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Niemandsland am Dnjestr

Europas inexistente Republik an der Schnittstelle zwischen Ost und West

Von Hannes Hofbauer, Tiraspol*

Die im Jahr 2000 geprägten Münzen ziert ein Ährenkranz um Hammer & Sichel unter rotem Stern, die Währung nennt sich Rubel, auf der rot-grün-rot gestreiften Staatsflagge prangen im linken oberen Eck die proletarischen Symbole der Sowjetzeit; die Hauptstadt heißt Tiraspol, der Präsident Igor Smirnow. Mitten in Europa, wenn man einmal die geographische und nicht die politische Bezeichnung gelten läßt, hat am 2. September 2005 ein Land seinen 15. Geburtstag gefeiert, das von keinem anderen Staat der Welt anerkannt ist: PMR, Prednjestrovskaja Moldavskaja Respublika, die Moldawische Dnjestrepublik, bekannt auch als: Transnistrien.

Die oft nur wenige Kilometer breite Republik erstreckt sich über 200 Kilometer in Nord-Süd-Richtung. Von den 650000 Menschen, die zirka zu je 30 Prozent russischer, ukrainischer und moldawischer Abstammung sind, leben 180000 in der Hauptstadt Tiraspol. Die fehlende Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit bringt es mit sich, daß Transnistrien offiziell als Teil der Republik Moldova gilt, einem – ohne PMR – 3,5 Millionen Einwohner zählenden Kleinstaat. Noch aus den Zeiten des Sezessionskrieges in den Jahren 1990 bis 1992 stammt eine innige Feindschaft der beiden Landesteile. Die internationale Isolation des transnistrischen Teils, die u.a. in der Erteilung von Einreiseverboten für die politischen Führer in die EU und die USA zum Ausdruck kommt, geht parallel mit einer Dämonisierung des Landes durch westliche Politik und Medien. Umgekehrt steht die russische und – zum großen Teil – auch die ukrainische Öffentlichkeit zu den Unabhängigkeitbestrebungen der transnistrischen Führung. Die lokale Führung in Tiraspol hat es seit über 15 Jahren verstanden, trotz und wegen ihrer Spielballfunktion zwischen West und Ost zu überleben. Ein Lokalaugenschein in Transnistrien straft jedenfalls jene Lügen, die meinen, ein offiziell nicht anerkannter Staat könnte nicht überleben.

Arbeiterrevolte zur Unabhängigkeit

Am Anfang stand der Generalstreik. Für den 16. August 1989 rief die kurz davor gegründete »Union der Arbeiterkollektive« zum Ausstand, der in der gesamten transnistrischen Industrie, dem Herzstück der moldawischen Wirtschaft, befolgt wurde; ab 21. August standen die Räder in den Fabriken von Tiraspol, Benderi, Dubossary und Rybniza still, selbst in Chisinau, das damals noch Kischinjow hieß, zeigten die Arbeiter ihre Macht.

Es war ein politischer Streik. Nicht um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen ging es, auch nicht um längst notwendige Investitionen in die heruntergekommenen Staatsbetriebe; das transnistrische Proletariat protestierte mit der Arbeitsniederlegung gegen die Forderungen der »Volksfront«. Diese rumänisch-nationale Organisation war gerade im Begriff, die Trennung Moldawiens von der Sowjetunion zu bewerkstelligen.

Der Reihe nach: Am 27. August 1989 versammelten sich im Zentrum von Kischinjow über eine halbe Million Menschen und forderten die Trennung der kleinen Republik Moldawien von der UdSSR. Neben rumänisch-nationalen Losungen waren auch erste russenfeindliche Slogans zu hören. Später sollten die Sprüche immer haßerfüllter werden: »Die Russen über den Dnjestr, die Juden in den Dnjestr«, war eine jener Aufforderungen, an die heute niemand mehr in Chisinau erinnert werden will.

