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Lehrstück Oaxaca

Warum die gegen ihren Gouverneur rebellierende Bevölkerung aus Sicht der Herrschenden keinen Erfolg haben darf

Von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt *

Vor geraumer Zeit schlug Bertolt Brecht einer Regierung vor, sie möge erwägen, das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen Es hatte das Vertrauen der Oberen verscherzt. Ulises Ruiz Ortiz, der Gouverneur des südmexikanischen Bundesstaates Oaxaca und Mitglied der über Jahrzehnte wie eine Staatspartei agierenden Partei der Institutionellen Revolution (PRI), hat sich den Rat zu Herzen genommen. Obwohl die Menschen massenhaft die oppositionelle Volksversammlung der Bevölkerung Oaxacas (APPO) unterstützten und mehrfach zu Hunderttausenden gegen ihn auf die Straße gingen, entschied er sich, diese Realität einfach zu ignorieren. Auch acht Monate nach den anfänglich durch einen Lehrerstreik ausgelösten Protesten klammert er sich an sein Amt. Mit Hilfe der konservativen Zentralregierung in Mexiko-Stadt, der von ihr entsendeten militarisierten Bundespolizei (PFP) und teils brutalster Unterdrückung wurde die Situation aus offizieller Sicht inzwischen weitgehend befriedet. Nun redet der Gouverneur von Reformen und Versöhnung. Monatelang von der Bildfläche verschwunden, läßt er sich wieder regelmäßig demonstrativ in der Öffentlichkeit sehen. Stets begleitet von einem großen, oft in Zivil auftretenden Sicherheitsaufgebot und reichlich Claqueuren. Sind jedoch die von der angesehenen mexikanischen Wochenzeitschrift Proceso zitierten Umfragen richtig, wünscht sich die große Mehrheit in Oaxaca alles Mögliche, nur keinen Gouverneur Ulises Ruiz an der Regierung. Bereits bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juli 2006 hatten sich die Wähler massenhaft von der PRI abgewendet.

»Schmutziger Krieg«

Bei einem Mindestmaß politischer Hygiene hätte der »Tyrann« oder der »Verrückte«, wie ihn seine Gegner nennen, längst zurücktreten bzw. hinter Gittern sitzen müssen. Im direkten Zusammenhang mit dem Konflikt hat es bisher mindestens 23 Tote, korrekter: Mordopfer, gegeben. In fast allen Fällen deuten die Spuren eindeutig auf die Schergen des Gouverneurs hin. Der Ende Oktober erschossene US-Kameramann Bradley Will, der seine mutmaßlichen Mörder von der PRI noch filmte, ist dafür das international bekannteste Beispiel. Lehrer und APPO-Sympathisanten, die das gleiche Schicksal an einer Barrikade, beim Verlassen eines Versammlungslokals oder beim Wachestehen vor einem besetzten Radiosender traf, gehören außerhalb des Bundesstaates zu den überwiegend namenlosen Opfern. Die alte konservative Regierung unter Präsident Vicente Fox von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) hatte Ende Oktober 2006 mehr als 4500 Bundespolizisten nach Oaxaca entsandt. Als »neutrale« Kraft sollten sie »Ordnung und Frieden« wiederherstellen, so der damalige Innenminister Carlos Abascal. Doch von Anfang an stellte die Polizei in der Praxis klar, daß ihr Auftrag ein anderer war: Unter dem Deckmantel der »Legalität« und mit dem »ganzen Gewicht des Gesetzes« sollte die APPO verfolgt werden, um den Sturz von Ulises Ruiz zu verhindern. Seit dem Amtsantritt der neuen PAN-Regierung unter Präsident Felipe Calderón am 1. Dezember hat sich daran nichts Wesentliches geändert.

Die Vorgänge um Oaxaca sind ein Lehrstück mexikanischer Realpolitik, und zwar ein schäbiges. Der Gouverneur von Colima, ein Parteifreund von Ulises Ruiz, sprach Anfang Januar in aller Offenheit aus, wovor sich die mexikanische Politikerklasse fürchtet: »Wenn wir ihn nicht weiter unterstützen, dann ist es ganz einfach, Demonstrationen wie in Oaxaca gegen uns zu inszenieren, um unsere Gouverneure abzusetzen und später den mexikanischen Präsidenten«. Damit dies nicht geschieht, wird versucht, »die APPO wie einen Terroristenverein und ihre zahlreichen Toten, Verhafteten und Verschwundenen als zufällige Opfer erscheinen zu lassen«, meint Carlos Beas von der in Oaxaca arbeitenden bäuerlich-indigenen Organisation Ucizoni. Der Konflikt im Bundesstaat habe »viel zum Verständnis beigetragen, wie die Justiz in Mexiko angewendet wird, ... wozu die Regierungsfunktionäre fähig sind, um ihre Interessen zu schützen.«

