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Staat deckt Mörder

In der nordmexikanischen Stadt Juárez ist brutalste Gewalt gegen Frauen blutiger Alltag. Behörden machen sich durch Nichtstun zu Komplizen der Täter

Von Andreas Knobloch *

Das Jahr 2008 war noch keine drei Tage alt, als die ­Medien schon wieder über Morde an Frauen in der nordmexikanischen Stadt Juárez berichteten. Im Morgengrauen des 2. Januar wurde die 20jährige Studentin und Arbeiterin Johana Radilla Sánchez im Bett ihrer Wohnung nackt und grauenhaft zugerichtet von einer Freundin aufgefunden. Vor ihrem Tod war sie vergewaltigt worden. Bereits in der Nacht zum 1. Januar war eine weitere Frau durch die Kugel eines Räubers gestorben. Tags zuvor hatte der 40jährige Javier Varela seine Exfrau Sandra Teresa Morales nach einem Streit erschossen und sich dann selbst getötet.

Die Millionenstadt an der Grenze zu den USA ist die Stadt mit den meisten Morden an Frauen weltweit. Seit Anfang der 1990er Jahre sind in der Stadt nach konservativen Schätzungen mehr als 430 Frauen auf zum Teil bestialische Weise ermordet worden, mehr als 500 verschwanden spurlos. Viele von ihnen wurden Opfer von Sexualverbrechen. Auch allgemein werden hier bei Gewaltverbrechen immer neue traurige Rekorde aufgestellt. Am 7. Oktober meldete die Nachrichtenagentur AFP, seit Jahresbeginn habe es nach amtlichen Angaben in Juárez mehr als 1100 Morde gegeben. Im Drogenkrieg im nordmexikanischen Bundesland Chihuahua seien binnen 24 Stunden 16 Menschen ermordet worden, unter ihnen eine 30jährige Hausfrau und acht Männer in Ciudad Juárez. Erst am vergangenen Sonntag wurden in der Stadt erneut sechs junge Männer erschossen.

Zerfallende Gesellschaft

Die zunehmende Gewalt gegen Frauen hat viele Ursachen. Die Geschichte der toten und vergewaltigten Frauen von Ciudad Juárez ist eine Geschichte von Armut, Frauenhaß und Straflosigkeit. In den letzten beiden Jahrzehnten entstand im Zeichen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA in Ciudad Juárez eine Maquiladora-Industrie, eine zollfreie Produktionszone, in der vor allem Frauen als Billiglohnarbeiterinnen für den Weltmarkt produzieren. Dies hatte und hat eine zunehmende Migration in den Großraum Ciudad Juárez zur Folge, begleitet von einem rasanten ökonomischen und urbanen Wachstum. Soziale Netzwerke brachen auseinander, die traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern löste sich durch die zunehmende Erwerbsarbeit der Frauen auf – radikaler und schneller als anderswo in Mexiko.

Die Grenzregion ist gezeichnet durch Armut, soziale Fragmentierung, organisiertes Verbrechen, generelle Gewalt und die Erosion staatlicher Ordnung. Es herrscht Straflosigkeit – und ein offenbar verbreitetes Einverständnis mit diesem Zustand, zumindest, solange es »nur« um Frauen geht. Staatliche Stellen bagatellisieren das Problem unterdessen in unverantwortlicher Art und Weise und haben sich so zu Komplizen des Verbrechens gemacht, die Aufklärung verhindern.

Es gibt verschiedene Theorien, wer hinter den Frauenmorden in Juárez steckt. Die US-Bundespolizei FBI geht von »ein oder mehreren Serienmördern, einigen Drogenhändlern, zwei sadistischen und gewalttätigen Banden und einer Gruppe sehr mächtiger und einflußreicher Männer« aus. Doch es bleibt die Frage nach dem Warum. Unter anderem ist vermutet worden, daß viele der Opfer für Or­gien oder die Produktion von Pornofilmen entführt, gefoltert und ermordet wurden. Doch nie wurden solche Videos gefunden.

Pakt des Schweigens

Rita Laura Segato, eine aus Brasilien stammende Expertin für Sexualverbrechen, vermutet dagegen, daß die Verbrechen im Rahmen von »Initia­tionsriten« der Drogenkartelle und des organisierten Verbrechens verübt werden, die so »ihre Territorien abstecken« und ihre Macht demonstrieren. Gleichzeitig werde auf diese Weise ein Pakt des Schweigens zwischen den Mördern geschaffen. Segatos Analyse dürfte in die richtige Richtung gehen, denn ohne die Komplizenschaft von Polizei und staatlichen Stellen könnten die Verbrechen nicht in diesem Umfang unaufgeklärt bleiben.

Um die Frauenmorde in Ciudad Juárez zu verstehen, ist das Verständnis von sexistischer Gewalt fundamental. Eine Vielzahl von Mechanismen sichert ihre Reproduktion und Legitimation – von der Arbeitsteilung über physische Gewalt bis hin zum Mord. Viele Frauen in Ciudad Juárez nehmen auf die eine oder andere Weise nicht mehr den ihnen in der patriarchalen Ordnung zugewiesenen Platz ein. Sie entsprechen nicht den tradierten gesellschaftlichen Normen und können deshalb nicht auf Schutz oder Gerechtigkeit hoffen, gerade wenn sie allein leben und für ihren Unterhalt selbst sorgen. Viele Männer betrachten sie damit als Besitz aller. Sie werden gequält, entstellt, getötet – zur Abschreckung für andere und zur Sicherung der Vormachtstellung der Männer.

* Aus: junge Welt, 17. Oktober 2008


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