In Tiraspol ging in jenen Tagen die Angst um. Anders als in Moldawien, wo 65 Prozent der Bevölkerung rumänischstämmig sind, leben östlich des Dnjestr mehrheitlich Slawen. Diese fürchteten nun die geplante und dann auch durchgeführte Rumänisierung. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung war ein neues Sprachengesetz, das Moldawisch zur alleinigen Amtssprache erklärte. Die gleichzeitig gesetzlich verabschiedete Latinisierung der Schreibweise machte de facto Rumänisch daraus.

In zwei rasch organisierten Volksabstimmungen in Rybniza und Tiraspol sprachen sich zur Jahreswende 1989/1990 über 90 Prozent der transnistrischen Teilnehmer für eine unabhängige »Sowjetrepublik Transnistrien« aus. Ein Jahr später, am 17. März 1991, nutzten die Transnistrier erneut die Chance, im Zuge des von Michail Gorbatschow betriebenen Unionsreferendums ihre Solidarität mit der Sowjetunion zum Ausdruck zu bringen. Die russischsprachige bzw. die russifizierte Bevölkerung jenseits des Dnjestr war offensichtlich bereit, sich gegen den Zusammenbruch der Sowjetunion zu stellen, der für viele nicht nur eine soziale Katastrophe bedeutete, sondern auch – über die Frage der Rumänisierung Moldawiens – eine nationale Bedrohung darstellte, die die bisherige persönliche Lebensweise in Frage stellte. Wer, wie viele Arbeiter in den zahlreichen Sowjetfabriken des industrialisierten Transnistriens, Russe war, der mag unter anti-moldawischen Losungen für ein multiethnisches Transnistrien gekämpft haben und gleichzeitig großrussischem Chauvinismus nicht abhold gewesen sein.

Aus den alten Fabriken heraus etablierte sich eine neue Kraft, die das Alte bewahren wollte. Arbeiterkollektive gingen daran, die politische Führung der Kommunistischen Partei aus ihren Ämtern zu vertreiben. »Wir erlebten hier einen wahrhaften Aufstand gegen die Parteiführung«, erzählt Ilja Galinski, Dekan der Historischen Fakultät der Universität Tiraspol. »Der erste Sekretär des Tiraspoler Sowjet mußte unter dem Druck des Streiks zurücktreten.« An die Macht kamen Betriebsdirektoren und gewöhnliche Arbeiter, die es satt hatten, von Bürokraten gegängelt zu werden. Auslöser mag die geplante Rumänisierung gewesen sein, dahinter steckte jedoch auch sozialer Unmut über die Unfähigkeit der Apparatschiks.

Boris Mihailowitsch Stefan, einer der Gründer der »Union der Arbeiterkollektive« und rechte Hand von Igor Smirnow, erzählt über die entscheidenden Wochen und Monate zwischen August 1989 und September 1990: »Die Regierung der Moldawischen SSR konnte und wollte die rumänischen Nationalisten der ›Volksfront‹ nicht kontrollieren. Also schützten unsere Arbeiterkollektive die Rechte der Bevölkerung.« Es waren die Betriebsdirektoren, die sich an die Spitze der Bewegung stellten. Der spätere Präsident Igor Smirnow leitete das Arbeitskollektiv von »Elektromasch«, einem führenden Kombinat der Region, das elektrische Maschinen aller Art herstellt. »400 Betriebe haben sich an unserem Streik beteiligt«, fährt Boris Mihailowitsch Stefan fort. »Im August 1989 nahmen fast 30 000 Arbeiter an unserer Bewegung teil. Wir gründeten republikanische Streikkomitees nicht nur in Transnistrien, sondern auch auf der anderen Seite des Dnjestr.«

Am 23. Juni 1990 erklärte der Oberste Sowjet der Moldawischen SSR in Kischinjow/Chisinau, getrieben von der rumänisch-nationalen »Volksfront«, die Souveränität Moldawiens innerhalb der Sowjetunion. Als Reaktion darauf riefen im August 1990 die Führer der Gagausen, einem turk-stämmigen, christlichen Volk im Süden Moldawiens, die unabhängige Republik »Gagausien« aus. Am 2. September 1990 proklamierte der 2. Deputiertenkongreß des mittlerweile von der alten kommunistischen Garde weitgehend befreiten Tiraspoler Sowjets die transnistrische Unabhängigkeit. Die Lunten für kriegerische Konfrontationen waren gelegt.

