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Mehr als nur Drogenkrieg

Anne Huffschmid spannt in ihrem Mexiko-Buch einen gelungenen Bogen von den geschichtlichen Mythen bis hin zur Gegenwart

Von Tobias Lambert *

In ihrem neuen Buch »Mexiko – Das Land und die Freiheit« gelingt Anne Huffschmid ein spannender Einblick in das Mexiko des 21. Jahrhundert.

Es war ein geschichtsträchtiges Jahr, das für Mexiko gerade zu Ende ging. Das Land feierte nicht nur im September 2010 mit viel Pomp den zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien. Am 20. November vor einhundert Jahren begann zudem die mexikanische Revolution, deren Versprechen von Land und Freiheit bis heute aktuell, weil uneingelöst sind.

Nicht wenige linke AktivistInnen erwarteten, dass 2010 wieder etwas passieren würde, ein Aufstand oder gar Umsturz. Daraus wurde nichts. Wer heute über Mexiko spricht oder liest, hat meist weniger aktuelle linke Revolten als vielmehr den eskalierenden Drogenkrieg vor Augen. An die 30 000 Menschenleben hat dieser alleine in den vergangenen vier Jahren gekostet.

Die Kulturwissenschaftlerin und Mexiko-Expertin Anne Huffschmid beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit dem Mexiko von Gestern und Heute. Dabei spannt sie gekonnt einen Bogen von den geschichtlichen Mythen und Erinnerungskämpfen um Unabhängigkeit und Revolution, »in denen sich mexikanisches Selbstverständnis spiegelt«, bis ins vielfältige Mexiko des 21. Jahrhunderts. Die Drogenmafia, »ohne die, ob man mag oder nicht, über das heutige Mexiko nicht sinnvoll zu sprechen ist«, macht dabei nur eines von sechs spannenden Kapiteln aus.

Anhand des Bundesstaates Oaxaca, der 2006 durch einen breiten gesellschaftlichen Aufstand gegen den korrupten Gouverneur Schlagzeilen machte, zeigt Huffschmid die Ambivalenz »indigener Zivilgesellschaft« auf. Im Kapitel über den Aufschwung von Frauen in der mexikanischen Politik wird eine Krise der »starken Männer« konstatiert, die aufgrund der brachialen Gewaltinszenierungen der Drogenkartelle zunächst überraschen mag. Mit vielen kleinen Beispielen beschreibt Huffschmid »die Erosion gesellschaftlicher und symbolischer Ordnungen« und widmet sich der von Frauen ausgehenden »anderen Macht«. Im Mittelpunkt steht die Chefin der früheren Staatspartei PRI, Beatriz Paredes, die viele schon als nächste Präsidentin Mexikos sehen.

Der Imagination des »monströsen Megamolochs« Mexiko Stadt, der sich nicht nur durch progressive Gesetzgebung in den Bereichen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe »in mancher Hinsicht als Oase ziviler Modernität« darstellt, setzt die Autorin ein buntes, vielseitiges Stadtporträt entgegen. Im kulturellen Teil des Buches werden zuletzt einige »GrenzgängerInnen« vorgestellt, wie der dieses Jahr verstorbene Schriftsteller Carlos Monsiváis und die Sängerin Lila Downs. Durch das gesamte Buch hindurch ziehen sich Kurzporträts wichtiger Persönlichkeiten oder Orte. Zwei eigenständige Fotostrecken runden das Buch ab.

Huffschmid erzählt in lockerem, journalistischen Ton, so dass sich das Buch streckenweise wie eine lose Aneinanderreihung von Reportagen liest. Dabei hat sie einen sehr persönlichen Zugang und reflektiert immer wieder die eigene Wahrnehmung. Etwa wenn sie von Orten oder Personen erzählt, die ihr früher bereits begegnet sind. Die Mischung aus Analyse und Anekdoten machen diese Länderkunde zum informativen Lesevergnügen und sehr gelungenen Einblick in zentrale Aspekte des heutigen Mexiko.

Anne Huffschmid: Mexiko – das Land und die Freiheit, Rotpunktverlag, Zürich 2010, 288 S., 24 Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2011


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