichwaffen, Steinen und Eisenstangen Häftlinge des Golfkartells attackierten und totprügelten. Beide Kartelle waren früher alliiert, sind nach dem Bruch 2010 heute jedoch bitter verfeindet und liefern sich blutige Auseinandersetzungen vor allem im Nordwesen Mexikos.

Dreißig Zetas-Mitglieder, darunter Óscar Manuel Bernal Soriano, alias »La Araña«, der mutmaßliche Los-Zetas-Chef von Monterrey, nutzten das Durcheinander und entkamen ohne große Mühe. Nicht zuletzt deshalb gingen die Ermittler schon sehr früh davon aus, daß sie Hilfe von drinnen hatten. Die weitverbreitete Korruption, einhergehend mit der Überbelegung der Haftanstalten, begünstigt die immer wieder auftretende tödliche Gewalt und Flucht hochrangiger Kartellmitglieder. Die wohl spektakulärste gelang dem heute mächtigsten Drogenboß, dem Chef des Sinaloa-Kartells, Joaquin »El Chapo« Guzman. Er entkam 2001 in einem Wäschekorb aus einem Hochsicherheitsgefängnis, gerade rechtzeitig bevor er in die USA ausgeliefert werden konnte. Im August 2010 wurde der Direktor eines Gefängnisses in Gomez Palacio im Zentrum Mexikos festgenommen. Er hatte den Insassen ermöglicht, sich von den Wächtern Waffen zu borgen, nachts rauszugehen und Auftragsmorde zu verüben. Im Dezember desselben Jahres flüchteten 140 Häftlinge aus einem Gefängnis im Bundesstaat Tamaulipas; die Aufseher waren verschwunden. Und 2009 schauten die Wächter in einem Gefängnis in Zacatecas seelenruhig zu, als 53 Insassen in die Freiheit spazierten.

Mexikos jüngere Geschichte ist zudem voll von Gefängnismeutereien und tödlichen Kämpfen innerhalb der Haftanstalten. Vor sechs Wochen kamen bei Auseinandersetzungen in einem Gefängnis in Tamaulipas 31 Menschen um; im vergangenen Sommer verloren in Ciudad Juárez bei einem Zusammenstoß mit Schußwaffen siebzehn Häftlinge ihr Leben. Eine komplette Auflistung würde Seiten füllen.Die Ereignisse vom Wochenende in Apodaca aber sind der schwerste Zwischenfall der letzten 25 Jahre – mit einem entsprechenden Medienecho über die Grenzen Mexikos hinaus.

Aber die Regierung verbreitet Optimismus. Erst am Sonntag (19. Feb.) verkündete Präsident Felipe Calderón auf einer Jubiläumsveranstaltung der Streitkräfte, zum ersten Mal sei »ein Rückgang der Gewalt« zu verzeichnen. Es ist schließlich Wahljahr.

* Aus: junge Welt, 22. Februar 2012


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