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Üble koloniale Ränkespiele

Vor 90 Jahren: Die Balfour-Deklaration legte die Saat der Gewalt in Nahost

Von Arne C. Seifert *

Am 2. November 1917 bestätigte der britische Außenminister Arthur James Earl of Balfour (1848-1930) in einem Brief an Lord Rothschild, was das Foreign Office in fast zweijährigen Verhandlungen mit Abgesandten der Zionistischen Weltorganisation ausgemacht hatte: »Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Pa-lästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.« Dieses Schreiben ging in die Geschichte des Nahen Ostens und der internationalen Beziehungen als »Balfour-Deklaration« ein.

Bereits zwanzig Jahre rang die zionistische Bewegung, die sich die Lösung der »Judenfrage« auf die Fahne geschrieben hatte, weitgehend erfolglos um Unterstützung durch die Großmächte. Die vom Wiener Journalisten Theodor Herzl (1860-1904) am 29. August 1897 im Saal des Stadtkasinos von Basel ins Leben gerufene Zionistische Weltorganisation nannte als ihr Ziel »die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« für das jüdische Volk. Herzls Nachfolger, darunter David Wolffsohn (1856-1914) und auch der spätere erste Präsident Israels Chaim Weizmann (1874-1952) kalkulierten im Vormachtgerangel Großbritanniens, Frankreichs und des zaristischen Russlands um die Aufteilung des osmanischen Erbes im Nahen und Mittleren Osten nüchtern. »Wenn Großbritannien verhindern will, daß Palästina einer anderen Macht zufällt, so muß es auf der Hut sein und jedem Eindringen anderer Mächte einen Riegel vorschieben«, schrieb Chaim Weizmann im März 1915 an den Herausgeber des »Manchester Guardian«, C.P.Scott. Er bot die Dienste eines jüdischen Staates an: »Ein starker jüdischer Staat in der ägyptischen Flanke ist ein wirksamer Schutz gegen jede etwaige Gefahr vom Norden. England hätte in den Juden die geeignetsten Vermittler, die besten Dolmetscher ihrer Ideen in den östlichen Ländern, sie wären eine Brücke zwischen zwei Zivilisationen.« Zwar sei letzteres nicht unbedingt ein praktisches Argument, gab Weizmann zu, doch dürfte es »sicher bei einigen Politikern, die gern fünfzig Jahre voraussehen, schwer ins Gewicht fallen«.

Es fiel ins Gewicht. Weizmann hatte sich nicht getäuscht. Es wog um so mehr, als sich nach dem britisch-französischen Sykes-Picot-Geheimabkommen vom Mai 1916 – das die arabische Welt in Einflusszonen aufteilte und das nach der Oktoberrevolution 1917 von der jungen Sowjetregierung als ein Dokument der Geheimdiplomatie des Zarismus veröffentlicht wurde – die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Nahen Osten weiter zuspitzten. Hinzu kam das Unabhängigkeitsstreben nationaler arabischer Kräfte. Im Ersten Weltkrieg hatten sie auf Seiten der Entente gegen die türkische Vorherrschaft gekämpft. Dafür war ihnen von Großbritannien und Frankreich versprochen worden, dass sie nach dem Sieg unabhängige arabische Staaten zulassen würden. Nun begannen die Araber die Einlösung des Versprechens zu fordern.

Der britischen Regierung war in dieser Situation daran gelegen, Argumente für die Errichtung ihres Mandats über das Zentrum der arabischen Welt, Palästina, zu bekommen. Sich für die Errichtung einer jüdischen Heimstatt einsetzen zu wollen, erschien den englischen Politikern als eine international wirksame Begründung. Also verband man in der britischen Re-gierung die zionistische Idee von der Gründung des Judenstaates mit dem eigenen Bestreben nach dem Mandat über Palästina.

Im Sommer 1916 nahmen Vertreter der zionistischen Bewegung und Mark Sykes, stellvertretender britischer Verteidigungsminister und Mitverfasser des Sykes-Picot-Abkommens, Verhandlungen auf. Nahezu ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, ehe die Welt erfahren durfte, was damals ausgehandelt wurde. Zwei Journalisten der »Sunday Times« veröffentlichten 1969 in ihrem Buch »Die geheimen Leben des Lawrence von Arabien« Top-secret-Archivpapiere des britischen Außenministeriums: Die Vertreter der zionistischen Bewegung verpflichteten sich, England bei der Herbeiführung und Errichtung des britischen Mandats in Palästina zu unterstützen, wenn die Krone als Gegenleistung eine jüdische Heimstatt förderte. Das Foreign Office formulierte das britische Einverständnis über den Brief Balfours an Rothschild. Bereits einige Tage zuvor, am 11. Oktober 1917, waren britische Truppen unter General Allenby in Jerusalem einmarschiert.

Im Februar 1919 unterbreiteten Delegierte der zionistischen Bewegung auf der Pariser Friedenskonferenz eine Karte vom zukünftigen jüdischen Staat. Zu diesem sollten gehören: im Norden ein bedeutender Teil des heutigen Libanons mit den Häfen Tyr und Saida, der größte Teil Syriens, die Golanhöhen, die Städte Banias und Kuneitra, im Osten das gesamte Westufer des Jordans, im Süden der Hafen Akaba, das Gebiet von Gaza und ein bedeutender Teil der Sinaihalbinsel.

Auf der Konferenz von San Remo im April 1920 bekam die britische Krone das Mandat über Palästina zugesprochen, fixiert im Friedensvertrag von Sèvres am 10. August 1920. In der Präambel des Mandatsvertrages war der wichtigste Teil der »Balfour-Deklaration« verankert: In Palästina seien solche »politischen, administrativen und wirtschaftlichen Bedingungen« zu schaffen, dass die Errichtung einer jüdischen Heimstätte gewährleistet würde.

Eines der übelsten kolonialen Ränkespiele der Geschichte war über die Bühne gegangen. Großbritannien hatte Palästina zeitgleich arabischen Emiren wie der zionistischen Bewegung versprochen – im Wissen darum, dass jede Seite danach trachten würde, die andere zu verdrängen. Divide et impera. Die britische Kolonialmacht hatte die Saat für Feindschaft, Hass und Gewalt gelegt, die bis heute Frieden in Nahost verhindern.

Ironie der Geschichte: 90 Jahre nach der »Balfour-Deklaration« ist Tony Blair zum Repräsentanten des internationalen Nahostquartetts für die Lösung des Konfliktes berufen worden. Die Hoffnung ist gering, dass er – der an Bushs Seite britische Truppen in den Irak führte und ein »master of desaster« westlicher Nahostpolitik ist – die erforderliche Weitsicht aufzubringen vermag, aus der eigenen Kolonialgeschichte Lehren zu ziehen. Der Schatten des Arthur James Lord Balfour ist lang.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Oktober 2007


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