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Tierra y Libertad

Luis Hernández Navarro über die Umweltbewegung der Armen in Mexiko und notwendige Solidarität der Europäer *


Sich für die Bewahrung der Natur und Nachhaltigkeit einzusetzen, ist kein Privileg der reichen Gesellschaften - im Gegenteil, ist vor allem eine Überlebensnotwendigkeit der Armen und Entrechteten, zum Beispiel in Mexiko. Luis Hernández Navarro, geboren 1955 in Mexiko-Stadt, berichtet in seinem Buch »Wer Beton sät, wird Zorn ernten« über den Kampf der Indígenas und Campesinas. Mit dem Redakteur der mexikanischen Tageszeitung »La Jornada«, Gründungsmitglied und Präsident des »Studienzentrums für ländlichen Wandel«, sprach - dank Dolmetscherin Christiane Schulz - nd-Redakteurin Karlen Vesper.

nd: Sie schreiben in Ihrem Buch, sich für Umweltgerechtigkeit in Mexiko einzusetzen, sei lebensgefährlich. Ist es wirklich so schlimm?

Navarro: Es ist schlimm. Umweltaktivisten werden in Mexiko verfolgt oder sogar ermordet. Der Bauer Aldo Zamora, der um sein Land kämpfte, wurde von Holzfällern erschossen, Agustín Ríos von Polizisten in Oaxaca brutal zusammengeschlagen, weil er gegen ein Bergbauunternehmen stritt. Und Santiago Pérez saß Monate in einem Gefängnis, nur weil er die Wasserversorgung der indigenen Mazahua-Gemeinden verteidigt hat. Vor Verfolgung sicher sind selbst Ausländer nicht. So wurde der junge finnische Aktivist Jyri Antero Jaakkolas, für den Umweltschutz keine Grenzen kennt, im April 2010 zusammen mit der Menschenrechtsaktivistin Alberta Carino von Paramilitärs getötet.

Es geht in Mexiko heute wieder um »Tierra y Libertad«, Land und Freiheit?

Ja. Die Losung »Tierra y Libertad« ist vom Anarchisten und Journalisten Ricardo Flores Magón geprägt worden, der gemeinsam mit seinem Bruder Enrique mutig die Diktatur von Porfirio Diaz bekämpft hatte und dann in die USA fliehen musste, wo er 1922 im Gefängnis ermordet wurde. Seine Losung griffen die mexikanischen Revolutionäre unter Pancho Villa und Emiliano Zapata auf. »Tierra y Libertad« ist eine unerfüllt gebliebene Forderung. Sie ist heute das Motto der Umweltbewegung von unten. Denn Landraub und Raubbau, Zerstörung der Umwelt und Entrechtung der Bauern und Indigenen sind zwei Seiten einer Medaille.

Aber es gab doch eine Agrarreform in Mexiko?

Dank der opferreichen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts gelang es, in der mexikanischen Verfassung das Recht der Bauern auf Land zu verankern. Aber dieses ist im Zuge der neoliberalen Reformen entkernt worden. Artikel 27 ist ausgehöhlt. Seit 1992 ist alles Land auf dem Markt veräußerbar. Damit begann ein verhängnisvoller Prozess des Landverkaufes, der Landverpachtung und Landenteignung.

Betrifft dies auch Wasser und Bodenschätze?

So ist es. Der außer Kraft gesetzte Artikel 27, der das Recht auf Land fixierte, hat auch das Recht auf freien Zugang zu Wasser eingeschlossen. Nun wird den Armen nicht nur ihr Land, sondern auch die Kontrolle über das Grundwasser, über Seen und Flüsse entzogen. Der Staat sichert die Wasserversorgung für Tourismuszentren und Golfklubs, aber nicht für die indigenen Gemeinschaften oder landwirtschaftliche Anbauflächen.

Im Ergebnis der neoliberalen Reformen wurde auch ein neues Minengesetz verkündet. Es privilegiert Minenunternehmer gegenüber den Produzenten im landwirtschaftlichen Bereich. So wurden viele Konzessionen an privatwirtschaftliche Unternehmen vergeben, vor allem an internationale, insbesondere kanadische. Sechs Firmen aus Kanada kon-trollieren 70 Prozent der Goldförderung in Mexiko. Unter der Regierung des Ende 2012 abgewählten Felipe Calderón haben sich die Bergbaukonzessionen an ausländische Firmen verdoppelt.

