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Gegenwind für Enrique Peña Nieto

Mexikanischer Präsidentschaftsfavorit durch aufgebrachte Jugend unter Druck

Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *

Tausende Studenten sind in Mexiko dieser Tage auf die Straße gegangen, um frischen Wind in den flachen und oberflächlichen Präsidentschaftswahlkampf zu bringen.

Nichts schien Enrique Peña Nieto, Präsidentschaftskandidat der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) und Geschöpf des mexikanischen Medienmultis Televisa, aufhalten zu können. In allen Umfragen liegt er vorn, seine Partei strebt nach zwölf Jahren Abstinenz mit der Wahl am 1. Juli die Rückkehr an die Macht an, die sie bis 2000 mehr als 70 Jahre lang autoritär inne hatte. Doch seit seinem »schwarzen Freitag« am 11. Mai werden Peña Nieto und seine Wahlkampfstrategen zunehmend nervös. Dem Kandidaten schlägt in sozialen Netzwerken und auf öffentlichen Plätzen unter jungen Leuten eine unerwartete, immer breitere Ablehnung entgegen, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind.

Ausgerechnet an der privaten, von Jesuiten geführten Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt wurde Peña Nieto am 11. Mai von einem Großteil der Studenten gnadenlos ausgebuht. In Anspielung auf die von ihm als Gouverneur verantwortete brutale Repression gegen Demonstranten des Dorfes Salvador de Atenco 2006 musste er sich anhören, wie die Studenten »Mörder, Mörder« schrien.

Das alles hätte wahrscheinlich keine größere Außenwirkung erzielt, wenn Peña Nieto und seine Partei nicht versucht hätten, die Protestierenden als von außen eingeschleuste Provokateure hinzustellen. Der Fernsehsender Televisa brachte es sogar fertig, seinen Abendbeitrag so zu bearbeiten, dass der Auftritt Peña Nietos nur vor jubelnden Studenten stattfand. 131 Studenten stellten umgehend ein Video in YouTube ein, in dem sie ihre Uni-Ausweise hochhalten. Das Video wurde innerhalb kürzester Zeit ein Renner im Netz. Über Twitter und Facebook organisierte sich die Bewegung »YoSoy132« (etwa: Ich bin die Nummer 132).

Inzwischen koordinieren sich im ganzen Land die Studenten privater und öffentlicher Universitäten. Allgemein scheint eine Jugend aufgewacht zu sein, die zuletzt immer als apathisch und politisch weitgehend uninteressiert dargestellt wurde. Fast jeden Tag gibt es größere und kleinere Proteste gegen Peña Nieto und für das Recht auf freie Information. Neben dem Kandidaten und Televisa ist auch der Medienkonzern Tv Azteca Zielscheibe. Allein in der Hauptstadt kamen jüngst etwa 40 000 junge Leute zusammen. In anderen Bundesstaaten variiert die Zahl zwischen mehreren hundert und mehreren tausend. Während die jungen PRI-Gegner anfangs verbal bedroht und in drei Bundesstaaten sogar von PRI-Anhängern verprügelt wurden, ist deren Kandidat nun in der Defensive. Peña Nieto spricht auf einmal von Toleranz und dem Recht auf andere Meinungen.

Ob die überraschenden Mobilisierungen der vergangenen Wochen noch Einfluss auf die Wahlen nehmen werden? 14 der gut 84 Millionen Wahlberechtigten dürfen am 1. Juli erstmals den Präsidenten wählen, und die 18- bis 29-jährigen machen 30 Prozent der Wahlbevölkerung aus. Aber die Wut gegen den Fernsehfavoriten Peña Nieto heißt nicht automatisch Begeisterung für die konservative Regierungskandidatin Josefina Vázquez Mota oder für Andrés Manuel López Obrador, den ein sozialdemokratisch ausgerichtetes Parteienbündnis aufgestellt hat. Bisher hat die Protestbewegung relativ allergisch gegen die Vereinnahmungsversuche aller politischen Parteien reagiert. Am ehesten scheint der 2006 möglicherweise durch Wahlbetrug um das Präsidentenamt gebrachte López Obrador von einem Meinungsumschwung zu profitieren. Jedenfalls muss sich der Sieger der Präsidentschaftswahlen auf eine Bevölkerungsgruppe gefasst machen, deren kritisches Potenzial vor wenigen Wochen noch eingeschlafen schien.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 31. Mai 2012


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