Bei aller durch Besetzungen von Radiostationen, Barrikadenbauten oder der Verteidigung der Universität in der sogenannten »Schlacht von Oaxaca« am 2. November gezeigten Militanz: Die etwa 350 in der APPO zusammengeschlossenen Gruppen und Organisationen unterschiedlichster Provenienz haben sich von Anfang an als friedliches Bündnis begriffen, das offen und nicht aus dem Untergrund heraus agiert. Die staatliche Verfolgung der Protestbewegung erinnert dagegen an die Jagd auf die klandestine Opposition im Mexiko der 1970er Jahre. Nicht ohne Grund verwendet der politische Analytiker Carlos Fazio im Zusammenhang mit Oaxaca die Begriffe »Staatsterrorismus« und »schmutziger Krieg«. Er unterstellt der Regierung die Absicht, »eine lähmende Angst in der gesamten Bevölkerung zu erzeugen. Eine Angst, die das gesellschaftspolitische Engagement der Mexikaner allgemein lähmen soll.« Eine Dynamik, die laut Fazio auf schweigende Mehrheiten setzt, die »nicht sensibel für die Leiden der Opfer der Repres­sion sind«. Die Methoden: Selektive Einkerkerung von Führungspersonen, willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen bzw. das »Verschwindenlassen« von Personen, Isolationshaft, systematischer Gebrauch der Folter, grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung einschließlich sexueller Übergriffe gegen Männer und Frauen.

Ulises Ruiz war für viele dieser Methoden seit seinem Amtsantritt am 1. Dezember 2004 berüchtigt. Spätestens seit der Schlacht von Oaxaca arbeiten die lokalen PRI-Behörden und die PAN-Bundesregierung Hand in Hand. Bei dieser Auseinandersetzung zeigte sich die ganze in der Bevölkerung gestaute Wut und das Widerstands­potential gegen die repressiven Kräfte. Angeblich wollte die Bundespolizei an besagtem 2.November nur die Barrikaden auf einer Hauptverkehrsstraße vor einem der Eingangstore zur Autonomen Universität Benito Juárez in Oaxaca-Stadt räumen. Vermutlich in der Absicht, mit einer gezielten Provokation den Vorwand für ein Einrücken auf den Unicampus zu finden. Dort befand sich mit dem besetzten Radio Universidad das zu diesem Zeitpunkt wichtigste verbliebene Kommunikationsmittel der rebellischen Bewegung. Nach einer knapp siebenstündigen Straßenschlacht mußten die Sicherheitskräfte trotz des Einsatzes von Tränengas und Wasserwerfern den eher überstürzten als geordneten Rückzug antreten. Über ihr Radio hatten die Verteidiger der Universität aufgerufen, in der unter chronischem Wassermangel leidenden Stadt alle Tankwagen festzuhalten, die die Wasserwerfer hätten versorgen können.

»Wir haben die Angst verloren«, war am 2. November ein viel gehörter Satz. Beim erbitterten Widerstand gegen die Polizei bildeten sich Menschenketten vor den gepanzerten Fahrzeugen. Die APPO-Anhänger wehrten sich aber auch mit Steinen, Stöcken, Feuerwerkskörpern, Barrikaden aus umgestürzten Autos und Molotow-Cocktails. Gleichzeitig warfen sie die Tränengasbomben zurück, die die Bundeseinheiten aus Helikoptern ständig über der Universität und den umliegenden Straßen abschossen. Die Gegenwehr speiste sich stark aus der Bevölkerung der angrenzenden Viertel sowie weiteren, aus entlegeneren Stadtteilen herbeigeeilten Menschen. Universitätsrektor Francisco Martínez Neri hielt über Radio eine bewegende Rede, in der er sich gegen jegliche Verletzung der universitären Autonomie durch die Polizeikräfte stellte und die Studenten aufforderte, diese Autonomie zu verteidigen. Nur der Einsatz von Schußwaffen und damit ein Massaker hätten wohl an diesem Tag den Auseinandersetzungen eine Wende gegeben. Es gab zahlreiche Verhaftungen, viele Häuser in der Universitätsumgebung wurden durchsucht. Selbst einige regierungsnahe Medien bezeichneten das Ende der »Schlacht« als »Niederlage« der Bundespolizei. Die dramatischen Ereignisse wurden während des gesamten Tages direkt von Radio Universidad übertragen. Ohne dieses Medium hätte der Widerstand nicht so effektiv organisiert werden können. Per Livestreaming konnten die Geschehnisse andernorts über das Internet verfolgt werden. Als die Website von Radio Universidad gestört wurde, sprangen alternative Sender solidarisch bei der Internetübertragung ein. Die sich heute wegen eines Haftbefehls versteckt haltende Ärztin und Unidozentin Berta Muñoz wurde mit ihren Sendungen in Radio Universidad zu einer Ikone des Widerstands. Rückblickend sagt sie: »Dieses Phänomen der Bevölkerungsbeteiligung in Oaxaca werden Soziologen und Politologen lange untersuchen müssen. Es ist der über Jahre angestaute Überdruß. Die Menschen mußten über lange Zeit Regierungen ertragen, die Schindluder trieben. Lügende Autoritäten. Dazu Armut, Beraubung. Die Regierung hat sich verkalkuliert.« Wie immer der Volksaufstand gegen den Gouverneur und die staatliche Gewalt am Ende ausgehen mag, unter den vielen Ereignissen wird die Schlacht von Oaxaca im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bleiben.

