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Der Konflikt um Jerusalem

Von Ulrike Bechmann

Am 18. November 2002 referierte Ulrike Bechmann im Rahmen der Universitätsvorlesung 2002/2003 über das Thema "Jerusalem: Konflikt um die 'Heilige Stadt'?" Wir dokumentieren hierzu anstelle des Vortragsmanuskripts, das mit zahlreichen Dias und Kartendarstellungen versehen war, einen inhaltlich vergleichbaren Aufsatz, der soeben in einem Sammelband erschienen ist und den die Autorin herausgegeben hat (bibliografischer Hinweis am Ende des Textes).


Jerusalem - der Name der Stadt hat einen poetischen Klang. Jerusalem, die goldene Stadt auf dem Berg, die heilige Stadt der drei Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Mit dieser Stadt sind über Jahrtausende Mythen, Symbole, Sehnsüchte und gläubige Hoffnungen verbunden. Früher blieb sie für die meisten Menschen unerreichbar, vorstellbar nur in Bildern, Symbolen und der eigenen Phantasie. Doch die Moderne hat Jerusalem leicht erreichbar gemacht und der gegenwärtige Konflikt um Jerusalem, der seine Wurzeln im letzten Jahrhundert und in Europa hat, internationalisierte Jerusalem mehr denn je. Und so steht heute die politische Realität und der Alltag in Jerusalem im Brennpunkt eines weltweiten Interesses. Jerusalem ist Symbol geblieben, aber die Symbolik fließt in die moderne Geschichte Jerusalems und die Wahrnehmung dieser Konfliktgeschichte ein. Dies trägt nicht immer zum besseren Verständnis des Konflikts bei. Denn so symbolträchtig dieser Konfliktort Jerusalem auch ist: Es geht um die Lebenswelt von Menschen, deren ganz realen Bürgerrechte, Existenzmöglichkeiten und um Grenzen. Eine Erklärung des Konflikts auf religiöser Ebene lässt weite Teile des Problems außer Acht. Sie verführt dazu, den Konflikt für unlösbar zu halten - weil er mit Religion verbunden ist. Doch gerade hier liegt die Gefahr, denn es ist geradezu umgekehrt: Ist der politische Konflikt erst einmal gerecht gelöst, dann lässt sich über religiöse Aspekte (z.B. Zugänge zu Heiligtümern) leichter eine Lösung finden. Die Konfliktlinien, die sich in Jerusalem finden lassen, sollen hier nachgezeichnet werden.

1. Jerusalems Altstadt

1.1. Die historischen "Heiligen Stätten" der Altstadt Jerusalems

In die Altstadt von Jerusalem strömen in ruhigen Zeiten die Touristen und Pilger als dem historischen Kern, wo die religiösen Erinnerungsstätten liegen. Eng nebeneinander, zum Teil sogar historisch miteinander verzahnt, bündeln sich hier die "Heiligen Stätten". Diese sind von Ost nach West:
  • Der Felsendom mit der Aqsa-Moschee, arabisch al-Haram as-Sharif als drittwichtigste Heilige Stätte für die Muslime nach Mekka und Medina, erbaut unter der ersten Kalifendynastie ca. ab dem Jahr 650. Mit einer Pilgerfahrt dorthin kann man die religiöse Pflicht des Hadsch nach Mekka erfüllen, den man mindestens einmal im Leben durchführen sollte. Am Haram haften viele religiöse Traditionen. Hier soll die Schöpfung begonnen haben, und das Jüngste Gericht wird ebenfalls hier stattfinden. Am Haram leben die Traditionen um die koranischen Propheten Ibrahim, Suleiman und Dacud, Abraham, Salomo und David. Der Felsendom symbolisiert Paradiestraditionen. Schließlich wurde Jerusalem relativ früh mit dem Ort identifiziert, der im Koran in Sure 17,1, der "entfernteste" Ort (aqsa) heißt. Von hier aus trat Muhammad seine Himmelsreise an, wo er in der Begegnung mit Musa und cIsa, Mose und Jesus als Siegel der Propheten legitimiert wurde.
  • Die Westmauer, auch Klagemauer genannt, ist gleichzeitig Teil der alten Außenmauer des Areals, das von den Juden als Tempelberg bezeichnet und verehrt wird, von den Muslimen als Haram as-Sharif. Auf dem Plateau hat der im Jahre 70 n.Chr. zerstörte jüdische Tempel gestanden. Er galt als Zentrum der jüdischen Welt und wird deshalb bis heute als Ort des Gebetes verehrt. Hier war der Wohnort der Schekhina, der Einwohnung Gottes. Bereits in der jüdischen Tradition galt der Tempel als der Ort, von dem aus die Schöpfung begann. Der Tempel wurde bald mit dem Berg Zion identifiziert. Das Endgericht, die Wiederkunft des Messias und Davidssohnes, wird vom Zion aus erwartet. Der Tempel bildete außerdem das Ziel der Wallfahrten und zog Menschen aus dem Land selbst wie aus der ganzen jüdischen Diaspora an. Am Tempel brachte man die Opfer dar, mit seiner Zerstörung endete der Opferkult. Aber jüdische Frömmigkeit blieb bis heute in vielfältiger Weise auf Jerusalem und darin besonders auf die Westmauer als der dem früheren Heiligtum nächste Ort bezogen.
  • Die christlichen Heiligen Stätten liegen im heutigen Zentrum der Altstadt. Die Via Dolorosa, die an den Leidensweg Jesu erinnert, führt direkt am Gelände des Haram as-Sharif vorbei zur Anastasis, der Auferstehungskirche, wie sie nach der einheimischen orthodoxen Tradition heißt. Im Westen hat sich für den erstmals von Konstantin dem Großen gegründeten Bau der Name Grabeskirche eingebürgert. Sie ist zentrale Erinnerungsstätte für Jesu Tod auf Golgatha, seiner Grablegung und seiner Auferstehung. Auch hier finden sich Traditionen um Schöpfung und Jüngstes Gericht. Das Heilige Grab in der Rotunde der Kirche, von Christen und Christinnen weltweit verehrt, ist Mittelpunkt der Auferstehungsfeier.
Die touristische Perspektive und auch die der Pilger und Pilgerinnen lassen leicht vergessen, dass diese Stätten nicht wegen der vielen Menschen von auswärts bestehen, sondern weil ortsansässige Gläubige sie mit Leben erfüllen, die Traditionen und Erinnerungen wach halten und ihren Glauben in ihrem Alltag heute bezeugen. Die Heiligen Stätten gehören zum Alltag der Menschen. Sie liegen an ihren Einkaufswegen. Die Muslime Jerusalems gehen auf dem Haram aus und ein. Kinder spielen dort auf dem weiten Gelände, die Bibliothek wird zum Studium genutzt. Soziale Stiftungen und die Haram-Verwaltung haben dort ihre Büros. Und an hohen Festtagen füllen vor allem die Menschen der Stadt und der Umgebung Jerusalems das große Gelände zum Gebet.

