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Das Militär ist Teil des Problems

Ska Keller über die Straflosigkeit in Mexiko und europäische Handlungsspielräume


Ska Keller ist Europa-Abgeordnete der Grünen und unter anderem stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Sie nahm vom 29. September bis 6. Oktober an einer Delegationsreise der Grünen Europafraktion nach Mexiko teil, um sich über die Lage der Menschenrechte zu informieren. Mit ihr sprach für »nd« Martin Ling.


nd: Mexikos neu gewählter Präsident Enrique Peña Nieto von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) tritt im Dezember sein Amt an. Er hat angekündigt, mit aller Entschlossenheit gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen. Glaubwürdig?

Keller: Das ist mit Vorsicht zu genießen. Schließlich hat die PRI in den 70 Jahren ihrer Herrschaft (1930-2000) mit dem organisierten Verbrechen zusammengearbeitet. Das ist die Ansicht vieler Leute hier. Dass sich das nun ändert, ist eine vage Hoffnung. Dabei stellt sich auch die Frage, was die PRI überhaupt unter entschlossenem Vorgehen versteht. Das Wie ist entscheidend.

Der noch amtierende Präsident Felipe Calderón beantwortete das Wie mit der Armee, die bei seinem sogenannten Krieg gegen die Drogen eine zentrale Rolle einnahm, weil ihr weniger Verwicklung in das Drogengeschäft unterstellt wurde als den Polizeikräften. Nachvollziehbar?

Diese Annahme war nicht unplausibel. Inzwischen lässt sie sich allerdings nicht mehr so aufrecht erhalten. Die Zetas, eins der mächtigsten Drogenkartelle, haben sich aus einer Eliteeinheit der Streitkräfte heraus entwickelt. Davon abgesehen gibt es immer wieder Berichte von verschiedensten Menschenrechtsverletzungen durch Soldaten. Das Militär ist inzwischen Teil des Problems.

Aufgeklärt werden Verbrechen in Mexiko so gut wie nicht. Die offizielle Aufklärungsrate bei Gewaltverbrechen liegt bei unter zwei Prozent. Wie erklärt sich das?

Ein zentrales Element ist die Straflosigkeit selbst. Die Hemmschwelle ein Verbrechen zu verüben, sinkt, wenn klar ist, dass man dafür kaum zur Rechenschaft gezogen wird. Das betrifft Morde ebenso wie Drogenhandel. Eine konsequente rechtliche Ahndung dieser Straftaten würde in der Gesellschaft einen Wandel bewirken. Dann würde die Bevölkerung es nicht für normal und legitim halten, dass Gewalt den Alltag bestimmt Außerdem haben die Menschen aufgrund der Straflosigkeit wenig Vertrauen in die Justiz und so kommen viele Fälle erst gar nicht zur Anzeige.

Ist die Justiz untätig?

Das wäre zu viel gesagt. Es gibt vielversprechende Initiativen. Es gibt auch alle möglichen Gesetze, aber die werden eben nicht umgesetzt. Das hat auch mit Mexikos föderaler Struktur zu tun. Gesetze, die auf der Bundesebene erlassen werden, müssen auch auf der Bundesstaatsebene und auf der lokalen Ebene durchgesetzt werden. Und das passiert nicht, weil es widersprüchliche Interessen gibt. Die Staatsexekutive greift nicht in jedem Dorf und in jeden Landstrich, wo lokale Herren das Sagen haben.

Ein Beispiel ist der Bundesstaat Oaxaca. Der machte unter dem ehemaligen Gouverneur Ulises Ruiz von der PRI Negativschlagzeilen, was die Gewalt gegen soziale Bewegungen angeht. Seit 2010 ist die PRI-Regierung in diesem Bundesstaat abgelöst durch ein Bündnis mehrerer Parteien. Ist seitdem Besserung in Sicht?

Relativ schon. Ein ganz kleines Beispiel dafür ist, dass Ulises Ruiz sich damals geweigert hat, mit der grünen Europa-Parlamentarierdelegation überhaupt zu reden, als wir über den Fall der 2010 ermordeten Menschenrechtsbeobachtern Bety Carino (Mexiko) und Jyri Jaakkola (Finnland) sprechen wollten. Jetzt werden wir mit offenen Armen empfangen. Es gibt offenbar den starken Willen, etwas zu ändern.

Und hat sich bereits etwas geändert?

Das ist das Problem. Selbst mit der neuen Regierung in Oaxaca tut sich faktisch so gut wie nichts. Wir haben uns mit verschiedenen Gruppen und Initiativen dort unterhalten. Ob bei Bergbauprojekten, Windkraftwerken oder anderen Großprojekten: Die Interessen der Wirtschaft werden auf Kosten der Bewohner durchgesetzt. Es gibt jetzt zwar Dialoge auf allen möglichen Ebenen, aber an den Strukturen hat sich nichts geändert. Bei den Bergbauprojekten wird mit unglaublich viel Gewalt gegen die Minengegner vorgegangen - ungestraft. Das lässt sich sicherlich zum Teil damit erklären, dass in Oaxaca die PRI bis 2010 sogar 80 Jahre geherrscht hat und immer noch alle Institutionen fast ausnahmslos von PRI-Leuten besetzt sind. Auch die von Ulises Ruiz geförderten paramilitärischen Strukturen sind immer noch da. Und die Paramilitärs haben Waffen, mit denen sie die Interessen ihrer Förderer durchzusetzen versuchen. Ein Wandel in Oaxaca ist schwer, obwohl der neuen Regierung der politische Willen, etwas zu ändern, sicher nicht abzusprechen ist.

Wie steht es um die Aufklärung des angesprochenen Falles von Bety Carino und Jyri Jaakkola?

Da gibt es einen Fortschritt. Die Staatsanwaltschaft hat 14 Haftbefehle erstellt - ein paar Tage, bevor wir ankamen. Darauf haben wir zwei Jahre gewartet, in denen der Fall nur zwischen bundesstaatlicher und föderaler Ebene hin und hergeschoben wurde.

Haftbefehle stehen auf dem Papier. Heißt das, dass auch mit Verhaftungen zu rechnen ist?

Hoffentlich. Einfach wird das nicht. Teilweise halten sich die Verdächtigen in der Zone auf, wo damals die überfallene Menschenrechtskarawane reingehen wollte. Dort gibt es nach wie vor eine massive Präsenz von Paramilitärs. Ob der Arm der staatlichen Verfolgungsbehörden dorthin reicht, muss sich erst erweisen. Ohnehin ist es ein komischer Zufall, dass solche kleinen Fortschritte wie die Haftbefehle immer dann passieren, kurz bevor eine ausländische Delegation ankommt. Das war auch so, kurz bevor der Menschenrechtsausschuss des Europaparlaments nach Oaxaca kam. Öffentlicher Druck auf Aufklärung ist offensichtlich nötig, damit überhaupt etwas passiert. Und die EU könnte da noch erheblich mehr tun, wenn sie die Handelsbeziehungen konsequent an die Einhaltung der Menschenrechte knüpfen würde. Da besteht auf alle Fälle Nachholbedarf.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. Oktober 2012


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