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Mexikos Leidensweg

Schwache Industrie, Verschuldung, Abhängigkeit von den USA: Die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas steckt trotz Wachstums in der Klemme

Von Raoul Rigault *

Investoren sind ruhelos. Auf der Flucht vor der Dauerkrise im angelsächsischen und Euro-Raum setzen sie ihre Hoffnungen nun vor allem auf die Schwellenmärkte. In den Mainstreammedien führt das mitunter zu einem schiefen Bild, denn auch unter den Newcomern der G-20 gibt es gravierende Problemfälle. Der prominenteste heißt Mexiko.

Die 112 Millionen Einwohner des von bürgerkriegsartigen Konflikten zwischen Drogenkartellen zusätzlich gefährdeten Staates sind sich dessen bewußt. »Mexikaner bleiben bezüglich der wirtschaftlichen Perspektiven weiterhin pessimistisch«, meldete jüngst der britische Economist unter Berufung auf mehrere Meinungsumfragen. Dabei wird für dieses Jahr ein Wachstum von 4,5 Prozent erwartet. Was für europäische Ohren beeindruckend klingt, nimmt sich neben den jeweils 7,5 Prozent in Brasilien und Argentinien eher bescheiden aus. Dabei braucht Mexiko die Erholung dringender als andere Länder, denn mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 6,5 Prozent erlebte man südlich des Rio Grande 2009 die schlimmste Krise in ganz Lateinamerika.

Fessel NAFTA

Verantwortlich dafür ist die erdrückende Abhängigkeit vom Nachbarn USA, der mit 48 Prozent nicht nur Hauptlieferant, sondern mit einem Anteil von 80,5 Prozent auch fast einziger Abnehmer mexikanischer Waren ist. Allen Illusionen zum Trotz hat sich die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA als verhängnisvolle Fessel erwiesen. Selbst Jaime Serra, der als Handelsminister Mexikos den Pakt Anfang der 90er Jahre mit vereinbarte, gesteht inzwischen ein, daß die Gewinne aus dem Warenaustausch »ungewöhnlich gering« sind.

Wichtigste Ursache ist die Unterentwicklung der Industrie, die nur als Montagebetrieb angelieferter Teile fungiert. Am zu geringen Wertzuwachs der in Mexiko zusammengebauten Produkte scheitert auch die zollfreie Einfuhr in die EU, die dafür eine Mindeswertschöpfung voraussetzt. Eine intensive Förderung innovativer Produktionen im Inland wäre, zusammen mit einer verstärkten Kooperation auf dem Subkontinent, die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Andernfalls sind die chronischen Übel kaum zu heilen. Obwohl der Exportanteil 28 Prozent der mexikanischen Wirtschaftsleistung ausmacht (in Brasilien sind es nur elf), schrieb man beim Außenhandel und unter die Leistungsbilanz in den vergangenen Jahren regelmäßig rote Zahlen.

Entsprechend wird die Bruttoauslandsverschuldung, die 2007 noch bei 193,1 Milliarden US-Dollar lag, den Prognosen zufolge bis 2011 auf 258 Milliarden wachsen. Parallel stieg die Staatsverschuldung binnen drei Jahren von 21 auf 33 Prozent des BIP. Um diesen Trend zu stoppen und so die Ratingagenturen zufriedenzustellen, sieht das neue Haushaltsgesetz die Einführung einer 25prozentigen Umsatzsteuer auf die beliebten Energy-Drinks sowie eine Anhebung der Tabaksteuer um sieben Pesos pro Zigarettenpackung vor.

Wie wenig wettbewerbsfähig Lateinamerikas zweitgrößte Volkswirtschaft im internationalen Vergleich ist, zeigt das Beispiel China: Zwar konnte Mexiko auf dem Absatzmarkt USA seit 2005 Anteile gewinnen (von 10,5 auf 12,5 Prozent). Aber die Volksrepublik konnte von 13,7 auf 17,5 Prozent zulegen. Ohne den NAFTA-Protektionismus fiele das Ergebnis noch deutlicher aus. Fliesen und Pflastersteine aus dem Reich der Mitte zum Beispiel sind mit einem Quadratmeterpreis von 5,20 gegenüber 5,29 Dollar billiger. Nach Entrichtung der 8,5 Prozent NAFTA-Zollgebühren allerdings nicht mehr. Gleiches gilt für Kleidung, Glaswaren, Chemieprodukte und vieles andere. Um sich gegen den asiatischen Konkurrenten besser behaupten zu können, hofft man nun – Ironie der Geschichte – auf die Kampfkraft der neu entstehenden chinesischen Arbeiterbewegung und daraus resultierende kräftige Lohnsteigerungen jenseits des Pazifiks, während man in Mexiko alles versucht, um die Gewerkschaften in Schach zu halten.

Lohndumping

Ein »kräftiger Schluck aus der Pulle« wäre allerdings auch hier dringend nötig. Laut Zentralbank verlor der ärmste Teil der Bevölkerung im Zuge der Krise ein Fünftel seines ohnehin mageren Einkommens. Gewerkschaftlichen Untersuchungen zufolge verdienen 39 Prozent der männlichen und 55 aller weiblichen Beschäftigten weniger als den zweifachen Mindestlohn, der je nach Region zwischen 54,47 (3,35 Euro) und 57,46 Pesos (3,53 Euro) pro Tag beträgt. Das heißt, sie und ihre Familien müssen mit weniger als sieben Euro am Tag auskommen. Infolgedessen leiden mehr als 23 Millionen Mexikaner unter unzureichender Ernährung.

Auch sonst ist die soziale Situation erschreckend: Noch immer sind knapp sechs Millionen der über 15jährigen Mexikaner Analphabeten. Zehn Millionen hatten nicht die Gelegenheit die Grundschule zu beenden. Und weitere 17,5 Millionen mußten den Besuch einer weiterführenden Schule abbrechen, um ihren Broterwerb zu sichern. Das wird zunehmend schwieriger, denn seit 2007 stieg die ohnehin geschönte offizielle Arbeitslosenquote von 3,7 auf 5,7 Prozent im September 2010. Dabei ist lebenslange Maloche für die meisten quasi unausweichlich, denn nur 27 Prozent der Älteren beziehen eine Rente.

Das Überangebot an Jobsuchenden nutzten einheimische wie ausländische Kapitalisten zur weiteren Umverteilung. So fiel der Anteil der Löhne am Volkseinkommen auf (unglaublich niedrige) 29,2 Prozent, während Profite und Renditen inzwischen 61,6 Prozent ausmachen. Übrigens stammt mit Carlos Slim Helu der reichste Mann der Welt aus Mexiko. Das US-Magazin Forbes schätzt dessen Vermögen auf 53,5 Milliarden US-Dollar. Binnen eines Jahres verzeichnete der Eigentümer des (in den 90ern »privatisierten«) Telefonfestnetzmonopolisten Telmex ein Plus von 18,5 Milliarden Dollar. Für Seinesgleichen sind die Zukunftsaussichten also rosig. Zumal zur »Reformagenda« für die letzten zwei Regierungsjahre des Staatspräsidenten Felipe Calderon insbesondere eine Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse zählt.

* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2010


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