Repression in Etappen

Danach gingen die Sicherheitskräfte schrittweise vor. Barrikade um Barrikade wurde beseitigt. Mehr als bereitwillig führte die Bundespolizei überwiegend von lokalen Richtern aufgrund fragwürdiger Anklagepunkte ausgestellte Haftbefehle aus. Weitere Hausdurchsuchungen und Straßenkontrollen schafften ein Klima der ständigen Angst und Bedrohung. Dazu ließ die Bundespolizei die dem Gouverneur zugerechneten paramilitärischen Kommandos gewähren. Praktisch unter den Augen der PFP verbrannten solche Kommandos das – nach dem PFP-Einmarsch – vom Zócalo, dem Zentralplatz, in den Vorhof der Kirche Santo Domingo verlegte APPO-Camp und zündeten Tage später das Haus von Flavio Sosa, einem der herausragenden Köpfe der Volksversammlung Oaxacas, an. Als die Bundespolizei dagegen in einer ihrer wenigen Aktionen gegen örtliche Behörden ausgerechnet im Gebäude der Staatsanwaltschaft Oaxacas als gestohlen gemeldete Autos und Waffen fand, kamen die mutmaßlich Verantwortlichen nach wenigen Tagen Haft frei. Auch die unter dem Druck der Öffentlichkeit von Oaxacas Ermittlungsbehörden inhaftierten mutmaßlichen Mörder des US-Kameramanns Bradley Will sind inzwischen aufgrund »fehlender Beweise« längst wieder auf freiem Fuß.

Ende November fühlte sich der Staat offenbar stark genug für eine erneute massive Konfrontation. Ausgangspunkt war eine Massendemonstration, der sogenannte 7. Megamarsch der APPO am 25. November. Auf der friedlich beginnenden Demonstration wurden einmal mehr der Rücktritt von Ulises Ruiz sowie der Abzug der Bundespolizei gefordert. Im Anschluß an den Marsch sollte die PFP 48 Stunden lang auf dem Zócalo blockiert werden. Doch die Situation war bereits vorher eskaliert: Männer in Zivilkleidung schossen auf den Marsch, und die PFP griff Demonstranten an. Daraufhin wurden in einer mehrstündigen Auseinandersetzung Fahrzeuge und öffentliche Gebäude in Brand gesetzt. Es gab mehr als hundert Verletzte und 140 Verhaftungen noch am selben Tag. Zwar ist nicht ganz auszuschließen, das vor allem radikalisierte junge APPO-Mitglieder an der Brandstiftung beteiligt waren. Da sich jedoch mindestens neun der unmittelbar verhafteten Randalierer im nachhinein als PRI-Mitglieder herausstellten, spricht mehr für die APPO-These von eingeschleusten Provokateuren. Die am 25. November und den Folgetagen Verhafteten – darunter mehrere völlig Unbeteiligte – wurden wie Schwerstkriminelle behandelt und sind teilweise noch immer in Hochsicherheitsgefängnissen festgesetzt. Der Transport der meisten Häftlinge in Haftanstalten der nördlichen Bundesstaaten Tamaulipas und Nayarit verhinderte aufgrund der Distanz und der aufzubringenden Kosten in vielen Fällen Familienbesuche. Das alles und die spätere Rückverlegung nach Oaxaca sowie die grüppchenweise Freilassung der Mehrheit der Verhafteten gegen Kaution fanden unter juristisch äußerst fragwürdigen und undurchsichtigen Bedingungen statt. Eine Konstante dabei war und ist der Versuch, Gefangene, Familienangehörige und APPO-Anhänger gegeneinander auszuspielen.