Seit Jahrhunderten gehört es zur Sehnsucht religiöser Juden und Jüdinnen, an der Westmauer des Tempelberges zu beten. Besonders an Feiertagen ist der gesamte Platz vor der Mauer mit Gläubigen gefüllt. Am Shabbat verwandelt er sich gewissermaßen in eine Synagoge unter offenem Himmel. Hier finden auch offizielle Feiern des Staates Israel statt.Jeden Tag finden sich Betende an der Westmauer ein, allein oder mit Familie. Die Frauen bringen ihre Kinder mit, hier trifft man sich auch und unterhält sich - meist beobachtet von Touristenscharen. Besonders orientalische Juden feiern hier gerne die Bar Mizwa, das Fest der religiösen Mündigkeit ihrer Söhne.

Die Via Dolorosa wird nicht nur von Touristen besucht. Die einheimischen Christen und Christinnen leben hier ihre je unterschiedlichen religiösen Traditionen, besonders in der Karwoche. Viele aus der christliche Bevölkerung des Landes kommen zu Ostern nach Jerusalem, um an den Heiligen Stätten die Kar- und Osterwoche zu begehen. Die vielen Kirchen orthodoxer oder westlicher Traditionen, die sich in Jerusalem angesiedelt haben, versammeln jeweils eine Gemeinde um sich. Am Fest der Auferstehung in der Grabeskirche herrscht drangvolle Enge, wenn das Osterfeuer und der Ostergruß, Christus resurrexit, weitergegeben und bejubelt wird. Doch Jerusalem ist mehr als ein Ort Heiliger Stätten!

1.2. Lebenswelten in der Altstadt Jerusalems

In der Geschichte der Stadt waren Religion und Politik immer sehr eng miteinander verknüpft. Hier haben Menschen durch die Jahrtausende hindurch nicht nur gebetet, sondern gelebt. Sie fanden immer wieder Wege, miteinander zu leben, sich zu respektieren und die Vorteile der Unterschiedlichkeit zu nutzen. Aber die Heiligkeit weckte auch Begehrlichkeiten von außen und Rivalitäten im Inneren. Und schließlich hing das Schicksal Jerusalems immer auch von der politischen Einbindung des Landes in größere Machtkonstellationen ab. Die wechselnden, meist fremden Herrschenden, bestimmten das tägliche Leben mehr als die Religion. Auch heute sind Politik und Religion nicht getrennt. Die politische Herrschaft über Jerusalem, die Bewegungs- und Zugangsfreiheit und die Lebensmöglichkeit in Jerusalem orientieren sich an ethnischen Grenzen, die mit religiösen einhergehen. Diese Mischung hat Sprengkraft für das Zusammenleben.
Entsprechend orientalischer Städtebautraditionen ist die Altstadt in Viertel ohne sichtbare Grenzen eingeteilt, in der Menschen verschiedener Religionen miteinander leben. Und dennoch gibt es unsichtbare Grenzen, die normalerweise respektiert werden.
  • Das muslimische Viertel zieht sich entlang des Ostteils der Stadt und reicht an das Gelände des Haram as-Sharif heran. Dieser Stadtteil mit seinen Märkten und Geschäften lebt nicht nur von den Menschen in der Stadt, sondern auch von denen, die außerhalb Jerusalems wohnen. So verkaufen Bäuerinnen von Dörfern hier ihre Waren und kaufen dort die Dinge, die sie nicht im Dorf bekommen. Viele, die in den angrenzenden Gebieten leben, arbeiten in Jerusalem. Eine große Anzahl der Läden haben sich speziell auf die Bedürfnisse der Touristen eingerichtet und sind darauf angewiesen, dass die Altstadt zugänglich und offen ist.
  • Das christliche Viertel einschließlich des armenischen Viertels erstreckt sich westlich des Damaskustores hoch bis zum Jaffator und weiter Richtung Süden bis an die Stadtmauer. Hier leben die christlichen Familien unterschiedlicher Konfessionen, hier befinden sich die Patriarchate und die Anastasis als der ältesten Kirche. Auch hier leben viele vom Handel. Aufgrund der Auswanderung vieler christlicher Familien leben sie allerdings heute als Minderheit mit der muslimischen Mehrheit.
  • Das jüdische Viertel liegt im Südwesten der Altstadt.Der Bogen der zerstörten Churva-Synagoge erinnert daran, dass im Zusammenhang mit israelisch-arabischen Kämpfen 1948 dieses Viertel zerstört und seine Bewohner vertrieben wurden. In dem wiederaufgebauten Viertel finden sich neben Wohnungen, Synagogen und Lehrhäuser teils exklusive Geschäfte und Restaurants. Historische Überreste wie der römische Cardo wurden sorgfältig restauriert. Die Lebensqualität in diesem Viertel orientiert sich an modernen Standards, weil auf freie Plätze und großzügige Anlagen Wert gelegt wurde. So stoßen schon in der Altstadt die verschiedenen Welten aufeinander.

