Road Map und Hudna am Ende?
"Eine Droge für den Süchtigen". Von Uri Avnery
Es war ein Putsch. Wie jeder klassische Putsch wurde er von einer Gruppe Offiziere
ausgeführt: von Sharon, Mofaz, Ya'alon und der Militärspitze. Es ist kein Geheimnis, dass die
Militärpartei (und das ist die einzig funktionierende Partei in Israel) vom ersten Augenblick an
gegen den Waffenstillstand (Hudna) war, genau so, wie sie gegen die Road Map war. Ihr
mächtiger Propaganda-Apparat, der alle israelischen Medien einschließt, verbreitete die
Botschaft: "Die Hudna ist eine Katastrophe. Jeder Tag der Hudna ist ein schlechter Tag! Die
Reduzierung der Gewalt auf beinahe Null ist ein großes Unglück: unter dem Deckmantel der
Hudna sammeln sich die terroristischen Organisationen wieder und bewaffnen sich aufs Neue.
Jeder terroristische Akt, der heute vermieden wurde, trifft uns morgen um so härter. Das
Armeekommando war wie ein Süchtiger ohne seine Drogen. Es war ihm verboten, die von ihm
gewünschten Aktionen durchzuführen. Es war gerade dabei, die Intifada zu zerbrechen, der
Sieg lag schon hinter der nächsten Ecke. Was fehlte, war nur noch ein entscheidender
Schlag. - und das wär's dann gewesen. Das Militär war außer sich, als es die neue Hoffnung
sah, die sich in der israelischen Bevölkerung breit machte, das Stimmungshoch bei der Börse,
das Steigen des Schekelwertes, die Rückkehr der Massen zu den Unterhaltungszentren, die
Anzeichen von Optimismus auf beiden Seiten. Das war eine spontane Volksstimme gegen die
Politik des Militärs. Ariel Sharon wurde bewusst, dass wenn dies so weiterginge, dies seine
langfristigen Pläne über den Haufen werfen würde. Darum hatte er schon bei Beginn der
Hudna drei unmittelbare Ziele ins Auge gefasst: Als erstes Abu Mazen so bald wie möglich zu
stürzen. Abu Mazen war George Bushs Liebling geworden, ein willkommener Gast im Weißen
Haus. Sharons einzigartige Stellung in Washington war in Gefahr. Das Paar Bush-Sharon,
das in eine einzige Busharon-Einheit mutierte, war in Gefahr, eine Dreieckbeziehung zu
werden. Eine größere Gefahr für Sharons Pläne gibt es nicht. Zweitens: die Road Map schon
in seinem Anfangsstadium auszulöschen. Der Fahrplan verpflichtete Sharon, über 80
Siedlungsaußenposten aufzulösen, den Siedlungsbau einzufrieren, den Mauerbau zu stoppen
und die Armee aus allen Westbank-Städten zurückzuziehen. Sharon wäre es nicht einmal im
Traume eingefallen, auch nur eine dieser Verpflichtungen einzugehen. Drittens: den
Waffenstillstand zu beenden und der Armee wieder in allen palästinensischen Gebieten freie
Hand zu geben. Die Frage war nur, wie konnte das erreicht werden, ohne dass der leiseste
Verdacht auf Sharon fiel? In der großen Mehrheit der Israelis, die den Waffenstillstand
begrüßt hatten, durfte unmöglich der Verdacht hochkommen, dass die eigenen Führer dafür
verantwortlich waren, wenn dieser Funken Hoffnung ausgelöscht wird. Und was noch wichtiger
war, es war unbedingt erforderlich, dass eine solch bösartige Idee nicht etwa in den
unschuldigen Kopf des guten George W. Bush gerät. Alle Schuld muss auf die Palästinenser
fallen, damit sich die Sympathie für Abu Mazen in Verachtung und Hass wandeln würde. Um
dieses Ziel zu erreichen, wurden die Mittel sehr sorgfältig ausgewählt, und die simplifizierte
Weltsicht von Bush mit seinen "Guten und Bösen " berücksichtigt. Die Bösen sind die
Terroristen. Deshalb war es ratsam, Hamasleute und Jihad-Militante zu töten. Das würde Bush
nicht weiter aufregen. In den Augen des Präsidenten ist das Töten von Terroristen eine "gute
Tat". Die Folge davon: die Palästinenser würden gezwungen sein, die Hudna zu brechen.
Und so geschah es auch:
Am 8.August töteten israelische Soldaten zwei Hamas-Militante in Nablus. Aber die Rache war
minimal. Am 12.August tötete ein Hamas-Selbstmordattentäter einen Israeli in Rosh-Ha'ayin,
und ein anderer Attentäter tötete eine Person in der Siedlung Ariel. Beide kamen von Nablus.
Hamas verkündigte aber, dass die Hudna weiterginge. Am 14.August tötete die israelische
Armee Muhammad Sidr, den Chef des militärischen Flügels von Hamas in Hebron. Fünf Tage
später, am 19.August, sprengte sich ein Attentäter aus Hebron in einem Bus in Jerusalem in
die Luft und tötete dabei 20 Männer, Frauen und Kinder. Zwei Tage später, am 21.August
ermordete die Armee Isma'il Abu Shanab, den vierthöchsten Hamasführer.
