Der rote Klatschmohn am Dnjestr-Ufer
Moldawien: Durch den Fluss verläuft die Frontlinie eines Konflikts, den "Europa" fast verdrängt hat
Von Irina Wolkowa
Die im Westen gebräuchliche Bezeichnung "Transnistrien" hört
man in der "Moldauischen Dnjestr-Republik" (Pridnjestrowskaja
Moldawskaja Respublika) nicht gern. Transnistrien bezeichnet
schließlich das Land "hinter" dem Dnjestr, während das russische
"Pridnjestrowje" das Land "am" oder "vor" dem Dnjestr meint.
Man kann dies als eine Frage der Blickrichtung abtun. Aber der
Streit hat tiefere Wurzeln.
Wo das Niemandsland beginnt,
blüht weißer Holunder, wo es aufhört,
duften wilde Rosen. Auf der
Brache dazwischen, etwa 500 Meter
breit, wachsen Weizen, der sich
selbst gesät hat, und roter Klatschmohn.
Der Mohn zeige Stellen an,
wo das Blut Unschuldiger vergossen
wurde, behaupten die Leute im
Kaukasus. Dessen schroffe Berge
liegen freilich gut 800 Kilometer
weiter südöstlich, hier dagegen ist
die Landschaft eher lieblich: Sanft
gewellt, zwischen den grünen Hügeln,
schlängelt sich ein silbernes
Band – der Dnjestr (moldauisch:
Nistru). Blut aber floss auch hier
reichlich. Das letzte Mal 1992. Mitten
durch den Fluss verläuft seither
die Frontlinie eines Konflikts, den
Europa verdrängt hat.
Seit ewigen Zeiten trennt der
Dnjestr zwei Volksgruppen: An seinem
östlichen Ufer siedeln überwiegend
Slawen – Ukrainer und
Russen. Die westliche Seite dagegen
gehört zu Bessarabien, dem Kernland
des rumänischen Fürstentums
Moldau, das im Mittelalter dem Osmanischen
Reich tributpflichtig
wurde. 1812 von Russland annektiert,
erklärte sich Bessarabien
1918 zwar für unabhängig, beschloss
jedoch schon ein Jahr später
den Anschluss an Rumänien.
Durch den Hitler-Stalin-Pakt kam
das Gebiet – knapp so groß wie
Mecklenburg-Vorpommern – zur
Sowjetunion. Der 1940 gegründeten
Sowjetrepublik Moldawien
schlug Stalin auch das östliche,
überwiegend slawische Dnjestr-
Ufer zu, das bis dahin als Autonome
Republik zur Ukraine gehörte.
Ein Treppenwitz der Geschichte,
mit dem man sich am Ostufer nie
abfand. Schon gar nicht, als Moldawien
nach dem Ende der Sowjetunion
im Dezember 1991 als Republik
Moldova unabhängig wurde
und Nationalisten um Mircea Snegur,
den ersten Präsidenten, die
Wiedervereinigung mit Rumänien
als langfristiges Staatsziel proklamierten.
Rumänisch wurde per Gesetz
zur alleinigen Staatssprache
erklärt. Mit beidem waren Russen
und Ukrainer nicht einverstanden.
Ein Bürgerkrieg brach aus, der
mehrere hundert Menschenleben
kostete und zigtausend in die Flucht
trieb. Er endete faktisch mit der
Zweiteilung des Landes.
Der Westen, wo die meisten Menschen
moldauisch (rumänisch)
sprechen und das lateinische Alphabet
benutzen, drängt unter Führung
der inzwischen gewendeten
Partei der Kommunisten der Republik
Moldova auf Integration in die
EU. Im Ostteil indes, der nach der
Abspaltung isoliert zwischen der
Ukraine und Rest-Moldova liegt,
konstituierte sich die Moldauische
Dnjestr-Republik (russisch: Pridnjestrowskaja
Moldawskaja Respublika
– PMR) – ein international
nicht anerkannter Kleinstaat, der
sich neben einer eigenen Währung
– dem Pridnjestrowje-Rubel – sogar
einen eigenen Mobilfunk-Standard
leistet. Nicht nur, um Kontakte der
rund 500 000 Einwohner mit den
Erzfeinden am anderen Ufer zu
unterbinden.