1.3. Der Konflikt um Land in der Altstadt Jerusalems

Der heutige Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern dreht sich um Land. Das wird schon in der Altstadt in vielfältiger Weise sichtbar. Während der jordanischen Herrschaft ab 1949 war den Israelis der Zugang zur ganzen Altstadt und damit auch das Gebet an der Westmauer verboten. Die in Israel sehr oft zu hörende Forderung, eine erneute Teilung der Stadt müsse verhindert werden, hängt mit dieser Erfahrung zusammen. Das heutige jüdische Viertel nimmt einen weit größeren Raum ein als früher und reicht bis an den Platz vor der Klagemauer heran. Dort wurde 1967 das Maghrebinerviertel abgerissen, in dem 600 Menschen lebten. Zunehmend werden aber Häuser außerhalb des jüdischen Viertels von jüdischen Israelis erworben oder besetzt. (vgl. Karte 2) Alle auf dieser Karte mit einem Stern markierten Häuser gehören jüdischen Siedlern. Jede jüdische Einrichtung zieht Militär zur Bewachung, Kontrolle der täglichen Bewegungen der Palästinenser und deren Bedrohung durch die Militärpräsenz nach sich. Der Raum wird immer enger.

Das bekannteste jüdische Haus in der muslimischen Altstadt ist das des jetzigen Ministerpräsidenten Ariel Sharon auf dem Hauptweg vom Damaskustor zur Westmauer. Es wird ständig bewacht, ohne dass Ministerpräsident Sharon je darin gewohnt hätte. Die engen Gassen sind inzwischen an jeder Ecke mit einer Kamera versehen, das tägliche Leben wird vom Militär rund um die Uhr überwacht. Kontrollen sind an der Tagesordnung. Der Zugang zum Haram as-Sharif kann jederzeit verweigert werden.

Diese Probleme in der Altstadt unterscheiden sich nicht von Religion zu Religion, sondern von Israelis zu Palästinensern. Nicht nur Muslimen, sondern auch christlichen Palästinensern wird der Zutritt zu Jerusalem und zum Besuch ihrer Heiligen Stätten bei der Abriegelung verweigert.

2. Das moderne Jerusalem

2.1. Lebenswelten in Westjerusalem

Die religiöse Thematik verstellt oft den Blick darauf, dass Jerusalem mehr ist als die nur etwa 1qkm große Altstadt.
Wie die Altstadt geteilt ist in verschiedene Lebenswelten, so ist es auch die Neustadt. In Westjerusalem begann die erste jüdische Besiedlung Mitte des 19. Jhs. Es wuchs schon in der britischen Mandatszeit schnell neben den arabischen Stadtteilen. Nach der Vertreibung und Flucht der Palästinenser im Krieg 1948 und der Teilung der Stadt entwickelte sich im Westen das jüdische Zentrum. Die Menschen leben heute hier in höchst unterschiedlichen Stadtteilen, die stark durch die jeweilige Kultur der Herkunftsländer ihrer Bewohner und Bewohnerinnen geprägt sind.
Das israelische Parlament, die Knesset, hat hier ihren Sitz. Auch das Grab von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus, ist in Westjerusalem zu finden. Wichtige Museen, jüdische Einrichtungen und die Shoa Forschungs- und Gedenkstätte Yad vaShem wurden in Jerusalem errichtet, ebenso wie die alte Hebräische Universität. Bereits 1949 war das jüdische Neu-Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärt worden. Das arabische Ost-Jerusalem wurde nach dem Sechs-Tage-Krieg Ende Juni 1967 annektiert. Dieser Beschluss wurde 1980 durch ein unwiderrufliches, sogenanntes "Grundgesetz" bekräftigt.
Wer in der Fußgängerzone der Ben Jehuda flaniert, findet auf den ersten Blick keinen großen Unterschied zu Fußgängerzonen anderer westlicher Länder. In Geschäften und Cafés herrscht ein ähnlich moderner Stil vor. Hier wirkt Jerusalem ganz säkular. Doch das ist nur eine von vielen Lebenswelt in Jerusalem.

Ganz anders ist das im 19. Jh. gebaute orthodoxe Viertel Mea Shearim. Hier wohnen aus Osteuropa stammende orthodoxe Juden, die besonders streng auf religiöse Vorschriften achten. Ihre messianische Erwartung stellt einige von ihnen sogar in Opposition zum Staat Israel.
Seit den 90er Jahren ist durch die Einwanderung russischer Juden und Jüdinnen eine weitere Facette hinzugekommen. Hier ist ein Metzgereigeschäft im russischen Milieu zu sehen. Inzwischen hat sich eine ganze kulturelle Szene in Russischer Sprache mit Zeitungen, Geschäften und Kulturveranstaltungen gebildet.
Gerade in Jerusalem schlägt sich durch die hohe Zahl ultraorthodoxer Juden die Prägung im Alltag besonders nieder. Hier hat das Oberrabinat seinen Sitz, das zu fast allen Lebensbereichen Stellung nimmt. Oft genug demonstrieren hier ultraorthodoxe Juden für eine strengere Einhaltung des Shabbat oder für religiöse Richtlinien im Alltag. Verschiedene Lebenswelten haben sich selbst im religiösen Lager etabliert, denn auch das Verständnis von Orthodoxie lässt sich in viele Spielarten ausdifferenzieren.
Immer wieder kann man in Jerusalem aber auch Demonstrationen gegen religiösen Zwang erleben. Manche nennen das, was an internen Auseinandersetzungen stattfindet, einen Kulturkampf um die zukünftige Ordnung des jüdischen Staates. Anders als in Tel Aviv lebt man in Jerusalem im öffentlichen Bereich weniger säkular. Insofern ist Jerusalem nicht für ganz Israel repräsentativ. Das Gemisch von sozialen, religiösen und ethnischen Lebenswelten ist reizvoll und macht die Vielfältigkeit des Lebens in Jerusalem aus, doch es ist nicht ohne Spannung. Die Unterschiede zwischen mehr orientalisch oder mehr westlich geprägten Israelis beeinflussen zudem das tägliche Leben. Nach wie vor ist die jüdisch-israelische Gesellschaft voller Dynamik und schnellem Wandel.

