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Mexiko: Schlacht um Oaxaca

"Jede Barrikade ist ein politischer Raum"

Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *

Die Aufständischen in der mexikanischen Stadt Oaxaca haben die Polizei in einer mehrstündigen Straßenschlacht am Donnerstag aus dem Universitätsviertel zurückgedrängt. Dabei wurden nach Angaben von Sanitätern mindestens 20 Rebellen, zehn Polizisten und drei Pressefotografen verletzt. Es war die bisher größte und härteste direkte Konfrontation zwischen der Bundespolizei und der Volksversammlung der Bevölkerung Oaxacas (APPO).

Die mexikanische Regierung hatte am vergangenen Wochenende knapp 5000 Bundespolizisten nach Oaxaca entsandt, um den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Die im Mai begonnene Aufstandsbewegung richtet sich gegen Gouverneur Ulises Ruiz, dem Korruption und Repression vorgeworfen werden.

Nach teils bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen vor den Eingangstoren der Autonomen Universität Benito Juárez de Oaxaca, einer Bastion der APPO, mußten die Polizisten trotz des massiven Einsatzes von Tränengas und Wasserwerfern am Donnerstag (2. November 2006) nachmittag fliehen. Die Volksversammlung sprach in einer ersten Bilanz in deutlicher Abweichung von den offiziellen Zahlen von 200 Verletzten auf ihrer Seite, darunter fünf Schwerverletzten. Die Polizei soll unter anderem in Häuser in der Umgebung der Universität eingedrungen sein, um die Bewohner festzunehmen.

Der Bundesminister für Öffentliche Sicherheit, Eduardo Medina Mora, erklärte zwar, es sei bei der Offensive nur um die Räumung der Barrikaden vor der Universität gegangen. tatsächlich zielte der massive Angriff der Polizei auf die Selbstverwaltung offenbar darauf, die Radiostation der Universität zu besetzen. Zu ihrem Schutz waren die Barrikaden vor dem Universitätsgelände in den vergangenen Tagen verstärkt worden. »Radio Universidad« informiert durchgehend über die Auseinandersetzungen und ist zugleich wichtiges Kommunika­tionsmittel zwischen Führung und Basis der aufständischen Bevölkerung.

Beim erbitterten Widerstand gegen die Polizei bildete die Bevölkerung Menschenketten vor den Wasserwerfern. Die APPO-Anhänger wehrten sich mit Steinen, Stöcken, Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails.

Universitätsrektor Francisco Martínez Neri verwahrte sich in einer vom Rundfunk übertragenen Rede gegen jegliche Verletzung der universitären Autonomie durch die Polizeikräfte und forderte die Studenten auf, diese Autonomie zu verteidigen. Nach mexikanischem Recht darf die Polizei nur dann auf das Universitätsgelände, wenn der Rektor seine Zustimmung dazu gegeben hat. Minister Medina Mora erklärte nach der selbst von einigen regierungsnahen Medien als »Niederlage« der Bundespolizei bezeichneten Auseinandersetzung, die Regierung beabsichtige in einer Kombination aus »Aktionen und Dialog«, den Frieden in Oaxaca wiederherzustellen. Flavio Sosa, bekanntester Vertreter der APPO-Führung, bezeichnete den Sieg über die zum Teil schwerbewaffneten Polizisten als Beweis für die Kraft der Bewegung. Er empfahl der Bundespolizei den Rückzug aus Oaxaca. Die APPO rief dazu auf, in der gesamten Stadt so viele Barrikaden wie möglich zu errichten, aber jegliche Akte von Vandalismus zu vermeiden. Für Sonntag (5. Nov.) ist eine Großdemonstration angesetzt.

* Aus: junge Welt, 4. November 2006


"Jede Barrikade ist ein politischer Raum"

Bevölkerung von Oaxaca befürchtet weitere Interventionen der mexikanischen Polizei. Ein Gespräch mit Joel Aquino **

Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca? Der in der Bevölkerung verhaßte Gouverneur denkt nicht an Rücktritt und hat stattdessen die Bundespolizei einmarschieren lassen.

