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Nomaden der Neuzeit

Über die Grenze zwischen der Mongolei und China pendelnd, versorgen sie ein ganzes Volk

Von Sören Urbansky *

Die Mongolei erlebt eine Renaissance des Nomadentums. Doch anders als ihre Vorfahren betreiben die Wanderhirten von heute keine extensive Viehhaltung, sondern versorgen das Land ohne Zugang zum Meer per Bahn und Auto mit Gütern aus der ganzen Welt.

Wüstenstaub wirbelt bei jedem abrupten Gasgeben auf. Der Fahrer des zerbeulten chinesischen Kleinbusses flucht und kaut nervös auf dem Zigarettenstummel: Abermals hat sich ein Jeep in die Schlange vor ihm gedrängt. Plötzlich stößt ein anderes Auto in das Heck des Wagens. »Die Männer fahren hier immer so«, sagt die Grenzhändlerin Surderdene und wechselt unbeirrt die SIM-Karten ihres Mobiltelefons, füllt Zollerklärungen, Aus- und Einreisepapiere aus.

Die Mongolin ist das Chaos am Grenzübergang gewohnt. Alle zwei Wochen fährt die Frau mit den blonden Strähnen hinüber nach China und trägt dazu bei, dass es auf dem Zentralmarkt im Südosten der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator SAK-Bier aus Südkorea, Gewürzgurken und Schokolinsen aus Deutschland, Dosen-Sprotten aus Lettland, Tütensuppen, Obst und Gemüse aus China gibt. Im Händlerexpress Richtung Süden

Am Hauptbahnhof Ulan-Bators beginnt täglich die Reise hunderter mongolischer Grenzhändler. Mit seinen zwei schmalen Bahnsteigen wirkt die zentrale Station eher wie ein Haltepunkt in der Provinz. Der Fahrplan zeigt lediglich ein Dutzend Züge an. Die in die Jahre gekommenen Waggons erinnern an jene, die einst vom Bahnhof Lichtenberg in Berlin nach Moskau kursierten, nicht jedoch an einen Expresszug ins kapitalistische Einkaufsparadies. »VEB Waggonbau Ammendorf« steht auf den angelaufenen Herstellertafeln geschrieben.

Surderdene, die sich wie alle Mongolen nur mit ihrem Familien-namen vorstellt, lehnt sich in das abgenutzte braune Polster des Schlafwagenabteils. Ihre großen, leeren Reisetaschen hat die 32-jährige Frau mit dem etwas müden Gesicht bereits unter der Liege verstaut. Der Zug von Ulan-Bator gen Süden ist ein Händlerexpress für den Großeinkauf im prosperierenden Reich der Mitte. Bis nach Zamyn-Üüd, der mongolischen Grenzsiedlung, sind es knapp 15 Stunden, bis Peking noch mehr als ein Tag. Insgesamt wird Surderdene eine Woche lang unterwegs sein. An das rastlose Leben hat die Frau sich längst gewöhnt. Spannend sei die Fahrerei nicht, doch die Arbeitslosigkeit in der mongolischen Hauptstadt, die bei über 30 Prozent liegt, lasse ihr kaum eine Wahl.

Immerhin verdienen Grenzhändler wie Surderdene heute mehr als Professoren in der Mongolei. Badamsuren, eine Freundin, die Surderdene auf der Einkaufstour begleitet, stammt aus Uliastai im Westen des Landes. Anfang der 90er Jahre zog sie nach Ulan-Bator -- wie hunderttausende andere Mongolen. Das Anglistik-Studium musste die zierliche Frau nach der Hälfte abbrechen, ihr fehlte das Geld. Inzwischen, seit über zehn Jahren, fahre sie mindestens zweimal im Monat runter nach Peking, sagt sie ernst und isst ihr in Styropor eingepacktes Fertigessen, das unangenehm nach kaltem Fett riecht. »Entweder du nimmst dein Leben selbst in die Hand oder du kommst kaum über die Runden.«

Manchmal fährt sie zum Einkauf sogar bis Guangzhou oder Hongkong. Der Radius der Nomaden von heute ist dank moderner Verkehrsmittel weiter. Gutes Weideland findet sich überall dort, wo die Einkaufspreise niedrig sind.

In der dünn besiedelten Mongolei teilen sich lediglich zweieinhalb Millionen Einwohner gut anderthalb Millionen Quadratkilometer Steppe und Wüste. Das Land ist reich an Bodenschätzen, ein Großteil der Bevölkerung mit einem Bruttonationaleinkommen von etwa 670 Dollar pro Einwohner indes ist bitterarm.