Und Preise für Rohstoffe, insbesondere Edelmetalle, sind auf dem internationalen Markt enorm.

Darum nehmen die transnationalen Konzerne auch keine Rücksicht auf Verluste, gehen aggressiv vor bei der Ausbeutung von Erzadern und Erdölquellen sowie der Abholzung von Wäldern. Sie verschmutzen Grundwasser und Flüsse, zerstören Flora und Fauna, was sich katastrophal auf die Gesundheit der Anwohner auswirkt. Und der mexikanische Staat räumt großzügig alle Hindernisse aus dem Weg, die jene Unternehmen stören könnten, unser Land nach ihrem Gutdünken, zur Steigerung ihrer Profitrate auszuplündern. Diese Minenunternehmen vergewaltigen nicht nur unsere Umwelt, sondern berauben uns unseres natürlichen Reichtums. Sie schaffen alles außer Landes. Die Orte, an denen sich Bergbauunternehmen niedergelassen haben, erhalten im günstigsten Fall einen lächerlich minimalen Anteil von der Ausbeute aus dem Innern der Erde.

Und wie kann dagegen Widerstand organisiert werden?

2008 hat sich zum Beispiel ein Netzwerk der vom Bergbau Betroffenen gegründet, in dem soziale, indigene und bäuerliche Organisationen sowie Menschenrechtsinitiativen zusammenarbeiten. Eine ähnliche Bewegung gibt es für die Reinhaltung der Flüsse.

Gibt es ob gleicher Ausbeutungslage gemeinsame Aktionen der Minenarbeiter und Bauern?

Der Grundkonflikt in Mexiko besteht zwischen Minenunternehmen und den Bauern, denen zum Abbau der Bodenschätze das Land geraubt wurde. Die Minenarbeiter sind nur ein minimaler Teil derer, die von den Bergbauunternehmen ausgebeutet werden. Der Hauptkampf findet auf dem Land statt. Die wichtigsten Protagonisten sind Landarbeiter und Indígenas. Sie repräsentieren die »Umweltbewegung der Armen« und brechen damit den Mythos, dass das Engagement für die Umwelt ein Luxus der reichen Gesellschaften sei.

Im Gegenteil, das sind aktuelle soziale Auseinandersetzungen. Die Armen vor allem sind betroffen, wenn der Staat das Land und die Naturressourcen, die sie zum Leben brauchen, in privatkapitalistisches Eigentum verwandelt. Die Armen sind die bewusstesten Verteidiger der bedrohten Ökosysteme. Denn sie kämpfen um ihren Lebensraum, ihr Erbe, ihre Kultur, ja, um ihr Überleben, auch wenn sie sich selbst nicht als Umwelt- oder Naturschützer bezeichnen. Die Umweltbewegung der Armen streitet für Umweltgerechtigkeit.

Und wie verhalten sich die Stadtbewohner dazu?

Es gibt Verständigungsprozesse. Solidarität wächst aus gemeinsamer Betroffenheit.

Wie auch aus den rund um die Megastädte in Lateinamerika sprießenden Müllhalden, die der interessierte Zeitgenosse in Deutschland über die Medien entsetzt wahrnimmt?

Ja, die Müllhalden sind zu einem gravierenden Problem geworden. Plastik- und Giftabfälle verrotten nicht, können auch nicht verbrannt werden. Hinzu kommt, dass auch die Müllabfuhr und Endlagerung großteils privatisiert wurde und auch dort Eigennutz vor Gemeinnutz rangiert. Daher gibt es Unterstützung von besorgten Studenten und Akademikern, von Gewerkschaftern und Vertretern linker Parteien für die Umweltbewegung der Armen. Und nicht alle Städter sind gleichgültig, wenn für Megaprojekte wie den Bau von Autobahnen, Staudämmen oder Flughäfen die Landschaft verschandelt wird und Indígenas aus ihrer angestammten Heimat verjagt werden. Der Protest beispielsweise gegen die Atomkraftanlage Laguna Verde in Veracruz oder zur Verteidigung des Naturschutzgebietes in der Selva de los Chimalapas verbindet Land- und Stadtbevölkerung.