Diesmal war es unmöglich, auf das Opfer die Bezeichnung "tickende Bombe" zu heften, wie es
in anderen Fällen üblich war. Der Mann war ein wohlbekannter, politischer Führer. Warum
wurde er unter vielen anderen ausgewählt? Ein Militärkorrespondent beim israelischen
Fernsehen versprach sich: Abu-Shanab wurde getötet, weil er ein leichtes Ziel war. Er war
nach dem Busattentat nicht in den Untergrund gegangen, wie es die Führer des militärischen
Flügels taten. Zu guter Letzt wurde diesmal das Ziel erreicht. Die palästinensischen
Organisationen verkündeten das Ende der Hudna. Sharon & Co freuten sich. Innerhalb
weniger Stunden drang die israelische Armee wieder in die Zentren der palästinensischen
Städte ein und begann eine Orgie von Verhaftungen und Hauszerstörungen - mehr als 40 an
einem einzigen Tag. Der Abhängige stürzte sich auf die Droge. Seine Krise war zu Ende; die
Offiziere konnten wieder all das tun, woran sie neun Wochen lang verhindert waren. Aber die
Situation wird nicht an den - sagen wir mal - Status quo ante Intifada zurückkehren. Die
Angriffe und Morde werden häufiger und grausamer. Der Mauerbau tief innerhalb des
palästinensischen Gebietes wird beschleunigt werden, wie auch die Bautätigkeiten in den
Siedlungen.
Die militärische Propaganda-Maschinerie bereitet die Öffentlichkeit schon auf die "Vertreibung
Arafats" vor; "Vertreibung", hier ein Euphemismus, von der "Wortwäsche" Sektion der Armee
produziert, einer ihrer produktivsten Abteilungen. Es ist nicht die Absicht, den Führer aus
seiner Ramallahruine zu vertreiben - auch nicht aus Palästina - sondern aus dieser Welt. Wie
die Reaktion der Palästinenser und der ganzen arabischen Welt aussehen wird, kann
vorausgesagt werden. Man würde an einen historischen Punkt geraten, der keine Rückkehr
erlaubt - vielleicht würde er die Chancen für einen Frieden generationenlang unmöglich
machen. Und die Amerikaner? Niemals hat die Bush-Regierung so bemitleidenswert
ausgesehen wie hier und jetzt. Mit dem unglücklichen und stotternden Colin Powell muss man
Mitleid haben, und sein Beauftragter John Wolf, ein Wolf ohne Zähne, wird den Weg all seiner
Vorgänger gehen.
Nach der Zerstörung der neuen Ordnung in Afghanistan und dem klassischen Guerillakrieg
jetzt, der das verhasste Besatzungsregime im Irak in den Abgrund zu stürzen im Begriffe ist,
wird der Kollaps der Road Map jeglicher Anmaßung des Präsidenten ein Ende setzen. Es ist
sehr viel einfacher, sich in Uniform als glorreicher Sieger mit militärischen Extravaganzen als
Hintergrund photographieren zu lassen, als eine weise Politik zu betreiben. Die neue
Gewaltwelle wird die wirtschaftliche Depression in Israel natürlich verschlimmern. Die Krise
wird sich verstärken. Zusammen mit dem Waffenstillstand und der Road Map werden der
Tourismus, ausländische Investitionen und die Erholung auch dahingehen. Auch die
Wirtschaft ist wie ein Drogenabhängiger: Neun Milliarden Dollar als
US-Regierungs-Darlehensbürgschaften warten in Washington auf Sharon. Das sollte genug
sein für die politische und militärische Elite. Nur die Armen werden ärmer. Aber wen kümmert
das?
All dies wird getan, ohne die israelische Öffentlichkeit zu befragen. Es gibt keine offene
Diskussion, keine Debatte in den lahmen Medien, in der stummen Knesseth und dem
Marionettenkabinett. So war ein Putsch möglich.
Zusammengefasst: die Road Map ist gestorben, weil Sharon von Anfang an gegen sie war.
Bush sah sie nur als eine Photomöglichkeit mit einem photogenen Hintergrund an. Abu Mazen
erhielt von Israel und den USA nichts, was er als eine palästinensische Errungenschaft hätte
präsentieren können.
Was wird nun geschehen? Nach noch mehr Blutvergießen und vielen Tränen werden die
beiden Völker noch einmal zu der Überzeugung kommen, dass es besser sei, zu einer
Übereinkunft zu kommen und Frieden zu schließen. Dann werden sie gezwungen sein, die
Lektion des letzten Kapitels zu lernen: Es muss alles mit dem Ende beginnen. Erst wenn das
Bild des endgültigen Abkommens klar zum Vorschein kommt, kann man sich mit den
augenblicklichen Problemen befassen. Alles andere wäre ein Fahrplan in die Hölle.
Übersetzt von: Ellen Rohlfs
Quelle: uri-avnery.de / ZNet Deutschland 23.08.2003
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