Präsident Igor Smirnow, zu sowjetischen
Zeiten Fabrikdirektor
auf der fernöstlichen Halbinsel
Kamtschatka, regiert seinen Beritt
mit eiserner Faust und ließ im Jahre
2000 sogar die Verfassung umschreiben,
um sich eine dritte
Amtszeit zu genehmigen. Seit dem
Regierungswechsel bei den Nachbarn
in der Ukraine fürchtet er, der
orangenfarbene Bazillus könnte
auch auf seine Republik übergreifen.
Ängste, die auch die inoffizielle
Schutzmacht umtreiben: Russland,
dessen 14. Armee unter dem Kommando
von General Alexander Lebed
im Bürgerkrieg die slawische
Hochburg verteidigt hatte. Noch immer
stehen heute rund 2000 Soldaten
in der Dnjestr-Republik, die als
Friedensbewahrer eigentlich die
Einhaltung des 1992 mit der moldauischen
Regierung in Chisinau
ausgehandelten Waffenstillstands
überwachen sollen.
Zwar beteuerte Russlands Präsident
Wladimir Putin bei seinem
Moldova-Besuch im Juni 2002,
Moskau sei an der territorialen Integrität
des Landes interessiert.
Doch zuvor hatte die russische Duma
die Dnjestr-Republik zu einer
"besonderen strategischen Zone"
erklärt. Und an die 1999 beim Istanbuler
OSZE-Gipfel eingegangene
Verpflichtung, sämtliche russischen
Waffen bis Ende 2001 abzuziehen
oder zu vernichten, will man in
Moskau nicht gern erinnert werden
– schon gar nicht, seit Moldovas
Präsident Wladimir Woronin einen
russischen Lösungsvorschlag für
den Konflikt mit der abgespaltenen
Republik nach aufgeregten Telefonanrufen
aus Brüssel abgelehnt hat.
Am Grenzübergang Bendery –
moldauisch: Tighina – kontrollieren
meist Russen die Pässe. Ihr Hauptquartier
hinter hohen Mauern liegt
an einer Ausfallstraße der Hauptstadt
Tiraspol und ist exterritoriales
Gebiet mit eigenem Fernsehen,
eigener Zeitung, eigenen Gesetzen
und einem Haus der Offiziere, wo
ein Konsularbeamter aus Moskaus
Außenministerium ethnischen Russen,
die keine Moldauer werden
wollen, russische Pässe ausstellt. Es
liegt gleich neben einem Waffenlager,
bewacht von der Nachhut der
14. Armee.
Zwar zogen die Russen schwere
Technik schon 1994 ab. Der Rest indes
reicht nach Meinung eines
Kampfgefährten von General Lebed
noch immer, um "ganz Europa eine
Weile in Angst und Schrecken zu
halten". Seiner Meinung nach würden
4000 Waggons gebraucht, um
"all das Zeug" in Richtung Heimat
abzutransportieren: Bomben, Raketen
und jede Menge Kalaschnikows.
Den Löwenanteil haben
wahrscheinlich inzwischen Smirnows
Leute abgestaubt. Allein das
Sicherheitsministerium hat um die
16 000 Mann unter Waffen.
Vor dem Präsidentenpalast im Zentrum
von Tiraspol steht überlebensgroß
und in roten Granit gemeißelt
noch immer Wladimir Iljitsch Lenin
auf seinem Podest. Pioniermädchen
mir rotem Halstuch und weißen
Schleifen im Haar legen zu den
Feiertagen der vergangenen Sowjetunion
nach wie vor Blumen zu
seinen Füßen nieder, und die umliegenden
Straßen tragen noch immer
die Namen seiner engsten Mitkämpfer.