Bestimmend ist jedoch heute der äußere Konflikt mit den Palästinensern. Er prägt in zunehmendem Maße das Leben aller jüdischen Jerusalemer. Wenn es nur irgend geht, meiden die Menschen die Altstadt. Auf öffentlichen Plätzen, in Bussen und Einkaufszentren ist die Angst vor neuen Anschlägen zu spüren, die jede und jeden treffen können, unabhängig von der politischen Einstellung. Diese Angst bedroht das tägliche Leben. Jerusalem ist in israelischer Sicht die ungeteilte Hauptstadt Israels. Doch die unsichtbaren Grenzen trennen heute stärker denn je die jüdischen und palästinensischen Lebenswelten.

2.2. Lebenswelten in Ostjerusalem

Al-Quds, die Heilige, heißt Jerusalem kurz und bündig im Arabischen. Tatsächlich sind Jerusalem und seine Umgebung seit mehr als 1300 Jahren arabisch geprägt. Mit Ausnahme der relativ kurzen Kreuzfahrerherrschaft bestimmten Omajjaden, Abbasiden, Ayyubiden, Mamluken und Osmanen die Lebenswelt. So hat beispielsweise Suleiman der Prächtige die heutige Außenansicht des Felsdoms wie die Stadtmauer der Altstadt bestimmt. Das Leben im palästinensischen Jerusalem verläuft vielfach noch in traditionelleren Formen. Die Gesellschaft wirkt relativ einheitlich in einem seit Jahrhunderten erprobtem Miteinander von alteingesessenen Bürgerfamilien und aus den Umland Zugezogenen, von moderner intellektueller und traditioneller religiöser Kultur, von muslimischen und christlichen Gemeinden. Allerdings wirken sich zunehmend auch hier die unterschiedlichen Entwicklungen als Gegensätze aus. Die zunehmende Reislamisierung bereitet manchen Christen wie Muslimen Sorge. Wie die meisten Straßen und viele Bauten von der arabischen Kultur geprägt sind, so auch das Orienthaus. Es ist der Ort des Repräsentanten der Palästinensischen Autonomiebehörde, bis zum Juni 2001 war dies der plötzlich verstorbene Feisal Husseini, der als ein möglicher Nachfolger Arafats galt. Heute residiert Sari Nusseibeh im Orienthus, das Symbol für den palästinensischen Anspruch auf Ostjerusalem und die Altstadt als Hauptstadt des palästinensischen Staates ist.

Jerusalem war und ist für die palästinensische Bevölkerung Zentrum wichtiger Behörden und Institutionen, ist Arbeitsstätte und Handelsplatz. Wer stationäre Behandlung braucht, muss nach Jerusalem, z.B. in das Auguste-Viktoria-Krankenhaus der lutherischen Kirche. In Zeiten der Abriegelung gehen die Behandlungen bis zu 60% zurück, ein Indiz für die starke Bedeutung Jerusalems für das Leben der Menschen im Umland. Auch im industriellen Sektor benötigt Jerusalem das Umland - und umgekehrt. Arbeitsplätze sind in den Dörfern Mangelware. Und es gab immer einen wichtigen Austausch mit den großen angrenzenden Städten Ramallah im Norden, Jericho im Osten und Bethlehem im Süden.
Doch der Zugang nach Jerusalem ist für die Menschen aus den besetzten Gebieten schon seit der Besatzung 1967 streng reglementiert. Man benötigt eine persönliche Zugangserlaubnis, das gilt auch für Ostjerusalem. Diese Erlaubnis muss bei der Militärverwaltung beantragt werden. Dann ist auch eine zusätzliche Erlaubnis für das Auto nötig - die hat nahezu niemand. Und schließlich sind nicht alle Straßen für Palästinenser und Palästinenserinnen offen: Straßen, die für die Siedlungen gebaut sind, dürfen nur Israelis benutzen. Der Zugang kann jederzeit abgeriegelt werden. Besonders seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 ist der Zugang fast unmöglich. In al-Quds zu wohnen wird für die palästinensische Bevölkerung immer schwieriger. Dort plagen Sorgen um Land, um Wohnraum, um den Pass, um Arbeit und die Benachteiligung des palästinensischen Jerusalems in der Stadtentwicklung die Menschen.

2.3. Probleme in Ostjerusalem

Die Umrisse dessen, was als Jerusalem gilt wuchsen, vor allem aber wuchsen die Siedlungen. Seit den siebziger Jahren wurde mit den Bauten begonnen. Heute ist Jerusalem schon von einem großen Ring an Siedlungen umgeben. Ein Großteil der Menschen in Siedlungen auf Jerusalemer Boden leben hier nicht aus ideologischen Gründen. Vielfach sind es wirtschaftliche Überlegungen. Hier zu wohnen hat viele Vorteile. Die Anbindung an die städtischen Zentren ist gut und die Straßen führen schnell zum Arbeitsplatz in Jerusalem oder Tel Aviv. Es gibt hier neue Wohnungen mit einer guten Infrastruktur. Finanziell wird das Wohnen in den Siedlungen in jeder Hinsicht gefördert. Das macht sie insbesondere für Neueinwanderer attraktiv. Und die Siedlungen sind stark abgesichert.

