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Ausstand an der Uni

Streit um Bildungsreform in Mexiko: Studierende zeigen sich solidarisch mit Lehrerstreik. Protest gegen gewaltsame Räumung eines Camps vor Regierungspalast

Von Haydée Gutiérrez, Mexiko-Stadt *

Um 11 Uhr sind die Gänge der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Nationalen Autonomen Universität Mexikos, kurz ­UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México), der größten Hochschule des Landes, noch ruhig und mäßig geschäftig. Studierende holen sich zur Stärkung Kaffee vom Stand, der die Bohnen aus einer Zapatisten-Kommune bezieht und so Projekte vor Ort in Chiapas unterstützt. Andere bieten wie immer Süßigkeiten und Essen für die Pause an. Gespräche. Lachen. Ein wenig mehr Eile für die, die zu spät kommen.

Dieses harmonische Bild war nach den Versammlungen an vielen Fakultäten am Dienstag nicht zu erwarten. Schließlich wurden dort Besetzungen und Schließungen der Einrichtungen besprochen. Schon am Mittwoch hat sich die politikwissenschaftliche Fakultät mit den Lehrern solidarisiert, deren Protestcamp im Zentrum von Mexiko-Stadt am Freitag vergangener Woche gewaltsam geräumt worden war, und die Arbeit bis heute eingestellt. Über das Internet teilt die Studierendenbewegung »Yo Soy 132« an der philosophischen Fakultät, daß auch dort ein Streik beschlossen sei – etwas voreilig, wie sich herausstellt. Vor dem Hauptgebäude diskutiert jetzt eine Menge aufgebrachter Studierender über den Ausstand, während drinnen eine kleine Gruppe mit Megafon lautstark Unterschriften sammelt gegen die zeitweise Schließung. Es kommt zu Schreiereien beider Seiten. Ein Student meint, daß noch Blut fließen wird, wenn es so weiter gehe. Ein anderer beklagt ebenfalls die Spaltung: »Es ist, als ob sich ein Skorpion selbst stechen würde.«

Komplexe Situation

Die Situation ist komplex, die Unsicherheit unter den Studierenden groß. Die streikenden Lehrer campierten mehrere Wochen lang auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast, um die bevorstehende Bildungsreform doch noch zu Fall zu bringen. Die Regierung von Staatschef Enrique Peña Nieto (PRI) will mit der INEE eine neue Institution schaffen, die die Qualität des Unterrichts kontrollieren bzw. evaluieren soll. Die Überprüfungen sollen nachhaltig die Qualität der Bildung steigern. Eine kleine Gewerkschaft der Lehrer, die CNTE, widersetzt sich dem Reformvorhaben und organisiert die Streiks, an denen sich aber auch nicht gewerkschaftlich organisierte Lehrer beteiligen. Sie bemängeln unter anderem die mangelhafte Ausstattung der Schulen, mit der kein hochwertiger Unterricht möglich sei. In armen Regionen sind zum Teil nicht einmal Tafeln geschweige denn Klassenzimmer vorhanden. Zunächst hatte auch die große Lehrergewerkschaft SNTE die Reform abgelehnt. Nachdem ihre Vorsitzende Elba Esther Gordillo Morales wegen Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden, zeigte sich die SNTE mit einem Mal ganz reformbegeistert.

Unter den Studenten ist die Kritik groß ob der Korruption in der Lehrergewerkschaft. Es ist die Rede von Plätzen, die an Kinder und andere Verwandte von Lehrern vergeben werden, auch wenn diese eine mangelhafte oder keine Ausbildung haben. Ebenso von zugeschobenen Diplomen. Die jahrelange Veruntreuung der Gelder durch Gordillo Morales wurde erst aufgedeckt, als diese nicht mehr regierungskonform handelte. So wird der Kampf um eine bessere Bildung zum Spielball der Macht zwischen Gewerkschaft und Regierung. Das rückt den Protest der Lehrer in ein schlechtes Licht, obwohl diese starke Argumente ob der traurigen Realität an einigen Schulen haben.

Das brutale Vorgehen der Polizei gegen das Protestcamp empört gleichwohl viele. Die Lehrer wurden mit Wasserwerfern, Knüppeln und Tränengas geräumt, um vor dem Nationalfeiertag Platz für die Feiernden zu schaffen und dem Präsidenten, der sich traditionell auf dem Balkon zeigt und die Nation hochleben läßt, einen schönen Anblick zu bieten.

Eltern sollen zahlen

Ein Stück weiter am Campus entlang steht eine kleine Menge vor der juristischen Fakultät, die normalerweise nicht für Streiks bekannt ist. Eine Studentin schildert die Situation an Schulen in ärmeren Regionen Mexikos. Dort sollen jetzt Eltern eine Art Schulgeld zahlen. Es geht um etwa 30 Euro. Für Menschen in Großstädten, die Arbeit haben, ist das normalerweise kein Problem. In kleinen Dörfern in verarmten Regionen können Eltern das Geld einfach nicht aufbringen. Die Schulen dort können und sollen nicht zusätzlich durch die Eltern finanziert werden, fordert die Kommilitonin. Schließlich habe die Regierung kostenlose Bildung an öffentlichen Schulen versprochen.

Einige erinnern sich an die Auseinandersetzungen an der UNAM im Jahr 1999. Damals war die Universität mehrere Monate lang besetzt. Der Rektor, Francisco Barnés de Castro, wollte die Semesterbeiträge erhöhen, was eine Welle der Empörung auslöste und zu einem fast einjährigen, erfolgreichen Kampf der Studierenden führte. Entgegen einiger Gerüchte fordern die Studierenden heute einen zeitlich befristeten, nur 48 Stunden andauernden Ausstand. Auch andere Universitäten in Mexiko-Stadt beteiligen sich an den Protesten, meist durch Informationsveranstaltungen während der Vorlesungszeit. Oder aber die Studierenden beteiligen sich direkt an den Demonstrationen der Lehrer.

In jedem Fall erblüht das politische Leben auf dem Campus. Überall finden politische Diskussionen statt. Mexikos Studenten wollen Veränderung.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. September 2013


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