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"Sie hatten ihm das Gesicht abgeschnitten"

In Mexiko sind 43 Studenten »verschwunden«. Wer dagegen protestiert, bekommt es mit der Regierung zu tun. Ein Gespräch mit Arafat Rosas *


Arafat Rosas lebt in Mexiko und ist Mitglied der antikapitalistischen Organisation »Revolutionärer Studentischer Volksblock« (B.R.E.P.). In seiner Heimatstadt Puebla ist er in der Bewegung für die 43 »verschwundenen« Studenten aktiv.


In der mexikanischen Stadt Iguala sind im September nach politischen Protesten 43 Studenten verschwunden. Was waren die ersten Reaktionen, als das bekannt wurde?

In meiner Heimatstadt Puebla haben wir zunächst eine Demonstration zusammengetrommelt und Gerechtigkeit für die zwei Getöteten gefordert. Die Studenten der »Pädagogischen Landschule« von Ayotzinapa waren ja in gekaperten Bussen unterwegs gewesen, dann wurden sie von der Polizei und der Drogenmafia angegriffen. Es wurde auf sie gefeuert, zwei waren auf der Stelle tot. Die anderen versuchten zu flüchten.

Die Studenten dieser Universität erfahren ständig Repression, deshalb ist es schon oft vorgekommen, dass »Verschwundene« sich einfach nur versteckt hatten. Anfangs hat man von 60 »Verschwundenen« und zwei Toten gesprochen, aber nicht in dem Sinne, wie wir heute davon reden. Wir dachten damals nämlich, dass sie lediglich untergetaucht seien. Im Laufe der darauffolgenden Tage sind tatsächlich 15 zurückgekommen, sie hatten sich im Wald versteckt.

Wann war klar, dass die anderen Studenten nicht mehr auftauchen würden?

In Puebla gibt es jedes Jahr am 2. Oktober eine Demonstration zum Gedenken an ein Massaker im Jahr 1968. Bei dieser Gelegenheit haben wir das Schicksal der 43 »Verschwundenen« in den Mittelpunkt gerückt. Es wurde gefordert, sie lebend zu finden und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Es gab bald im ganzen Land Demonstrationen, insbesondere in Guerrero. Dort wurde sogar das Kongressgebäude angezündet. In Mexiko-Stadt fanden 48stündige Streiks statt. An den Protesten beteiligen sich vor allem Lehrer, Studenten und politische Organisationen.

Wie sehen Sie die Konsequenzen, die die Regierung aktuell aus den Ereignissen zieht?

Die Regierung hat ebenfalls die Rückkehr der Studenten verlangt – so, als ob sie nichts damit zu tun hätte. In der Praxis begann sie aber, gegen die Proteste vorzugehen, bei denen genau das gefordert wurde. Zwei andere Aktivisten und ich wurden z. B. von einer Zeitung beschuldigt, wir hätten Verbindungen zur Hochschule von Ayotzinapa. Damit wurde suggeriert, wir hätten auch Kontakte zur mexikanischen Guerilla. Am Tag, als die Meldung erschien, bin ich auf dem Weg zur Universität von Unbekannten verfolgt worden.

In Mexiko gibt es viele »Verschwundene«. Wieso erregt gerade dieser Fall solche Aufmerksamkeit?

Wegen der offensichtlichen Beteiligung der Polizei und ihrer Zusammenarbeit mit den Drogenbanden. Es sind mittlerweile viele Polizisten in Haft und einige aus der Bande »Guerreros Unidos«, die die Morde vermutlich ausgeführt haben. Mehrere Studenten sollen lebendig verbrannt worden sein, andere wurden wohl erschossen. Das geht aus Aussagen der mutmaßlichen Täter gegenüber der Kriminalpolizei hervor. Es sind inzwischen viele Gräber entdeckt worden, dennoch gibt es bis heute keine offizielle Bestätigung, dass die 43 Studenten wirklich gefunden wurden.

Die Leiche eines der anderen Studenten, die nach der Schießerei vor der Polizei weggerannt waren, wurde später auf einer Straße entdeckt. Die Mörder hatten ihm das Gesicht abgeschnitten und die Augen herausgetrennt, ihn offenbar lebendig gefoltert. Das passiert normalerweise bei Streitigkeiten zwischen Drogenbanden oder Paramilitärs.

In europäischen Medien liest man, die "Pädagogische Landschule" von Ayotzinapa sei eine linke Universität. Was heißt das konkret?

Diese Landschulen sind Ende der 1930er Jahre in der Amtszeit des sozialistischen Präsident Lazaro Cárdenas entstanden, um dort eine fortschrittliche Erziehung umzusetzen. Sie sind auf die Lehrerausbildung für arme Gemeinden ausgerichtet. An diesen Universitäten gibt es eine sehr kritische Studentenbewegung aus den unteren Bevölkerungsschichten. In den 60er Jahren spielte sie in den sozialen Protesten eine sehr wichtige Rolle. Die Schule von Ayotzinapa hat zwei wichtige Guerilleros hervorgebracht: Genaro Vázquez und Lucio Cabañas. Obwohl beide ermordet wurden, verschwanden ihre Organisationen nicht; deren soziale Basis sind diese Landschulen.

Interview: Lena Kreymann

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. November 2014

Mexikaner fordern Rückkehr der Verschleppten

Zehntausende bei Protestaktion **

Zehntausende Demonstranten sind am Mittwoch (Ortszeit) in Mexiko-Stadt auf die Straßen gegangen, um die sichere Rückkehr der 43 verschleppten Studenten zu fordern. »Sie nahmen sie lebend, lebend wollen wir sie zurück«, rief die Menge, die ein Banner mit den Bildern der 43 Lehramtsstudenten hochhielt. Die jungen Leute waren am 26. September im südlichen Bundesstaat Guerrero nach einer Spendensammelaktion in der Stadt Iguala von der Polizei gestoppt worden. Anschließend wurden sie offenbar einer mit der Polizei verbündeten Drogenbande übergeben.

Am Dienstag wurden der frühere Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau, die als Drahtzieher des Verbrechens gelten, nach sechswöchiger Flucht in Mexiko-Stadt festgenommen. José Luis Abarca und seine Frau María de Los Ángeles Pineda waren nach dem Verschwinden der Studenten abgetaucht. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass Abarca das Vorgehen gegen die Studenten anordnete, um zu verhindern, dass sie am nächsten Tag eine Rede seiner Frau mit Protesten stören. Das Bürgermeisterpaar soll Verbindungen zur Drogenbande Guerrero Unidos unterhalten, die verdächtigt wird, die verschleppten Studenten ermordet zu haben.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 7. November 2014




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