Wie können Europäer die Umweltbewegung der Armen in Mexiko unterstützen?

Durch fairen Handel. Wenn die bäuerlichen Kleinbetriebe anständige Preise für ihre Produkte auf dem internationalen Markt erzielen, ist ihnen ein Leben in bescheidenem Wohlstand und Würde möglich. Helfen würde auch, wenn die Europäer auf ihre Konzerne einwirken, auf humane und umweltverträgliche Produktionsbedingungen in deren mexikanischen Filialen zu achten.

Das Ständige Völkertribunal, eine 1979 in Anlehnung an das Russel-Tribunal gegründete internationale Institution, untersucht derzeit die Menschenrechtssituation in Mexiko und will Ende dieses Jahres oder Anfang 2014 seine Ergebnisse vorlegen. Wie steht es damit?

Das ist auch eine wichtige Unterstützung für unsere Arbeit. Denn das Tribunal befasst sich mit der Lage der Indígenas, mit der Prekarisierung und dem Abbau von Arbeitsrechten, den Auswirkungen der neoliberalen Industrialisierung auf die Umwelt, die Ernährungssouveränität sowie auf Autonomie der Campesinas und indigenen Völker. Die Bauern werden z. B. gezwungen, genmanipuliertes Saatgut zu kaufen und anzubauen, das nicht nur die Gesundheit gefährdet, sondern auch Abhängigkeit zementiert. Auch hier könnten Konsumenten in Europa helfen.

Strahlt die Bolivarianische Revolution in Venezuela auch auf Mexiko aus?

Die Mexikaner schauen eher nach Norden, als nach Süden. Vor allem seit seit dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrags NAFTA 1994. Und auch wegen der massiven Auswanderung von Mexikanern in die USA. Für die Konservativen, aber auch das Wahlbündnis der Linken war Hugo Chávez nur ein Populist. Als die Rechten den Präsidentschaftskandidaten der Linken im vergangenen Wahlkampf als »Chávez von Mexiko« zu diffamieren versuchten, hat jener dies vehement negiert. Mexikos linke Organisationen entsprechen in ihrem Profil mehr den sozialdemokratischen Parteien in Europa.

Und wie stehen Mexikos Indígenas und Bauern zur Bolivarianischen Revolution?

Sie beobachten mit großer Sympathie, was in Venezuela, aber auch in Ecuador geschieht, wie um gesellschaftliche Veränderungen, um eine soziale und solidarische Wirtschaft gerungen wird. Teile der zapatistischen und antiautoritären Strömungen in Mexiko hingegen kritisieren zwar nicht offen die Bolivarianische Revolution, gehen aber mit deren Mitteln und Methoden nicht konform. Die Indígenas und Campesinos in Mexiko identifizieren sich vor allem mit der Landlosenbewegung in Brasilien oder »Buen Vivir« in Bolivien, der Bewegung für ein gutes Leben unter Respekt für die Umwelt.

Wenn es in Mexiko, dem unmittelbaren südlichen Nachbarn der USA, solch gesellschaftlich relevante Veränderungen wie in Venezuela, Bolivien oder Ecuador gäbe, würde die Supermacht sicher nicht gelassen zuschauen?

Da haben Sie vermutlich recht. Andererseits: Venezuela ist als zweitgrößter Erdöl-Lieferant sehr wichtig für die USA. Und die Vereinigten Staaten haben die Bolivarianische Revolution nicht verhindern können. Das beweist: Ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes Volk kann Transformationsprozesse in Gang setzen, unabhängig davon, was das Imperium sagt.

Stimmt es, dass Mexiko von den USA Texas zurückfordert?

(Lacht) Das stimmt. Und weil die USA Texas nicht freiwillig wieder hergeben, übersiedeln so viele Mexikaner nach Texas. So wird sukzessive die Annexion von 1845 rückgängig gemacht.

Luis Hernández Navarro: Wer Beton sät, wird Zorn ernten. Mexikos Umweltbewegung von unten. Unrast-Verlag, Münster, 199 S., br., 14 €.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 6. April 2013


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