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Nervöser EU-Aspirant

In Moldawien ist die Jagd auf »prorussische Separatisten« eröffnet. Im November wird es Wahlen geben. Ausgang ungewiß

Von Reinhard Lauterbach *

Als es noch als Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik zur UdSSR gehörte, war das Land von der ungefähren Größe Brandenburgs eine der wohlhabendsten Regionen der Sowjetunion. Die von rumänischsprachigen Nationalisten durchgesetzte Abspaltung von der Sowjetunion war für die Republik ein Sprung ins eiskalte Wasser. Nach 23 Jahren Unabhängigkeit gilt Moldawien mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 2000 Euro pro Kopf als ärmster Staat Europas. Große Teile der Bevölkerung arbeiten im Ausland, vor allem in Italien. Ihre Überweisungen an die in der Heimat verbliebenen Angehörigen übersteigen das offizielle Sozialprodukt des Landes.

Moldawien ist für seinen Export – in erster Linie Obst, Gemüse, Wein und andere Alkoholika – nach wie vor von Rußland abhängig; dennoch hat sich die aktuelle politische Führung des Landes aus der »Demokratischen Partei« der Westintegration verschrieben. Wie die Regierung der Ukraine hat die in Chisinau im Juni ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben. Das aber gefällt nicht allen Bewohnern des Landes, und die moldawische Regierung geht inzwischen mit Verhaftungen gegen diese Kritiker vor.

Widerstand regt sich vor allem in der autonomen Region Gagausien im Süden Moldawiens. Dort lebt eine türkischsprachige, aber russisch-orthodoxe Minderheit von etwa 160000 Menschen mit starken kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen in die Russische Förderation. Unter anderem verdienen rund 30000 Einwohner Gagausiens – überwiegend Männer – ihren Unterhalt als Arbeitsmigranten in Rußland. Daraus kann man schließen, daß mindestens die Hälfte der gagausischen Bevölkerung existentiell auf gute Beziehungen zu Rußland angewiesen ist.

Dies ist die Grundlage dafür, daß bei einem Referendum Anfang des Jahres in Gagausien 97 Prozent der Teilnehmer (die Beteiligung betrug 70 Prozent) für den eigenständigen Beitritt der Region zur eurasischen Zollunion zwischen Rußland, Belarus und Kasachstan und gegen die EU-Option stimmten. Diese Geste – die natürlich keinerlei praktische Konsequenzen haben konnte – wurde in Chisinau als Kampfansage aufgenommen. Man vermutete hinter den Aktivitäten der gagausischen Autonomieverwaltung die lange Hand Moskaus, um Moldawien zu destabilisieren. Als im Juni die Regionalregierung überdies begann, eigene »Selbstschutzeinheiten« neben der dem Zentralstaat unterstehenden Polizei aufzustellen, sah Chisinau ein zweites Transnistrien heraufdämmern. Denn schon 1990 hatte sich die überwiegend russische und ukrainische Bevölkerung in dem hauptsächlich östlich des Dnjestr/Dnister gelegenen Industriegebiet von Moldawien abgespalten und die Republik Transnistrien (Eigenbezeichnung: Pridnestrowische Moldauische Republik) ausgerufen. Sie behauptete sich in einem kurzen Bürgerkrieg Anfang der neunziger Jahre, weil die vor Ort stationierten russischen Truppen die Partei ihrer Landsleute ergriffen und den Vormarsch moldawischer Einheiten stoppten. Seitdem ist Transnistrien ein von niemandem, auch nicht von Rußland, anerkanntes postsowjetisches Kuriosum, in dem die Präsidentenfamilie das Geschäftsleben monopolisiert und das im wesentlichen vom Schmuggel mit seinen Nachbarn lebt. Militärisch hält sich Transnistrien dank der nach wie vor rund 1500 russischen Soldaten, die dort als Friedenstruppe stationiert sind und die die bis heute nicht geräumten enormen Waffenlager aus der Zeit des Kalten Krieges hüten.

Im Zuge des Ukraine-Konflikts ist Transnistrien von westlicher Seite als mutmaßliches Nest prorussischer Aktivisten in Verruf geraten. Ganz falsch sind diese Anschuldigungen sicher nicht. Etliche Führungskader der »Volksrepublik Donezk« haben in ihrem Lebenslauf Stationen in dem Gebiet, so Verteidigungsminister Igor Strelkow, der unlängst zurückgetretene Ministerpräsident Alexander Borodaj und Geheimdienstchef Wiktor Antjufejew.

Die Zukunft Transnistriens ist inzwischen ungewisser denn je. Wenn sich in Kiew die militant antirussischen politischen Kräfte stabilisieren, wäre es vermutlich eine Frage der Zeit, wann die zwischen der Ukraine und Moldawien gelegene Region ohne eigenen Zugang zum Meer oder zum internationalen Luftraum durch eine Wirtschaftsblockade ausgehungert werden könnte. Im Frühjahr hatte Moldawien diese Karte schon einmal gezogen, als es ein russisches Regierungsflugzeug auf dem Weg von Transnistrien nach Moskau zur Landung in Chisinau zwang und durchsuchte. Dabei wurden Unterschriftenlisten des Referendums beschlagnahmt. Auch die EU steht schon bereit, unter dem Vorwand effizienter Zollkontrollen die Grenzen Transnistriens zu blockieren. Einstweilen aber hat Moldawiens Regierung größere Sorgen um das eigene Überleben: Bei den Wahlen im November könnte das politische Pendel wieder einmal in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen und die rußlandfreundlicheren (Post-)Kommunisten an die Macht zurückbringen. Das erklärt Chisi­naus nervöse Reaktion auf die an sich unbedeutenden Proteste der gagausischen Minderheit.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 14. August 2014


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