Trotz hoher Steuern wird die Infrastruktur für die palästinensischen Wohngebiete daggen schwer vernachlässigt. Viele Straßen werden nicht an die Kanalisation, die Gas- oder Elektrizitätsversorgung angeschlossen. Dort, wo Bauen erlaubt wurde, handhabte man die Baugenehmigungen für palästinensische Jerusalemer restriktiv. Häuser dürfen nur unter erschwerten Bedingungen neu gebaut und zum Teil nicht einmal renoviert werden. Bei zwei gleich großen Grundstücken bedeutet das: Wenn ein Palästinenser eine Baugenehmigung erhält, darf er nur 50qm Wohnfläche und nur zwei Stockwerke bauen. Ein Israeli darf die gleiche Fläche mit einem acht Stockwerke hohen Gebäude mit einer Wohnfläche von 200qm bebauen. Halten sich Palästinenser nicht an diese Vorgaben, weil sie wegen der größer gewordenen Familie keine andere Wahl sehen, handeln sie illegal und müssen damit rechnen, dass ihr Haus zerstört wird. Wegziehen bedeutet aber immer, die Aufenthaltsgenehmigung und die Identitätskarte als Jerusalemer oder Jerusalemerin zu verlieren.

Die meisten Palästinenser in Jerusalem haben und wollen keine israelische Staatsbürgerschaft, sondern eine Identitätskarte als Jerusalemer. Wenn jemand diesen Status verliert, hat das dramatische Folgen. Im Gegensatz zu den Palästinensern in den besetzten Gebieten ermöglicht er freien Zugang zu Jerusalem und dem Kernland Israels und Anspruch auf das israelische Sozialsystem. Niemand ohne Jerusalemer Status darf ohne Militärerlaubnis in Jerusalem übernachten. Das gilt auch für jemand von außerhalb, der oder die mit jemand aus Jerusalem verheiratet ist. Wer aus Jerusalem wegzieht, z.B. weil er keine bezahlbare Wohnung findet, eine zweite Staatsangehörigkeit hat oder auch sich länger im Ausland aufhält, der verliert seine Identitätskarte. Es wird immer schwieriger, den Status als Ostjerusalemer Bürger oder Bürgerin zu behalten. Seit 1968 verloren 40.000 Palästinenser/innen ihre Residenzrechte, allein 1999 waren davon etwa 12.000 Personen betroffen.
Immer mehr Palästinenser verlieren ihr Recht, in Jerusalem zu wohnen. Wer darf in Zukunft in Jerusalem leben?

3. Jerusalem als Konfliktpunkt in den Verhandlungen

In der Osloer Prinzipienerklärung von 1993 wurde die Behandlung der schwierigsten Streitpunkte auf die Endstatusverhandlungen verschoben. Dazu gehörten die Themen Flüchtlinge, Siedlungen, Sicherheitsregelungen und Grenzen und: Jerusalem. Diese Verhandlungen sollten spätestens 1996 beginnen. Wegen der Verzögerungen beim Verhandlungsprozess und mehrerer Regierungswechsel in Israel wurde aber erst im Sommer 2000 in Camp David zum ersten Mal über diese Punkte gesprochen. Oft wird gesagt, dass der damalige israelische Ministerpräsident Barak der palästinensischen Seite das großzügigste Angebot gemacht habe, das es je von israelischer Seite gab. Statt dieses anzunehmen, habe die palästinensische Seite mit Gewalt reagiert. Tatsächlich ist die Lage komplizierter.

3.1. Was ist Jerusalem?

Die israelische Seite war im Sommer 2000 zwar zum ersten Mal bereit, überhaupt Angebote zu diesen Themen zu machen, über die bis dahin nie gesprochen wurde. Dass sie dabei grundsätzliche Kompromissbereitschaft zeigte, unter anderem in der Jerusalemfrage, war ein großer Fortschritt. Allerdings waren die israelischen Vorschläge im Detail so beschaffen, dass die palästinensische Seite den Eindruck bekam, Israel wolle trotz der gezeigten Kompromissbereitschaft letztlich ein erhebliches Maß an Kontrolle über die palästinensischen Gebiete behalten. Außerdem - und das war der eigentlich schwierigste Punkt - verlangte die israelische Seite im Gegenzug für ihre Kompromissbereitschaft, dass die palästinensische Seite das Ende des Konfliktes erklären müsse, d.h. keine weiteren Forderungen erheben dürfe. Dies setzte die Verhandlungen unter einen Druck, der die bestehenden Meinungsverschiedenheiten noch verstärkte, obgleich man nun endlich angefangen hatte, darüber zu sprechen. Die Schwierigkeiten der Verhandlungen werden deutlich, wenn man sich die Situation auf der Landkarte ansieht. Um die Entwicklung bis heute zu verstehen, soll sie Schritt für Schritt nachgezeichnet werden.

Zur Erinnerung: Ausgangspunkt war der Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947, der für das ganze Jerusalem einschließlich Bethlehem einen neutralen Status vorsah. Tatsächlich ist durch den Krieg im Gefolge der Staatsgründung Israels Jerusalem in ein israelisches und ein jordanisches Gebiet geteilt worden. Die Greenline, die "grüne Grenze" von 1949 grenzt das israelische Gebiet von der Westbank und Ostjerusalem ab. Das westliche Gebiet war das israelische Westjerusalem, das östliche Gebiet war Ostjerusalem, damals noch jordanisch.