Unklar ist die Zahl »verschwundener« Menschen. Die Angaben schwanken stark. Noch im Dezember wurden die Namen mehrerer Dutzend Personen genannt. Nach und nach kommen immer mehr von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen dokumentierte Details über die Behandlung der Gefangenen ans Licht. Jeder einzelne Punkt der Aufzählung von Carlos Fazio findet darin mehrfach seine konkrete Bestätigung. Zu denen, die am intensivsten Zeugenaussagen gesammelt haben, gehört das Oaxaca-Büro der Mexikanischen Menschenrechtsliga ­(LIMEDDH). Es verwundert wenig, daß die Justiz des Bundesstaates gegen die Vorsitzende der Organisation Yéssica Sánchez einen Haftbefehl wegen angeblicher Beteiligung an Aktionen gegen staatliche Einrichtungen ausgesprochen hat. Am 4. Dezember wurde Flavio Sosa zusammen mit seinem Bruder Horacio und zwei weiteren Personen nach einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt von der Bundespolizei verhaftet. Er und seine Mitstreiter waren in die Hauptstadt gekommen, um erste Verhandlungen mit dem neuen Personal im Innenministerium aufzunehmen. Gegen praktisch die gesamte Führung der APPO und der Lehrergewerkschaft von Oaxaca liegen Haftbefehle vor. Scheinheilig rät das Bundesinnenministerium dazu, vor Gericht einstweilige Verfügungen gegen die Vollstreckung zu erwirken.

Die Lehrergewerkschaft

Nach dem Prinzip des Teile und Herrsche haben sowohl Ulises Ruiz wie auch die Bundesregierung immer wieder versucht, einen Keil zwischen Lehrergewerkschaft und andere APPO-Organisationen zu treiben. Mit gewissem Erfolg. Nach mehreren Monaten ohne Gehaltszahlungen, Versprechungen aus Mexiko-Stadt und der Perspektive einer kompletten Streichung des Schuljahres 2006/2007 stimmte die Mehrheit der etwa 70 000 Lehrer Ende Oktober für die Rückkehr in die Unterrichtsräume und setzte dies in den Folgewochen schrittweise um. Obwohl die Lehrerbasis nach wie vor weitgehend hinter den Protesten gegen den Gouverneur stehen dürfte, bedeutete dies rein zahlenmäßig eine starke Schwächung der APPO. Denn vielfach waren es die streikenden Lehrerkollegien aus dem gesamten Bundesstaat, die in Oaxaca-Stadt über Monate zusammen mit Stadtteilbewohnern an den nächtlichen Barrikaden ausharrten und viele Organisa­tionsaufgaben übernahmen. Im Dezember brach der Gewerkschaftsvorsitzende Enrique Rueda Pacheco offen mit der APPO. Gegenseitige Vorwürfe, die Bewegung verraten zu haben, ließen nicht lange auf sich warten. Nachdem die Sicherheitskräfte eine Zeitlang in Schulen nach einzelnen, besonders »rebellischen« Pädagogen gesucht hatten, startete der korrupte und der konservativen Regierung nahestehende Dachverband der im ganzen Land nach Sektionen aufgeteilten Lehrergewerkschaften vor einigen Wochen eine neue Offensive. In Oaxaca soll nun mit offiziellem Segen eine »Sektion 59« den kämpferischen Kollegen der Sektion die Mitglieder abwerben.

Was gewinnt die PAN?

Die Zwischenbilanz der Aufstandsbekämpfung sieht für Landes- und Bundesregierung auf den ersten Blick befriedigend aus: Keine besetzten Medien mehr, keine Barrikaden, keine Massendemonstrationen. Anfang Dezember zog die PFP ihre Einheiten weitgehend aus dem Bundesstaat ab. Die strategischen Punkte werden nun wieder von verschiedenen lokalen Polizeieinheiten kontrolliert. Gouverneur Ruiz bedankt sich »für die Anstrengungen der Bundeskräfte sowie für die Unterstützung der Bundesregierung, um zur Rückgewinnung des Stadtzentrums beizutragen und der Hauptstadt den Frieden zurückzugeben«.