Moldawien, am 17. August 1991 auch formal unabhängig geworden, erkennt die abtrünnigen Republiken »Gagausien« und »Transnistrien« nicht an. Rasch formierte rumänisch-nationale Sondereinheiten, unter ihnen die berüchtigte Truppe »Tiras-Tighana«, die schon im Namen den Anspruch auf Tiraspol erhob, marschierten über den Dnjestr, um die abtrünnigen Gebiete »heimzuholen«. Die ersten Toten sind bereits im November 1990 in der transnistrischen Stadt Dubossary zu beklagen; im August 1991 werden Führer von Arbeiterkollektiven verhaftet; im Dezember 1991 kommt es zu militärischen Konfrontationen. Zum wahren Krieg um Transnistrien artet die Konfrontation dann im Frühjahr 1992 aus. Bis zum August desselben Jahres werden knapp 1.000 Menschen dem Kampf zwischen moldawischen Gebietsansprüchen und transnistrischer Unabhängigkeit zum Opfer fallen. Heiß umkämpft ist vor allem die Stadt Benderi/Tighina am westlichen Dnjestr-Ufer. Auch dort haben sich Arbeiterkolletive von Moldawien losgesagt und sich Transnistrien angeschlossen.

Kampfentscheidend ist letztlich die 14. sowjetische Armee, die in Tiraspol stationiert ist und unter der Führung von General Alexander Lebed die Ansprüche der moldawisch-rumänischen Nationalisten zurückschlägt.

Die großen geopolitischen Spieler

Seither überschneiden sich links und rechts des Dnjestr zwei geopolitische Achsen in verquerer Weise. Die Republik Moldova setzt mit ihrem kommunistischen Präsidenten Wladimir Woronin, der freilich innenpolitisch von rumänisch-nationalistischer Seite unter Druck steht, auf eine Kooperation mit EU-Europa und NATO-USA. Wirtschaftlich ist das kleine Moldawien allerdings im höchsten Maße von Rußland abhängig. So kommen fast 90 Prozent der Energielieferungen aus dem Osten, Öl und Gas aus Rußland sowie Elektrizität aus Transnistrien. Dieses wiederum hat mit seiner Führung um Igor Smirnow gar keine andere geopolitische Option, als sich mit Moskau gutzustellen. Immerhin lagern inoffiziellen Schätzungen zufolge 40000 Tonnen sowjetisches Kriegsmaterial auf dem Territorium der kleinen PMR. Nachdem ein guter Teil der früher sowjetischen und jetzt russischen Soldaten abgezogen ist, schrumpfte ihre Zahl auf 2000, die die Waffenlager überwachen.

Die Überschneidung der geopolitischen Interessen von West und Ost äußert sich im politischen Alltag idealtypisch in folgender Weise: Während die EU und eine immer stärker unter westlicher Dominanz stehende OSZE im Gleichklang mit der Republik Moldova Tiraspols Legitimität nicht anerkennen bzw. untergraben, übt Rußland in rhythmischen Abständen wirtschaftlichen Druck auf Chisinau aus.

So erhöhte Moskau unmittelbar nach den moldawischen Parlamentswahlen im März 2005 die Preise für Öl und Gas auf Weltmarktniveau und verfügte kurz darauf einen Importstopp für moldawische Landwirtschaftsprodukte (außer Alkohol), der Importstopp ist zwischenzeitlich allerdings wieder aufgehoben worden. Mit dieser Aktion sollte – erfolgreich – eine Blockade konterkariert werden, die von Chisinau Richtung Tiraspol lanciert worden war. Mit der Verweigerung der Ausstellung von Exportlizenzen hatte die moldawische Führung wieder einmal versucht, die transnistrische Industrie, die zu einem hohen Anteil außenhandelsabhängig ist, vom Weltmarkt abzuschneiden bzw. ins Schmugglereck zu treiben.

