Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Steigende Arbeitslosigkeit im Mittleren Osten

Krieg, Besatzung und Klimawandel zerstören den Arbeitsmarkt

Karin Leukefeld, Damaskus

„Was soll ich machen“, lacht Ali, der vor einem kleinen Süßwarenladen steht und auf Kundschaft wartet. „Ich habe eine Frau und vier Kinder, mit einer Arbeitstelle reicht das Geld nicht aus.“ Ali lebt auf dem Qassyun, dem dicht mit zumeist ärmlichen Häusern besiedelten Hausberg der syrischen Hauptstadt Damaskus. Jeden Morgen fährt er mit drei Freunden aus seinem Viertel mit dem Minibus ans andere Ende der Stadt, wo sie in einem kleinen Hotel die Zimmer putzen, Wäsche waschen, Wartungsarbeiten und Botengänge erledigen. Am Nachmittag, zwischen 14.00 und 15.00 Uhr, trennen sich die Freunde und jeder geht bis in die Abendstunden einer anderen Arbeit nach. Mohammad arbeitet in einem Restaurant, Aziz hilft in einer Wäscherei und Ali geht in den Süßwarenladen, der nur wenige Quadratmeter misst. Auf einer Seite gibt es allerlei Schokoladenpralinen, Bonbons und Plätzchen, auf der anderen Seite ist ein gemischtes Angebot aus Batterien, Scheren und Schlüsselanhängern bis zu Hygieneartikeln gestapelt. Freitags, wenn die Geschäfte wegen des muslimischen Feiertags geschlossen bleiben, sitzt Ali neben einem inoffiziellen Straßenstand, wo er mal Unterwäsche und Strümpfe, mal Pullover und T-Shirts verkauft. Je nachdem, was der Großhändler, der die Straßenverkäufer beliefert, an Ware bringt.

Das Leben in Syrien ist teuer geworden, seit die Regierung mit einem ehrgeizigen Plan die gesamte Wirtschaft umkrempelt. Aus der sozialistischen Planwirtschaft soll eine Soziale Marktwirtschaft entstehen, was zwar so manchem neue Chancen eröffnet, der Bevölkerungsmehrheit aber vor allem einen rapiden Preisanstieg beschert. Bis zu 100 Arbeitsstunden sind keine Seltenheit für einen syrischen Arbeiter, für einen Monatslohn zwischen 7.000 bis 15.000 Syrischen Pfund, umgerechnet 110 bis 230 Euro. In der Privatwirtschaft lässt sich im Tourismus-, Computer- oder Autogeschäft deutlich mehr verdienen, doch sind die begehrten Jobs rar gesät und werden oft im Familien- und Freundeskreis vergeben.

Mit neuen Gesetzen wolle Syrien ein besseres Investitionsklima und damit auch neue Arbeitsplätze schaffen, erklärte Präsident Bashar al-Assad dem Leiter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Juan Somavia, als dieser vor wenigen Tagen Damaskus besuchte. Wichtig seien vor allem mehr Ausbildungsplätze, wofür Syrien sich aus dem westlichen Ausland mehr Expertise und Unterstützung erhofft.

Nach Angaben der Arabischen Handelsunion lag die Arbeitslosenrate im Jahr 2000 bei 13 Prozent. Wegen der weltweiten Wirtschaftskrise liege sie heute vermutlich noch höher, sagte Generalsekretär Hassan Djemam vor wenigen Tagen auf einem „Arabischen Arbeitsforum“ in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Mehr als 50 Prozent der arabischen Arbeiter seien mit in Gelegenheitsjobs beschäftigt, so Djemam und forderte die Schaffung von 90 Millionen neuen Arbeitsplätzen bis zum Jahr 2020.

Nach ILO-Angaben liegt die Arbeitslosenquote in der Arabischen Welt bei 11 Prozent, was vermutlich nur „die Spitze des Eisbergs“ sei, hatte IlO-Direktor Somavia vor seinem Abstecher nach Damaskus bei dem Forum in Beirut festgestellt. Ohne die Schaffung neuer Arbeitsplätze werde es keinen Aufschwung in der Region geben, „weder wirtschaftlich, noch politisch, noch sozial.“ Die ILO schlägt einen globalen Pakt zur Schaffung von Arbeitsplätzen vor, in dem “die Krise auf drei Ebenen beantwortet werden“ müsse, erläuterte Somavia. Es müsse in die „reale Wirtschaft“ investiert werden, in „nachhaltige und moderne Unternehmen“ und in „menschenwürdige Arbeit.“ Qualifizierungsmaßnahmen von Arbeitskräften und Maßnahmen zur Absicherung im Krisenfall wie höhere Löhne, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen gehörten dazu.

Im Januar 2009 war auf einem Sondergipfel der Arabischen Liga in Kuwait über die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise beraten und beschlossen worden, die Produktionsrate in der arabischen Welt um jährlich ein Prozent zu erhöhen. Kleine und mittlere Betriebe sollten mit Geld aus einem neuen Arabischen Wirtschaftsfonds gefördert werden. Bis 2015 soll eine arabische Wirtschaftszone die Arbeitsaufnahme für Arbeitskräfte aller Mitgliedsstaaten erleichtern und bis 2020 soll ein gemeinsamer arabischer Markt entstehen.

Noch ist das Zukunftsmusik. Die palästinensische Wirtschaft liegt wegen der Knebelungspolitik der israelischen Besatzung am Boden und im Gazastreifen liegt die Arbeitslosenrate bei 40 Prozent (UN-Programm für humanitäre Hilfe, OCHA). Jedes Jahr verlassen 20.000 Universitätsabsolventen den Libanon, weil sie für ihre berufliche Karriere in ihrer Heimat keine Chancen sehen und im Irak bestimmen ungebremste Korruption und Vetternwirtschaft den Arbeitsmarkt seit der völkerrechtswidrigen Invasion des Landes 2003. Zu den Auswirkungen von Kriegen und Besatzung kommen die horrenden Auswirkungen des Klimawandels. Mit 5 Jahren extremer Trockenheit in der Region haben allein in der nordöstlichen syrischen Provinz Hassakeh 29.826 Familien (bis zu 300.000 Personen) ihre Lebensgrundlagen verloren und leben heute als Binnenflüchtlinge und Gelegenheitsarbeiter in Armutsgürteln um die Städte Aleppo, Homs und Damaskus. Im Irak ist die landwirtschaftliche Produktion nicht nur wegen akutem Wassermangel und einer steigenden Zahl von Sandstürmen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Seit 2003 werden lokale Produkte fast vollständig durch die aggressive Markteroberung der Nachbarstaaten verdrängt. Als kürzlich die Südirakische Ölgesellschaft 1670 neue Arbeitsplätze ausschrieb, standen fast umgehend Zehntausende vor deren Büro in Basra, das von der Polizei vor den anstürmenden Massen abgeriegelt wurde. Hochschulabsolventen warteten neben Slumbewohnern ohne Schuhe tagelang, um sich zu bewerben. Als einige in der Hitze ohnmächtig wurden, drängten die Nachkommenden weiter und versuchten, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen. Unter Einsatz von Schlagstöcken wurden sie zurückgetrieben.


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