Der neue Präsident Calderón und seine PAN sind zuletzt immer wieder als Geiseln der Partei der Institutionellen Revolution bezeichnet worden. Das ist nur teilweise richtig. Der schwach legitimierte Calderón brauchte am 1. Dezember die Anwesenheit der PRI im mexikanischen Kongreß, damit bei seinem von Tumulten begleiteten Regierungsantritt das notwendige Quorum an Abgeordneten zusammen kam. Im Gegenzug sicherte der Einmarsch der Bundespolizei in Oaxaca Ulises Ruiz das politische Überleben. Der politische Deal widersprach aber nie wirklich der PAN-Linie. Abraham González Uyeda, der neue Staatssekretär im Innenministe­rium, erklärte Anfang Dezember: »Wir wollen weniger Bewegungen, die den sozialen Frieden stören«. Der neue Innenminister Francisco Ramirez Acuña hatte schon im Mai 2004 überregionale Bekanntheit erlangt: Vormals Gouverneur des Bundesstaates Jalisco, ließ er beim Gipfeltreffen zwischen den Staatschefs der EU und Lateinamerikas in der Stadt Guadalajara Demonstranten zusammenprügeln. Anschließend mokierte er sich über Foltervorwürfe der staatlichen Menschenrechtskommission und unabhängiger Menschenrechtsorganisationen.

Nach wie vor hätte der mexikanische Senat mit einer Stimmenmehrheit von PAN und dem linksgemäßigten Breiten Fortschrittlichen Bündnis (FAP) die Möglichkeit, den Weg für eine Absetzung von Ulises Ruiz freimachen. Die PAN ist in einer relativ bequemen Verhandlungsposition. Vom FAP, der Parteienallianz hinter Andrés Manuel López Obrador, dem Gegenspieler Calderóns bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen, könnte sie die bisher verweigerte Anerkennung des Präsidenten als Gegenleistung einfordern. Der Zorn der PRI wäre aller Voraussicht nach nur vorübergehend, denn im Grunde ist der Gouverneur eine Belastung für die Partei. Da Ruiz mit Hilfe der Bundesregierung inzwischen mehr als zwei Jahre amtiert, könnte die PRI bei Absetzung oder Rücktritt laut Gesetz einen Nachfolger aus den eigenen Reihen ernennen, statt sich Neuwahlen in Oaxaca stellen zu müssen.

Bleibender Widerstand der APPO

Die APPO befindet sich in der Auseinandersetzung mit der geballten Staatsmacht in einer äußert schwierigen Situation. Ende November gab sie mit der Barrikade Cinco Señores vor dem Universitätsgelände das letzte sichtbare bedeutende Symbol des monatelangen Widerstandes auf. Ohne diesen Schutz wurde auch Radio Universidad offiziell an die Uni-Behörden übergeben. Auf der anderen Seite ist die breite Bewegung mit ihrer weitgehend horizontalen Struktur nicht so einfach zu enthaupten. Der in der ersten Novemberhälfte gewählte 200köpfige APPO-Rat tritt zwar unter den gegebenen Umständen nie vollständig zusammen, trifft sich jedoch inzwischen wieder regelmäßig. Trotz aller Behinderungen durch die Polizei finden in Oaxaca ständig kleine Demonstrationen und von der APPO organisierte Veranstaltungen statt. Viele indigene Gruppierungen mit Einfluß in den ländlichen Gebieten sind Mitglied der APPO. Sie bauen in zahlreichen Gemeinden Selbstverwaltungsstrukturen jenseits der Regierungsautorität auf. Selbst in Chalcatongo, der Herkunftsregion des Gouverneurs, wandte sich die Mehrheit der Gemeindeautoritäten gegen ihn. Anfang dieses Monats kündigten 20 von 36 Gemeinden aus den Landkreisen Cuxtlahuaca, Putla de Guerrero, Tlaxiaco und Constancia del Rosario die Gründung des gemeinsamen autonomen Landkreises San Juan Copala mit einem Ältestenrat an. Explizit bezeichneten sie sich als Mitglieder der APPO. In den kommenden Wochen sollen die Proteste nach den Vorstellungen der Volksversammlung wieder Massencharakter annehmen. Es ist nicht sicher, daß dies gelingt. Aber vielleicht hat der in einem Vorort von Oaxaca-Stadt lebende Intellektuelle Gustavo Esteva recht, wenn er schreibt: »Die wirkliche APPO, diese in vielfachen Ausdrucksformen organisierte Bevölkerung, scheint nach wie vor voller Energie. Trotz des Staatsterrorismus, der Grauen produzierte, das erst in Ansätzen sichtbar wird, unternehmen die Menschen unerwartete und vielversprechende Initiativen und erzielen Fortschritte bei ihrer Reorganisierung.«

* Aus: junge Welt, 25. Januar 2007


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