Eine neue Schieflage hat der geopolitische Zustand mit der Wahl von Viktor Juschtschenko in der Ukraine erhalten, der im zweiten Anlauf mit kräftiger Unterstützung des westlichen Auslandes Anfang 2005 die Zügel seines Landes in die Hand genommen hat. Bis dahin war es transnistrischen Produkten ohne Probleme und auch ohne moldawische Zertifikate möglich, das Land Richtung Ukraine zu verlassen und so auf den Weltmarkt zu gelangen. Seit Frühjahr 2005 hat sich die Lage für Transnistrien verschärft. Jusch-tschenko verlangt nun moldawische Ursprungspapiere für transnistrische Waren, was Chisinau ein größeres Druckmittel gegenüber Tiraspol in die Hand gibt.

Die Ukraine als einziger östlicher Nachbar Transnistriens spielt eine entscheidende Rolle bei der Lösung des moldawisch-transnistrischen Konfliktes.

Das Kozak-Memorandum

Beide Seiten, Moldova und Transnistrien, betonen seit Jahren in regelmäßigen Abständen ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Während Tiraspol eine Föderation zweier gleichberechtigter Staaten bevorzugt, will Chisinau der in seinen Augen abtrünnigen Provinz nur einen Autonomiestatus zubilligen, wie ihn das Gagausengebiet besitzt.

Der Krisenlösung am nächsten kam bisher ein russischer Vorstoß, der 2003 als »Kozak-Memorandum« in die diplomatische Literatur eingegangen ist. Geplant war eine sogenannte asymmetrische Föderation Moldawien mit zwei Autonomien, nämlich der transnistrischen und der gagausischen. Transnistrische Abgeordnete hätten in diesem Vorschlag ein Vetorecht im gemeinsamen Senat bis zum Jahr 2015 erhalten, russisch wäre zur zweiten Amtsprache der Republik Moldova geworden, und russische Truppen wären als Vermittler 30 Jahre im Lande verblieben. Ein eigenes Referendum dies- und jenseits des Dnjestr hätte die Legitimität der Föderation gewährleistet.

Sowohl Igor Smirnow als auch Wladimir Woronin, die Führer der beiden verfeindeten Lager, sprachen sich Mitte November 2003 für diesen Plan aus, den der Vizechef der Moskauer Präsidialverwaltung, Dmitri Kozak, im Auftrag von Wladimir Putin ausgearbeitet hatte. Am 25. November 2003 sollte die Aussöhnung zwischen Chisinau und Tiraspol perfekt gemacht werden. Woronin, Smirnow und Putin hätten sich der internationalen Presse gestellt und die Details des Kozak-Memorandums bekanntgegeben. Schon waren Wladimir Putins Leibwächter sowie die Staatskarosse von Moskau nach Chisinau geflogen worden, die Vorkehrungen des Staatsbesuches schienen abgeschlossen. Als, so Vitali Ignatjew vom transnistrischen Außenministerium gegenüber dem Autor, ein Treffen des US-amerikanischen Botschafters mit Moldawiens Präsidenten Wladimir Woronin die Sache zum Scheitern brachte. »Dmitri Kozak wartete bereits an der Rezeption der moldawischen Präsidentschaftskanzlei, Putin in Moskau war reisefertig. In diesem Moment tauchte der amerikanische Botschafter auf. Zwei Stunden später verweigerte Woronin die bereits zugesagte Unterschrift unter das Dokument.« Kurz darauf trat in Moskau Außenminister Igor Iwanow vor die Kameras der internationalen Presse und beklagte, daß »Versuche einiger Staaten, sich in die Innenpolitik von GUS-Mitgliedern einzumischen, wie das bereits in Georgien der Fall war« (ND, 29./30.11.2003), das Projekt zum Scheitern gebracht hätten.