Unabhängige Medien gibt es in
der Dnjestr-Republik nicht, und die
zaghaften Ansätze einer Opposition
tarnen sich als humanitäre Organisationen
oder unpolitische Jugend
bewegungen. Ihre Zusammenkünfte
finden meist in der moldauischen
Hauptstadt Chisinau statt, denn zu
Hause fürchtet man, dass Telefone
abgehört, Computer beschlagnahmt
und Mitglieder hochnotpeinlich
von Sicherheitsbeamten verhört
werden. Seminare, gesponsert
von einer Stiftung des US-amerikanischen
Multimilliardärs George
Soros, bei denen aktiver Widerstand
gegen die Polizei bei Demonstrationen
trainiert wird, kämen entschieden
zu früh, meint Oxana Alistratowa,
die Chefin von Interaction,
einer Jugendorganisation, die
durch kulturelle Zusammenarbeit
der Volksgruppen die Welt verbessern
will. Mit ganzen 70 Mitgliedern,
denn zu Demokratie und
Marktwirtschaft hat die Mehrheit
am Ostufer des Dnjestr ein nachhaltig
gestörtes Verhältnis. Auch weil
das Regime in Tiraspol für den inner-
moldauischen Vergleich durchaus
gut aufgestellt ist.
Rumpf-Moldova, das ärmste
Land Europas, wo das monatliche
Durchschnittseinkommen unter 40
Euro liegt, ist chronisch knapp bei
Kasse und ein Versorgungsfall. Die
UNO hat Schulden in Höhe von einer
Million Dollar gestundet, damit
die Republik ihr Stimmrecht zurückbekommt.
Bei Russland steht
Chisinau mit über 760 Millionen
Euro für Gaslieferungen
in der Kreide, und sogar
das arme Rumänien
schickt den darbenden
Brüdern Lebensmittel
und Medikamente.
Der Grund für die Misere:
Dem einstigen Tabak-,
Wein-, Obst- und Gemüsegarten
der Sowjetunion
brachen nach dem Ende
der UdSSR die Absatzmärkte
weg. Vor allem in
Russland. Die Türkei und
Zentralasien liefern trotz
weiterer Transportwege
billiger.
In der Dnjestr-Republik
dagegen gibt es Arbeit.
Löhne und Renten sind
höher und werden annähernd
pünktlich bezahlt.
Das Regime in Tiraspol
profitiert von Stahlwerken,
Zementfabriken,
Schnapsbrennereien und Textilindustrie,
die zu sowjetischen Zeiten
hier angesiedelt wurden. Abspaltung
und Isolation taten dem Geschäft
keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Nicht Moldova, sondern die Separatisten
kontrollieren weite Teile
der Grenze zur Ukraine, Zollfrei exportiert,
waren ihre Erzeugnisse bis
zum Regierungswechsel in Kiew
konkurrenzlos billig.
Damit allerdings soll bald Schluss
sein. Viktor Juschtschenko, der
neue ukrainische Präsident, will
seinem moldauischen Amtsbruder
Wladimir Woronin helfen, den
Sumpf trocken zu legen. Außerdem
hat er einen neuen Friedensplan
vorgelegt. Er sieht die Demilitarisierung
der Region – Abzug der russischen
Soldaten bis Ende 2006 und
Entwaffnung der Separatisten – sowie
demokratische Wahlen unter
OSZE-Aufsicht vor. »Wir wollen
endlich die Stimme des Volkes am
östlichen Ufer hören«, sagt Marian
Lupu, der Vorsitzende des moldauischen
Parlaments.
Der Schlüssel für die Lösung des
Konflikts, findet dagegen der neue
rumänische Präsident Traian Basescu,
liege allein in Moskau. Sein
Plan sieht daher den Abzug der
Russen und einen Monat strengste
Wirtschaftsblockade vor. Dann, so
hofft er, werde das Regime Smirnows
wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
In Russland sieht
man das offenbar ähnlich, denn
Moskau hat erst mal den Import
moldauischer Süßkirschen gestoppt.
* Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2005
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