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"Ich wehre mich gegen jede Sonderbehandlung als Jude"

Uri Avnery zum Nahostkonflikt und zu deutscher Feigheit - Interview*



Neues Deutschland: Herr Avnery, Israel steht vor Parlamentswahlen. Wird sich danach etwas im Land verändern?

Avnery: Die Kadima-Partei unter der Führung von Ehud Olmert wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahlen gewinnen, was eine Fortsetzung der Scharon-Politik bedeutet. Die Annexion von mehr als der Hälfte des Westjordanlandes wurde in dieser Politik nicht in Frage gestellt, eine Reduzierung der israelischen Grenze auf die Grüne Linie von 1967 nicht in Erwägung gezogen.

Sie spielen dabei auf die zum Teil fertiggestellte Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten an.

Die Mauer hat nur sehr wenig mit der Sicherheit Israels zu tun, sie erzeugt im Gegenteil eine größere Gewaltbereitschaft. Bereits heute sind die Palästinenser wirtschaftlich völlig isoliert.

Würden Sie den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern also als sozialen Konflikt bezeichnen?

Nein. Soziale Unterschiede und religiöse Auseinandersetzungen sind vielmehr die Folge eines nationalen Konfliktes. In dem seit 120 Jahren andauernden Streit zwischen Juden und Arabern geht es ursprünglich um Land. Wenn in den Palästinensergebieten anstelle von Muslimen Buddhisten lebten, wären die Probleme um keinen Deut geringer. Benjamin Netanyahu, Präsidentschaftskandidat des Likud-Blocks, forderte von den Europäern vor wenigen Tagen, man solle die Hamas genauso behandeln wie Al Qaida.

Was sagen Sie dazu?

Das sind doch alles Parolen, die ausgenützt werden, um amerikanische und europäische Komplexe zu befriedigen. Und einseitige Berichte über die israelische Politik zu fördern. Was uns am meisten fehlt, ist eine objektive Berichterstattung in der Presse.

Können Sie genauer beschreiben, was sie unter objektivem Journalismus verstehen?

Lesen Sie doch einmal die Berichte über Selbstmordattentate in den Zeitungen! Die amerikanischen, europäischen und israelischen Medien berichten meist nicht darüber, wenn vor einem solchen Selbstmordattentat Palästinenser im Westjordanland von der israelischen Armee gezielt umgebracht wurden. Man bringt die politischen Beziehungen und Motivationen nicht in Zusammenhang. Dass Israel eine Besatzungsmacht ist und die Palästinenser Widerstand leisten, wird so nicht dargestellt. Am schlimmsten von allen ist übrigens die deutsche Presse.

Würden Sie sich denn auch aus Deutschland mehr Kritik an Israel wünschen? Trotz der historischen Schuld, die den Deutschen aufgrund des Holocaust obliegt?

Die unreflektierte Einstellung der Deutschen im Nahost-Konflikt ist nicht nur unmoralisch, sondern auch feige. Die Bundesrepublik ist doch auch sonst so kritisch gegenüber der Missachtung von Menschenrechten in allen Teilen der Welt. Warum ausgerechnet nicht in Israel? Etwa weil wir Juden sind? Ich wehre mich gegen jede Sonderbehandlung, selbst wenn es historische Gründe gibt. Wir Juden wollen nicht anders sein als alle anderen, weder zum Guten, noch zum Schlechten – das ist auch einer der Beweggründe des Zionismus. Jede gegenteilige Idee ist nicht nur ungesund, sondern auch unhygienisch. Philosemitismus, die uneingeschränkte Bevorteilung des Judentums, ist nichts weiter als umgedrehter Rassismus.

Können Sie das genauer erklären?

In diesem Zusammenhang erzähle ich Ihnen gerne einen Witz. Während einer politischen Kundgebung in den Vereinigten Staaten kommt es zu Übergriffen, die Polizei schlägt auf kommunistische Demonstranten ein. Plötzlich ruft einer von ihnen: »Schlagt mich nicht, ich bin ein Antikommunist!« Da antwortet der Polizist: »Ist mir doch gleich, was für ein Kommunist du bist.«

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden kann sich aber gerade einmal 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum völlig normalisiert haben. Glauben Sie nicht, dass dafür mehr Zeit verstreichen muss?

Wie lange soll es denn dauern bis zur Normalisierung? Glauben Sie mir, an die Verbrechen des Holocaust wird man sich auch in 1000 Jahren noch erinnern. Mit der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel hat der Holocaust dagegen gar nichts zu tun.

