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In Chiapas droht ein neuer Gewaltausbruch

Paramilitärs bedrohen Zapatisten und Menschenrechtler. Interview mit Michael Chamberlin*

* Michael Chamberlin ist stellvertretender Direktor des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas in Chiapas. Im Süden Mexikos drohen erneut bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen regierungsnahen Paramilitärs und linksgerichteten Zapatisten aufzuflammen. Über den Hintergrund des Konflikts sprach mit Chamberlin für ND Luz Kerkeling.**



ND: Seit Beginn des Jahres warnen unabhängige soziale Organisationen vor einer neuerlichen Gewaltwelle in Chiapas. Die zapatistische Bewegung, die sich seit 1994 für eine Landverteilung, die Stärkung der Rechte der Ureinwohner und eine radikale Demokratisierung des Landes einsetzt, wird von rechten Kräften bedroht. Wie operieren diese Paramilitärs?

Chamberlin: Viele Unterstützergemeinden der Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) werden zur Zeit von der Organisation zur Verteidigung der Ureinwohner- und Bauernrechte (OPDDIC) bedroht. Die OPDDIC hat ihre Wurzeln in den paramilitärischen Organisationen Revolutionäre Indigene Anti-Zapatistische Bewegung, Frieden und Gerechtigkeit sowie Los Chinchulines. Diese sind für Dutzende Morde und Tausende Vertriebene in den 90er Jahren verantwortlich. Die OPDDIC soll die Ermordung von vier Menschen im Dorf Viejo Velasco zu verantworten haben. Die Taten geschahen im November 2006. Noch immer werden vier Personen vermisst. Der Rest der Gemeinde floh in andere Siedlungen. Die Menschen sind voller Angst.

Wer steht hinter dieser Organisation?

Hintermann der Organisation ist Pedro Chulín. Er war vor Jahren Abgeordneter in Chiapas und ist heute Bundesabgeordneter für die noch immer mächtige Institutionelle Revolutionäre Partei (PRI). Er verfügt über weitreichende Beziehungen in Politik und Wirtschaft. Er war 1998 für eine massive Attacke auf den autonomen Landkreis Ricardo Flores Magón verantwortlich, der über 100 zapatistische Dörfer umfasst. Die bundesstaatliche Regierung von Juan Sabines und die nationale Regierung unter Felipe Calderón haben bis heute nichts gegen diese Gruppe unternommen. Nach Angaben der Tageszeitung »La Jornada« erfährt die OPDDIC Unterstützung durch sämtliche Regierungsebenen.

Welche Strategie verfolgt die OPDDIC?

Die OPDDIC droht nicht nur mit der Vertreibung weiterer Gemeinden im abgelegenen Naturreservat Montes Azules, das für die Regierung wegen der wirtschaftlichen Erträge aus der biologischen Vielfalt enorm wichtig ist, sondern auch mit direkten Angriffen auf Unterstützungsgemeinden der EZLN. Sogar wir selbst, Aktivisten aus dem Menschenrechts- und Umweltschutzbereich, erhalten Todesdrohungen. Die OPDDIC beschuldigt die Zapatisten des Landraubs und lockt verzweifelte Kleinbauern mit Versprechungen auf Landzuteilung. Durch die alltägliche Repression, für die selbstverständlich niemand die Verantwortung übernimmt, werden die Menschen in die regierungsnahen Strukturen gezwungen. Die OPDDIC scheint eine relativ starke Gruppierung zu sein, ihr Einfluss geht über den lokalen Rahmen hinaus. Es gibt zahlreiche Einschätzungen, dass es im Endeffekt um eine politische und ökonomische Kontrolle der ressourcenreichen Region von Chiapas geht.

Wie reagiert die EZLN auf das Bedrohungsszenario der OPDDIC?

Am 1. Januar 1994 hatte sie der Regierung Mexikos den Krieg erklärt und zwölf Tage bewaffnet gekämpft. Seitdem haben sich die Zapatisten allerdings durch zivile Aktionen hervorgetan. In einem Kommuniqué vom 9. Februar erwähnt die EZLN, dass sie notfalls wieder zu den Waffen greifen werde, wenn eine ihrer über 1000 Unterstützergemeinden ernsthaft angegriffen würde.
In Chiapas droht ein Gewaltausbruch. Die Fronten sind stark polarisiert. Die EZLN wirft der Regierung vor, die OPDDIC zu dulden, wenn nicht sogar zu protegieren, um sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Wir hoffen, dass die Konflikte friedlich beigelegt werden können.

Informationen zu Menschenrechtscamps in Chiapas unter www.buko.info/carea

** Aus: Neues Deutschland, 21. Februar 2007


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