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Hunger in Nordmexiko

Rarámuri-Indígenas von Chihuahua beklagen Tote

Von Andreas Knobloch, Mexiko-Stadt *

Mindestens sechs Angehörige der indigenen Rarámuri-Ethnie sind in den vergangenen Tagen Angaben der Bauernorganisation El Barzón zufolge in der Sierra Tarahumara im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua an Hunger und Kälte gestorben. Die Regierung des Bundesstaates bestätigte eine entsprechende Meldung.

Anderthalb Jahre Trockenheit und die niedrigen Temperaturen des Winters haben einen »humanitären Notstand« bei den Rarámuri ausgelöst. Neben den Todesfällen werden rund fünfhundert Angehörige dieser Ethnie derzeit in der Klinik Santa Teresita in der Kleinstadt Creel mit Symptomen von Lungenentzündung, Parasiten und schwerer Unterernährung behandelt. Der Gouverneur von Chihuahua, César Duarte, sprach von insgesamt 250000 Gefährdeten. Die seit mehreren Monaten anhaltende Dürre ist die schlimmste seit 71 Jahren und hat für enorme Ernteausfälle in der Region gesorgt. Betroffen ist fast der gesamte Norden Mexikos, doch wegen ihrer Armut und Marginalisierung sind die halbnomadenhaft lebenden Rarámuri eine besonders anfällige Gruppe.

Im Internet machte dieser Tage die Nachricht von einer Suizidwelle die Runde, die von einigen Medien aufgegriffen wurde. Rund 50 Indígenas sollen sich demnach bis Mitte Dezember das Leben genommen haben, indem sie sich in Schluchten gestürzt hätten, weil sie ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten. Staatliche Stellen aber dementierten. Auch Bauern- und kirchliche Organisationen wissen nichts von Selbstmorden und bezeichneten entsprechende Berichte als »sensationslüstern«.

Aber es stimmt, daß die Rarámuri an Hunger sterben. Journalisten berichteten, mehrere Hilfsaktionen sind angelaufen. Das Ministerium für Soziale Entwicklung (Sedeso) sandte 100000 Pakete mit Nahrung und Decken als Soforthilfe. In mindestens sieben Bundesstaaten wurden Lebensmittel und andere Hilfsgüter gesammelt.

Rasche Unterstützung ist in dieser Notsituation nötig, aber vor allem ist eine grundlegende Lösung des Problems gefordert. Es ist auffällig, wie wenig Einfluß die Sozialprogramme der Regierung auf gesamtstaatlicher wie auf regionaler Ebene haben. Paradoxerweise soll im vergangenen Jahr die Region mit Mitteln in Rekordhöhe unterstützt worden sein. Mehr als 945 Millionen Pesos (rund 55 Millionen Euro) seien unter anderem für Trinkwasser, Lebensmittel und Decken geflossen – soviel wie nie zuvor. Die Frage ist, wie und ob überhaupt die Summe investiert wurde, oder ob sie in irgendwelchen Korruptionskanälen verschwunden ist. Nie wurde das Geld dazu verwendet, die Gemeinden in die Lage zu versetzen, eigene Lebensmittel zu produzieren, bemängelt etwa der politische Beobachter Víctor M. Quintana S. in der Tageszeitung La Jornada.

Armut und Marginalisierung der Rarámuri, verschlimmert durch Trockenheit und das Einbrechen organisierter Kriminalität, sind die Folge einer Geschichte von Enteignung, Plünderung sowie kultureller, ökonomischer und ökologischer Unterdrückung, die Jahrhunderte zurückreicht. Angefangen mit der Katholisierung über die Raubzüge spanischer Kolonialherren im 17. und 18. Jahrhundert bis hin zur aktuellen Ausbeutung der Wälder der Region durch multinationale Holzkonzerne und große und kleine Agrarunternehmen. Nicht weniger Anteil an der Tragödie haben kommunale Politiker mit ihrer Korruption, Trägheit und ihrem Despotismus, die Regierungen von Chihuahua, Durango und Sinaloa, in deren Gebiet die Rarámuri leben, und die Bundesregierung selbst. Allzu oft pendelt sie zwischen sprichwörtlicher Taubheit gegenüber den indigenen Gemeinden und einer Politik, die durch Paternalismus und mangelndes Verständnis charakterisiert ist und aus der vermeintlichen Begünstigung dieser Bevölkerung vor allem politischen Nutzen ziehen will.

* Aus: junge Welt, 19. Januar 2011


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