Mit dem Untergang der Sowjet-union und ihrer Satellitenstaaten endete auch die sozialistische Ära der Mongolei. Beinahe über Nacht brach die Wirtschaftshilfe Moskaus weg. Die ökonomische »Sandwich-Lage« zwischen Russland und China, bedingt durch die starke Abhängigkeit von Fertigerzeugnis-Importen und Rohstoff-Exporten, bestimmt die Wirtschaft der Mongolei indes bis heute. Bevor sich der Schlagbaum öffnet

Tag zwei: 7.10 Uhr fährt der Händlerzug in Zamyn-Üüd ein. Wer aus der stickig heißen Luft des Abteilwaggons kommt, dem mutet die Morgenbrise, die den Gobi-Sand auf die Gleise fegt, noch kälter an. Der Vorplatz des Bahnhofs ist geschwängert mit Autoabgasen. Dutzende Kleinbusse und Geländewagen warten auf die Reisenden. Erfahrene Händler wie Surderdene kennen die Preise: Gut 12 000 Tugrik kostet das Bahnticket ab Ulan-Bator, 4000 Tugrik die kurze Fahrt über die Grenze. Der chinesische Nachtbus bis Peking schlägt mit weiteren 160 Yuan zu Buche -- insgesamt wären das umgerechnet etwa 33 Euro.

Badamsuren, die Freundin, kauert auf einer Tasche. »Es gibt in den Autos keine Sitzbänke, denn auf dem Rückweg sind die Fahrzeuge so voll gepackt, dass die Sitze nur Stauraum wegnehmen würden«, sagt sie mit einem bitteren Lächeln.

Elf neue Übergänge wurden 1991 und 1992 an der 4600 Kilometer langen mongolisch-chinesischen Grenze eröffnet. Nach einer chaotischen Phase in den frühen 90er Jahren hat sich der Warenaustausch zwischen beiden Staaten zwar professionalisiert. Inzwischen ist China größter Außenhandelspartner des Binnenlandes. Grenzhändler wie Surderdene und Badamsuren sorgen dennoch bis heute für einen wichtigen Teil des Warenumschlags.

Nach dem Gerangel auf der Straße folgt das Schubsen im Grenzabfertigungsgebäude. Durch zwei schmale Metalldetektoren drängen sich hunderte Händler. Die mongolischen Grenzbeamten versuchen mit Drohgebärden und Gebrüll, Herr der Lage zu werden. Nach nochmaligem Warten im Niemandsland öffnen um Punkt 13 Uhr, nach der Mittagspause, chinesische Grenzbeamte den Schlagbaum. Staunen über Chinas Wirtschaftswunder

In der fast klinisch reinen Abfertigungshalle der Volksrepublik China herrscht strenge Ordnung. Ein kaum volljähriger Soldat der Volksbefreiungsarmee schubst die wartenden Mongolen zurück in die Schlange, bis diese kerzengerade ist. Seit Januar 2007 müssen Mongolen für China ein Visum beantragen. In der Gegenrichtung -- aus Angst vor einem Massenansturm an Chinesen -- besteht die Pflicht für den mongolischen Sichtvermerk bereits seit dem ersten Tag der Grenzöffnung.

Hinter der Passkontrolle empfängt die Volksrepublik Surderdene und Badamsuren mit einem kolossalen Regenbogen aus Blech, einem Portal, das den Grenzbereich überspannt und den Blick auf den schnell wachsenden chinesischen Vorposten Erlian (Erenhot) freigibt. »Für mich ist das jedes Mal wie eine Reise in eine andere Welt«, sagt Surderdene, die trotz ihrer regelmäßigen Besuche immer wieder beinahe kindlich über das chinesische Wirtschaftswunder staunt. Der Asphalt der breiten Boulevards der Stadt riecht noch frisch, die blanken Fassaden der neuen Häuser entlang der Hauptstraßen leuchten hell in der klaren Wüstenluft.

In der Gegenrichtung herrscht zu dieser Zeit noch kaum Betrieb. Mongolen auf dem Weg zurück in ihre Heimat kommen erst in den Nachmittagsstunden. Und für Chinesen lohnt die Fahrt über die Grenze kaum.

Nachmittags um vier Uhr nehmen die beiden Frauen aus Ulan-Bator den Liegebus nach Peking. Surderdene blickt in die Weite der Wüste. Am nächsten Morgen kurz vor sechs Uhr, nach gut 28 Stunden Fahrt, werden die beiden Nomaden der Neuzeit endlich in Chinas Hauptstadt ankommen. Dann kann ihre Einkaufstour beginnen.

* Aus: Neues Deutschland, 12. September 2008


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