Trotzdem gerät eine Kritik an israelischer Politik in Deutschland schnell in den Generalverdacht, antisemitisch motiviert zu sein. Das liegt daran, dass der Begriff Antisemitismus meist falsch verwendet wird. Man muss lernen, zwischen Antisemitismus, Antizionismus und dem Widerstand gegen die israelische Politik zu unterscheiden. Obwohl in Deutschland alle drei Begriffe wild vermischt werden, können sie unabhängig voneinander bestehen. Ein Antizionist muss kein Antisemit sein. Und Widerstand gegen die israelische Politik ist nicht automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen.

Wie können Journalisten und Politiker dem Vorwurf des Antisemitismus entgehen, wenn Sie sich der israelischen Politik kritisch gegenüberstellen wollen?

Sie müssen in ihrer Kritik deutlich machen, dass sie nicht gegen die Existenz Israels sind, sondern lediglich das Interesse von Palästinensern und Israelis gleichermaßen berücksichtigen wollen. Das muss vollkommen klar sein.

Die unkritische Haltung der Deutschen gegenüber israelischer Politik nannten Sie »unmoralisch und feige«. Wieso feige?

Weil sich die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte zur Untätigkeit bequemen. Dabei wächst ihre Verantwortung mit zunehmender Freiheit. Weder in Deutschland noch in den USA gibt es eine Diktatur. Niemand muss fürchten, wegen seiner politischen Stellungnahme in ein Konzentrationslager zu kommen. Die Bereitschaft zur Kritik müsste weitaus größer sein als zum Beispiel im Dritten Reich.

Kommen wir vom israelisch-palästinensischen Konflikt im Nahen Osten zum globalen Konflikt zwischen der westlichen Welt und dem Islam. Sehen Sie Parallelen zwischen beiden Konflikten?

Zunächst einmal gibt es keinen Konflikt zwischen der westlichen Welt und dem Islam als Religion. Der Westen führt einen Krieg nach kolonialen Interessen mit wirtschaftlich strategischen Zielen. Der Islam wird als Vorwand für den Konflikt verwendet.

Wenn man die geschlossene Reaktion der muslimischen Welt auf die dänischen Mohammed-Karikaturen betrachtet, könnte man anderer Meinung sein.

Allein der Begriff der »muslimischen Welt« ist ein westlicher Propagandabegriff. Was vereint die Völker von Marokko und Indonesien tatsächlich? Wenn man ehrlich ist, sind die Gemeinsamkeiten sehr gering. In Wirklichkeit stehen wir vor einem Weltkonflikt zwischen den reichen Industrienationen und den armen Völkern. Hieraus können Sie die erste moralische Pflicht im Umgang mit heutigen Medienberichten ableiten: Hinterfrage die Begriffe! Erst dann erkennst du, was hinter Bezeichnungen wie »westliche Welt« und »islamische Welt« wirklich steht – ein amerikanisches Weltreich mit europäischen Vasallen.

Wie sieht Ihre Zukunftsprognose für den Weltkonflikt aus?

Momentan werden 99 Prozent der globalen Ressourcen einem kleinen Teil der Welt vorbehalten. Das kann auf Dauer nicht halten. Dieses Ungleichgewicht muss im Laufe des Jahrhunderts beseitigt, die Kluft zwischen den Völkern vermindert werden. Erreicht werden kann dies nur durch eine starke Weltregierung oder eine vergleichbare Organisation, die in der Lage ist, global gültige Gesetze aufzuzwingen. Denn ein Gesetz ist nur dann stark, wenn es von einer starken Exekutive durchgesetzt wird.

Und Ihre Prognose für den Konflikt zwischen Israel und Palästinensern?

Da bin ich zuversichtlicher. Es gibt in der israelischen Bevölkerung eine unterirdische Entwicklung zum Frieden. Als Resultat daraus wandeln sich auch die Parteien sachte, sie entwickeln eine größere Verhandlungsbereitschaft.

Trotz des Wahlerfolges der extremistischen Hamas?

Die Wahl der Hamas sehe ich als Teil dieser Entwicklung. Wenn die Hamas regiert, muss sie die Anerkennung Israels akzeptieren. Ein Friedensschluss mit der Hamas bedeutet Frieden für Israel.

* Uri Avnery ist der Gründer der Friedensbewegung "Gush Schalom"

Aus: Neues Deutschland, 27. März 2006



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