Vor den politischen Kulissen tobten im November 2003 rumänische Nationalisten in den Straßen von Chisinau, hielten Spruchbänder mit Aufschriften wie »Woronin – Verräter« hoch und skandierten antirussische Losungen. Gescheitert dürfte der Kozak-Plan an den Interessen der NATO sein. Denn die innenpolitischen Vorbehalte der national-rumänischen Opposition waren parlamentarisch nicht mehrheitsfähig, 71 von 101 Abgeordneten standen hinter Woronin. Ökonomisch wäre mit der Unterzeichnung des Memorandums die transnistrische Schattenökonomie vorbei an den moldawischen Behörden zu Ende gegangen. Bleibt die im Kozak-Plan vorgesehen gewesene russische Präsenz, sowohl in militärischer als auch diplomatischer Hinsicht. Beides, russische Truppen in Transnistrien und einen Verhandlungserfolg innerhalb der GUS, wollten die USA Moskau nicht gönnen. Deshalb kam das Kozak-Memorandum zu Fall.

Seither lösen unterschiedliche Pläne und Vorstellungen einander ab. Die Europäische Union will gemeinsam mit der Ukraine und der Republik Moldova die Außengrenzen Transnistriens überwachen. In Odessa haben Ende September 2005 sogenannte Fünfergespräche, bestehend aus Repräsentanten Moldawiens, Transnistriens, der Ukraine, Rußlands und der OSZE begonnen. Rumänien fordert seit langem eine Wiederbeteiligung an den Verhandlungen, von denen sich das Land Anfang der 1990er Jahre zurückgezogen hatte. Die USA und EU-Europa wollen zu den Fünfergesprächen zugelassen werden; der Streit, ob dies als Verhandler oder als Beobachter geschehen soll, beschäftigte im Oktober 2005 die politischen Beobachter. Und dann ist da noch der neue Juschtschenko-Plan, der Moldawien wesentlich mehr Zugeständnisse machen würde als Transnistrien. »Dieser Plan wurde schnell hingeschusselt, er strotzt vor Fehlern und Ungenauigkeiten«, beurteilt ihn Ilja Galinski kritisch. Der Tiraspoler Historiker meint, daß die Transnistrier sowohl mit einem konföderalen Modell wie in »Bosnien-Herzegowina« als auch mit einer Staatsassoziation à la Serbien-Montenegro oder einem Protektorat wie im Kosovo einverstanden wären. Auf den Einwand, daß alle drei Modelle wohl kaum Vorbilder sein können, antwortet er entwaffnend: »aber besser als Krieg«. Ein solcher könnte drohen, wenn sich EU und OSZE von US-amerikanischen Vorstellungen leiten lassen, die auf eine »Rosen-Revolution« wie in Georgien oder in eine orange wie in der Ukraine setzen. In exil-moldawischen Kreisen ebenso wie in rumänisch-nationalistischen Parteien wird dafür geworben, Tiraspol zu erobern. Die Meinung, dort würde das Volk auf eine solche »revolutionäre« Eroberung nur warten, ist indes trügerisch. Denn Igor Smirnow hat nicht nur eine mittlerweile 17000 Mann starke eigene Truppe aufgestellt, sondern genießt auch genug Sympathien, um von außen – also von Chisinau – gesteuerte »Demokratisierungshilfen« abwehren zu können. Neuerdings ist es ihm zudem gelungen, Teile der Jugend in seinem Sinne zu aktivieren.

Zivilgesellschaft auf transnistrisch

Am 17. September 2005 stürmen mehrere Dutzend Jugendliche die OSZE-Außenstelle in Tiraspol, klettern mit Leitern auf das Dach und entfernen die Fahne der internationalen Organisation. An ihrer Stelle wird das Symbol der neuen transnistrischen Jugendbewegung »Proriv« aufgepflanzt. Ein schwarzer Schriftzug auf gelbem Hintergrund, dazu das Konterfei von Che Guevara. Die OSZE-Belegschaft läßt sich nicht blicken, desgleichen verschwunden ist auch die Tiraspoler Polizei. »Die haben die Augen zugedrückt, bis unsere Aktion vorbei war«, schmunzelt Aljona, eine der Aktivistinnen von »Proriv«. »Proriv« heißt auf deutsch soviel wie »Durchbruch« und soll Transnistrien international zur Anerkennung verhelfen, die Isolation durchbrechen. Die erste aufsehenerregende Aktion hat sich deshalb gegen die OSZE gerichtet, weil einerseits keine andere Organisation oder kein anderer Staat ein Büro in Transnistrien hat und weil andererseits die OSZE kurz zuvor über ihren US-amerikanischen Leiter William Hill hat verlauten lassen, daß sie die Dezember-Wahlen 2005 in Transnistrien nicht anerkennen werde.