Es war zu erwarten, daß sich die Lage zuspitzt. Die Bevölkerung Oaxacas ist aufgewacht und hat die Angst vor dem elitären System verloren, an dessen Spitze Gouverneur Ulises Ruiz steht. Den Menschen in Oaxaca ist übel mitgespielt worden, insbesondere auch den indigenen Gemeinden: Da gibt es Unterdrückung, Morde, Verfolgung. Es gibt aber auch einen Widerstand, der seit 30 Jahren bewußt und organisiert geführt wird. Es ist ein Glück für uns alle, daß Bewußtsein und Widerstand so stark gewachsen sind.

Nur in Oaxaca-Stadt?

Widerstand gibt es in allen Regionen, in Hunderten von Gemeinden. Dörfer, die nicht an den zentralen Aktionen der Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) teilnehmen können, schicken beispielsweise Lebensmittel. Auch die nach herkömmlichen Gebräuchen gewählten Funktionsträger in den Gemeinden der Ureinwohner zeigen sich mit dem Kampf solidarisch. Das ist wichtig, weil die Ureinwohnergemeinden neben den staatlichen Strukturen bis heute diese traditionellen Strukturen beibehalten haben. In der Sierra Norte, aus der ich stamme, gibt es drei lokale Rundfunksender. Sie alle unterstützen den sozialen Widerstand in Oaxaca. Sie informieren Schritt für Schritt über das, was in der Hauptstadt des Bundesstaates passiert.

Welche Perspektive sehen Sie für den aktuellen Konflikt?

Wir stehen in Oaxaca im Augenblick vor wichtigen Entscheidungen. Zur selben Zeit, in der Widerstand geleistet wird, wird daran gearbeitet, die Gesellschaft neu zu formieren, ein neues Institutionensystem zu bilden, ein neues Rechtssystem. Die Bundespolizei ist mit Gewalt ins Zentrum der Stadt eingedrungen, auf den zentralen Platz. Die Aktionsformen der APPO haben jedoch neue Spielräume geschaffen. Es gibt Tausende Barrikaden in der Stadt. Jede von ihnen ist nicht etwa ein Sammelpunkt von Kriminellen, wie das auch in der internationalen Presse mitunter dargestellt wird, sondern ein politischer Raum. Dort finden Sie alle möglichen Leute: Arbeiter, Dichter, Künstler, Soziologen, Studenten, Hausfrauen. Jede Barrikade steht für die Zusammensetzung der Gesellschaft Oaxacas. Deswegen war die friedliche Gegenwehr über so viele Monate und Wochen möglich.

Ist denn auch Widerstand gegen die Bundespolizei möglich?

Die Bundespolizei ist zweifellos in der Übermacht. Mehrere Menschen wurden ermordet, über 60 wurden verhaftet oder sind verschwunden. Studenten der Nationalen Autonomen Universität aus Mexiko-Stadt, die aus Solidarität nach Oaxaca-Stadt kamen, wurden brutal niedergeknüppelt. All das ist dokumentiert – trotzdem leugnet die Bundesregierung weiterhin die Morde und Verhaftungen und die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch die Bundespolizei.

Wird Gouverneur Ruiz zurücktreten?

Seine Tage in Oaxaca sind gezählt. Wir sind uns dessen bewußt, daß es unter seiner Federführung in den nächsten Tagen blutige Polizeiaktionen geben kann. Das haben die Ereignisse am Freitag vor einer Woche gezeigt, als bekannte Mitglieder seiner Partei, der »Partei der Institutionellen Revolution« (PRI), die Aktivisten der APPO angegriffen und den US-Journalisten Bradley Will ermordet haben. Dieser paramilitärische Angriff hat der Bundesregierung den Anlaß für die Entsendung der Polizeitruppen geboten.

Interview: Martha Villavicencio/Bearbeitung: Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt

** Der Mexikaner Joel Aquino gehört dem Stamm der Zapoteken an und kommt aus der Gemeinde Yalálag im Bundesstaat Oaxaca. Aquino ist seit Jahren in der Organisation Uken ke Uken (»Das Unmögliche möglich machen«) aktiv und vor allem als Kämpfer für die Rechte der eingeborenen Bevölkerung aufgetreten. Unter Gouverneur Ulises Ruiz und dessen Vorgänger wurde er längere Zeit unter falscher Anklage inhaftiert. Aus: junge Welt, 4. November 2006


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