Die für heute entscheidende Veränderung erfolgte 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg und der israelischen Eroberung von ganz Jerusalem, der Westbank und Gazas. Die Grenzen des Stadtgebietes Jerusalem wurden jetzt erheblich ausgedehnt, wie die Karte zeigt. Das so neu definierte Jerusalem umfasst einen großen Anteil unbebauten Landes und lässt die bebauten Gebiete möglichst aus. Damit erhalten viele Palästinenser den Status der besetzten Gebiete und verlieren die selbstverständliche Möglichkeit, nach Jerusalem zu gehen. Die offizielle palästinensische Bevölkerung in Jerusalem wird dadurch verkleinert.
Diese Lage hat sich auch nicht verändert, als Israel 1980 den eroberten Teil Jerusalems annektierte, was völkerrechtlich bis heute nicht anerkannt ist. Entscheidende Veränderungen aber sind durch die Siedlungspolitik entstanden.

3.2. Der Konflikt um Land in Jerusalem

Schon bald nach 1967 wurde zügig mit der Besiedlung Ostjerusalems begonnen. 1990 wurde Jerusalem zum bevorzugten Baugebiet erklärt. Allein seit 1993 wurden in Ostjerusalem 46.000 neue Wohneinheiten errichtet. Dadurch entstand eine gewaltige Umschichtung der Bevölkerung. Lebten 1967 in Westjerusalem ca. 200.000 und in Ostjerusalem keine jüdischen Israelis, so änderte sich dies nach 1967. Zwar hat sich auch etwas die Zahl der Israelis in Westjerusalem erhöht. Doch allein von 1990 bis heute stieg die Zahl der jüdischen Israelis in Ostjerusalem von 24.000 auf ca. 200.000 Israelis an.

Während in Israel im allgemeinen jüdische Israelis, die in Ostjerusalem leben, nicht als Siedler betrachtet werden, besteht für Palästinenser kein Unterschied zwischen den Siedlern in der Westbank und dem Gazastreifen und Siedlern in Ostjerusalem. Die Hälfte all derer, die im palästinensischen Verständnis Siedler sind (insgesamt ca. 400.000), lebt auf Ostjerusalemer Boden. Es ist ein erklärtes Ziel, die Verhältnisse der Bevölkerung so zu verändern, dass auch in Ostjerusalem mehr Israelis als Palästinenser wohnen.
Dem Ausbau der Siedlungen steht die Behinderung des Bauens von palästinensischen Wohnungen und Häusern entgegen. 1967 wurde das Land weitgehend als Staatsland deklariert oder auch enteignet. Die prozentuale Aufteilung des Ostjerusalemer Bodens sieht so aus:
  • 34% des Landes wurden für israelische Siedlungen enteignet.
  • 9% des Landes sind zur Enteignung vorgesehen.
  • 44% des Landes ist als "Green land" deklariert, darauf darf nicht gebaut werden.
  • 1995 waren damit nur noch 13% für palästinensisches Wohngebiet vorgesehen. Nach neuen Schätzungen sind es möglicherweise nur noch 7% der Fläche.
Die detaillierte Landkarte sieht heute so aus: (vgl. Karte - nicht vorhanden!) Die in verschiedenen grau eingezeichneten Gebiete sind heute existierende israelische Siedlungen sowie das für israelische Siedlungen beanspruchte Gebiet. Nur die dunkleren Flecken, die mit einem dünnen schwarzem Rand umzeichnet sind, sind erlaubte palästinensische Siedlungsgebiete. Auf den anderen Flächen - auch an die Wohngebiete angrenzend - ist das Bauen verboten, sie gehören zum besetzten Gebiet, meist als Greenland deklariert. Die Gebiete außerhalb der Grenze in dunkelgrau sind die unter palästinensischer Selbstverwaltung stehenden Zonen A (dunkel) B (mittelgrau) und C (hellgrau).

1993 wurde ein neuer Plan für die Stadtgrenzen eines größeren Jerusalem, Greater Jerusalem, erstellt. Auf dieser Karte ist die Grenze der neuen Planung wiederum markiert. Danach soll sich Jerusalem bis an die Grenze von Bethlehem im Süden, bis vor Jericho im Osten und bis vor Ramallah im Norden erstrecken. Jerusalem wäre demnach 420qkm groß. 25% davon lägen im israelischen Kerngebiet, 75% in den besetzten Gebieten einschließlich Ostjerusalems.

Markiert man alles, was unter Land fällt, das Palästinensern nicht zur Verfügung steht (s. Karte, nicht vorhanden!), sieht die Verteilung so aus. Dunkel sind bereits von Israel bebaute Gebiete, mittelgrau die im Plan befindlichen Siedlungen, hellgrau das Gebiet, das für den Siedlungsgürtel beansprucht würde.

Seitdem entstanden weitere Pläne zu Jerusalem: sowohl gemeinsam ausgehandelte Vorstellungen wie der sogenannte Beilin-Abu Mazen-Plan 1995; ebenfalls 1995 entstand gleichzeitig auf israelischer Seite der sogenannte Metropolitan Plan, der Jerusalem doppelt so groß wie Greater Jerusalem vorsieht, einschließlich Ramallah, Bethlehem und das Gebiet um Jericho. Diese Pläne kamen bisher nicht zum Tragen. Was wäre aus palästinensischer Sicht notwendig?