Gegründet wurde »Proriv« Anfang Juni 2005. Inspiriert durch die erfolgreichen Jugendbewegungen »Otpor« in Serbien, »Chmara« in Georgien und »Para« in der Ukraine haben sich mittlerweile über 200 Mädchen und Jungen zusammengefunden, um ihren Unmut über die politische Lage kundzutun. »Aber wir verstehen uns im Gegensatz zu ›Para‹ oder ›Chmara‹ als Unterstützung für unsere Regierung. Unser Gegner ist der moldawische Präsident Woronin, der Transnistrien isoliert und blockiert«, meint die Aktivistin Aljona. Sie ist 21 Jahre alt, ihr Vater, daraus macht sie kein Hehl, ist russischer Offizier, sie selbst ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. »Wir sind vollständig blockiert hier«, empört sie sich ein weiteres Mal.

Treffpunkt der »Proriv«-Aktivisten ist ein kahl eingerichteter Raum im Stadtzentrum, direkt an der Haupstraße des »25. Oktober« gelegen. Nein, von der Regierung bekämen sie kein Geld, und auch das Lokal haben sie sich eigenständig gemietet, legt Aljona Wert auf politische Selbständigkeit. Der Vermieter betreibt direkt nebenan das beste Restaurant in der Stadt: im Café »Eilenburg« gibt es vom Stör aus dem Schwarzen Meer bis zu ukrainischen Spezialitäten alles, was die südrussische Küche zu bieten hat. »Eilenburg« heißt das Lokal übrigens nach der kleinen sächsischen Stadt, die als einzige in ganz Westeuropa eine Städtepartnerschaft mit Tiraspol eingegangen ist.

Wie weit es mit der Unabhängigkeit von »Proriv« wirklich her ist, kann nur schwer beurteilt werden. Klammheimliche Unterstützung ist das Mindeste, was transnistrische Behörden den Jugendlichen zukommen lassen. Allen sind die relativ wilden Jugendlichen in der Stadt indes nicht geheuer. »Manche Leute wollen uns nicht, weil sie meinen, wir sind undercover unter der US-Flagge unterwegs und tun nur so, als ob wir die Regierung unterstützen«, meint Aljona. Diese Art Skepsis dürfte indes rein auf die politische Umgangsform von »Proriv« beschränkt sein. Älteren Semestern kommen lautstarke Demonstrationen, von eigener Musikgruppe untermalt, eben amerikanisch vor. Inhaltlich stehen die »Proriv«-Leute indes fest zur Staatsmacht. Gerade daß ihr Staat nicht anerkannt wird, läßt sie protestieren. So z.B. auch am 8. Juli 2005: »Da waren 50 Leute von uns an der moldawischen Grenze und haben Spruchbänder hochgehalten, auf denen wir die Bürgermeisterwahlen in Chisinau als Farce bezeichnet haben.« »Woronin ist ein Räuber«, stand auf den Flugblättern zu lesen, die Aljona und ihre Gefährten jedem Auto hinter die Windschutzscheibe steckten, das in Richtung Moldawien fuhr.

Ob sich »Proriv« als eine Art Jugendorganisation der »Union der Arbeiterkolletive« (OSTK) verstehe, will ich von der Aktivistin wissen. »Abstrakt sind sie uns nahe, aber konkret überhaupt nicht«, antwortetet sie. Die OSTK hatte immerhin jene transnistrische Unabhängigkeit erkämpft, die nun »Proriv« verteidigt. »Das schon«, meint Aljona, »aber die sind viel zu konservativ. Wir machen direkte Aktionen und lassen uns von der Regierung nichts vorschreiben.« Politisch einordnen will sich die »Proriv«-Aktivistin nicht. Nur so viel: »Wir sind nicht links. Aber, wenn wir unsere sowjetische Vergangenheit vergessen, haben wir auch keine Zukunft.«

* Aus: junge Welt, 8. November 2005


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