Der Anspruch der Palästinenser auf Jerusalem beruht auf der Anerkennung der UN-Resolution 242. Das bedeutet der Anspruch auf den Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten. Wichtige palästinensische Forderungen berücksichtigen schon, dass die großen Siedlungen direkt angrenzend an Westjerusalem heute kaum mehr rückgängig gemacht werden könnten. Hier liegen Austauschpläne für Landtausch vor. Nach diesem Plan muß für Ostjerusalem, damit es als Hauptstadt dienen soll, folgendes gegeben sein:
  • ein zusammenhängendes Territorium
  • freie Straßen für Palästinenser/innen zwischen den einzelnen Stadtgebieten, Landesteilen und Nachbarländern
  • eine volle Verfügung über das Land
  • Platz für Handel, Wirtschaft und Industrie und
  • freien Zugang aus dem Umland. Unabdingbare Bedingung ist die Souveränität des Staates Palästina über die christlichen und islamischen Heiligen Stätten. Dies wären die wichtigsten Voraussetzungen für die palästinensische Zustimmung. Tatsächlich zur Verhandlung kam aber der Plan, der in Camp David von israelischer Seite vorgelegt wurde.
So sah der Vorschlag aus, den der damalige Ministerpräsident Barak als größtmöglichen Kompromiss vorlegte, über den es keine weiteren Verhandlungen hätte geben dürfen:
  • Jerusalem wird als "Greater Jerusalem" definiert, das sind die hell eingegrenzten Gebiete
  • Die drei Hauptsiedlungsblöcke (Maale Adumim, Gilo, Giveat P...) sollten bleiben, eine Reihe kleinere Siedlungen in der Westbank werden dafür geräumt. Durch Umsiedlung kämen etwa 400.000 Menschen in die Siedlungen in Ostjerusalem. Das bedeutet, dass sich die Einwohnerzahl der jüdischen Israelis in Ostjerusalem mit einem Schlag verdoppeln würde.
  • Die Siedlungen würden Ostjerusalem umzäunen und die beiden "Wohnringe", einen inneren, nahe der Stadt, und einen äußeren, definieren.
  • Der innere palästinensische Ring hätte nur eine begrenzte Autonomie
  • Der äußere palästinensische Ring hätte Autonomie
  • Für die Altstadt sollte nach amerikanischen Vorstellungen ein Sonderstatus gelten: Das armenische und das jüdische Viertel kommen zu Israel, das christliche und muslimische Viertel zu Palästina.
  • Über die Souveränität über den Haram as-Sharif war keinerlei Einigung möglich.
Die Probleme dieses Vorschlags sind auf den ersten Blick sichtbar. Ostjerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates hätte kein souveränes zusammenhängendes Territorium. Man könnte nie von einem Teil in den anderen, ohne viele Checkpoints zu durchlaufen. Sie träg die Handschrift der Homeland-Konzeption, wie sie aus der südafrikanischen Apartheid-Politik bestens bekannt ist. Auch gäbe es keinen gemeinsamen Zugang zur Westbank - dann Staat Palästina. Die Westbank wäre durch die Siedlungen geteilt. Und: es gibt keinen autonomen Zugang zu anderen Ländern. Weder Zollhoheit noch Bewegungsfreiheit, noch Grenzhoheit wären möglich. Es gäbe keine Möglichkeit, Ostjerusalem nach den Ansprüchen seiner Wirtschaft und seiner Bevölkerungszahl zu entwickeln. Der Platz wäre begrenzt, es gäbe keine unabhängige Infrastruktur (Wasser, Gas, Elektrizität, Straßen).

Die Verhandlungen mit solch unterschiedlichen Vorstellungen konnten zu keinem schnellen Ergebnis führen. Es hätte also im Anschluss an die Camp David Verhandlungen vom Sommer 2000 weiterverhandelt werden müssen. Da dies jedoch nicht geschah, wurde die Wut auf palästinensischer Seite immer größer. Wut darüber, dass der Friedensprozess bislang keine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und sogar eine Verschlechterung der Bewegungsfreiheit gebracht hatte, dafür die Beschlagnahmung von Land sowie der Ausbau israelischer Siedlungen und Straßen aber fortgesetzt worden war. Ein Problem des Niedergangs in der Zeit der Verhandlungen waren die sich permanent verschlechternden Lebensbedingungen, vor allem die fehlende Bewegungsfreiheit, die auch viele wirtschaftliche Aktivitäten zum Erliegen brachte.

Dies wird deutlich, wenn man sich die Karte der Zonen A, B und C ansieht, die seit Oslo II eingerichtet sind.
Die Gebiete A (beschränkte Autonomie), B (gemeinsame Sicherheit) und C (volle israelische Besatzung) sind gegeneinander getrennt. Früher, nach 1967, konnte man sich innerhalb des besetzten Gebietes frei bewegen. Seit Oslo gibt es Checkpoints, wenn man von Gebiet A nach B und B nach C usw. wollte. Abriegelung heißt gegenüber der landläufigen Meinung eben nicht, Abriegelung des Gebiets der Westbank gegen Israel, sondern Abriegelung der Zonen gegeneinander - und auch gegenüber Jerusalem. Alle diese einzelnen Zonen sind dann nicht passierbar. Man kommt nicht vom Dorf in die Ortschaft, nicht zum Arzt, nicht zu Geschäften, nicht zum Markt, um zu verkaufen. Man kommt auch nicht vom Dorf auf das Feld, um die Ernte einzuholen oder einfach, um zur Arbeit zu gehen. Es sind Frauen bei der Geburt gestorben, die an Checkpoints gebären mussten, weil sie nicht ins Krankenhaus gelassen wurden; andere Patienten starben, weil sie nicht an die lebensnotwendigen Apparaturen gelangten. Die Kinder der evang. Schule Talitha Kumi kommen bei Abriegelung nur über einen komplizierten Umweg von der Rückseite des Schulgeländes in die Schule. Dort grenzt es an die Zone A, der Vordereingang grenzt an C und ist bei Abriegelung nicht passierbar. Das alles spielt sich im Radius von manchmal nur drei bis vier km ab. Allein seit Beginn der Intifada wurden 50.000 Obst- und Olivenbäume umgehauen, die wirtschaftliche Grundlage vieler Palästinenser, die am Land leben, ist damit für lange Zeit vernichtet. Bis ein Ölbaum Frucht gibt, dauert es mindestens sieben Jahre.

Wirtschaftlich ging es in der Zeit der Verhandlungen steil bergab. Es gibt keine Möglichkeit, Waren zu im- oder exportieren, ohne dass sie durch den israelischen Zoll müssen, dort oft aufgehalten werden und die Steuern in Israel bleiben. Parallel zu den Verhandlungen wurden die Siedlungen immer weiter ausgebaut. Jedesmal wurde dafür Land enteignet, Land für die Zugangsstraße enteignet, Militärposten aufgebaut, Fakten geschaffen. Das Wasserproblem blieb nach wie vor bestehen. Wasser wurde nach wie vor nur willkürlich zugeteilt - zu einem vierfach so hohen Preis, wie er in den Siedlungen gezahlt wird.

Diese ganzen Verschlechterungen wurden hingenommen, weil am Ende die Aussicht auf einen Staat und einen Friedensvertrag stand. Diese Aussicht endete mit dem Scheitern von Camp David. Der Besuch des damaligen israelischen Oppositionsführers Ariel Scharon auf dem Tempelberg musste auf palästinensischer Seite als Provokation aufgefasst werden. Das alleine hätte aber vielleicht noch nicht zu einer derartigen Eskalation geführt. Ausschlaggebender war das Vorgehen der israelischen Polizei gegen die palästinensischen Demonstranten am Tag nach dem Besuch Scharons auf dem Tempelberg/al-Haram as-Sharif, als sieben Palästinenser getötet wurden. Seitdem ist die Frage der Regelung des Konfliktes in den Hintergrund getreten und die Frage, wie ein Ausweg aus dem immer dynamischer werdenden Kreislauf der Gewalt zu finden ist, steht im Zentrum. Dennoch: Auch nach Beginn der Kämpfe wurde im Januar 2001 in Taba noch verhandelt. Dann aber wurde Ariel Scharon zum Ministerpräsidenten gewählt, danach gab es mit der neuen rechten Koalition - trotz Labour-Beteiligung - keine Verhandlungen auf ähnlicher Basis mehr.

So bleibt, immer wieder zu betonen: Die Besatzung insgesamt ist das Problem, für die besetzten Gebiete wie für Ostjerusalem. Solange Gewalt nur einseitig zugeschrieben wird und die Besatzung nicht als Gewalt (an-)erkannt wird, solange kann keine dauerhafte Lösung gefunden werden. Eine grundsätzliche Lösung liegt darin, dass die Besatzung Israels endet. Dies fordert die UNO-Resolution 242 seit 1967 - bisher ohne Erfolg, wie viele andere UNO-Resolutionen auch, die Palästina betreffen. Nicht, dass dies völlig aussichtslos wäre. Es gab tatsächlich schon Zeiten, wo man nahe an einer Lösung war. 1995, vor der Ermordung Rabins, wurde der sogenannte Abu-Mazen-Beilin-Plan ausgearbeitet. Dieser Plan sah eine Landkarte vor, der die an Israel angrenzende Siedlungen Israel zuschlägt und dafür Gebietsaustausch anderswo (im eher unfruchtbaren Süden) vorsieht. Dieser Plan hatte aber ein souveränes und zusammenhängendes Staatsgebiet vorgesehen. Bevor der Plan richtig diskutiert werden konnte, wurde Ministerpräsident Rabin von einem Israeli der Siedlerbewegung ermordet - und damit ging der Plan in den darauffolgenden Ereignissen unter. Alle weiteren Pläne (das Wye-Memorandum, die unterschiedlichen Pläne im Jahr 2000) der Zwischenzeit markieren je eine Zwischenstufe zwischen der Zonenautonomie und dem Abu-Mazen-Beilin-Plan und fallen hinter diesen Kompromiss zurück.
Eine Lösung muss nicht nur Friedensregelungen, sondern auch eine gerechte Lösung beinhalten. Alle Vorschläge, die hinter den internationalen anerkannten Rechten der Palästinenser zurückbleiben und nicht zumindest einen fairen Ausgleich suchen, gehen am tiefsten Grund des Konflikts vorbei. Sie werden keinen Frieden auf Dauer schaffen.

Literatur
  • Cheshin, Amir, Municipal Policies in Jerusalem - An Account from Within, (PASSIA No. 110)Jerusalem 1998
  • Cheshin,Amir / Hutman, Bill; Melamed, Avi. Separate and unequal: the inside story of Israeli rule in East Jerusalem, Cambridge, Mass., 1999
  • Ev. Missionswerk / Verband Evang. Missionskonferenzen (Hg.), Jahrbuch Mission 2000, Jerusalem. Stadt des Friedens, Hamburg 2000
  • Hodgkins, Allison B., Israeli Settlement Policy in Jerusalem - Facts on the Ground, (PASSIA 114) Jerusalem 1998
  • Lemarchand, Philippe / Radi, Lamia, Israel und Palästina morgen. Ein geopolitischer Atlas, Braunschweig 1997
  • Mustafa, Walid, Jerusalem. Population & Urbanization, Jerusalem Media and Communications Center Jerusalem 2000
  • PASSIA (Hg.), Documents on Jerusalem, (PASSIA No. 97) Jerusalem 1996
Informationen über Jerusalem und Karten s. unter www.passia.org; oder www.gush-shalom.org

Der Aufsatz von Ulrike Bechmann ist - ohne Karten und Abbildungen - folgendem Band entnommen:
U.Bechmann/O.Fuchs (Hg.), Von Nazareth nach Bethlehem. Hoffnung und Klage. Mit einem Forschungsbericht von Saleh Srouji, Lit-Verlag: Münster 2002



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