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Die "üblichen historisch-politischen Deutungsmuster"

Reiner Bernstein kritisiert die Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Situation im Nahen Osten

Reiner Bernstein schickte uns eine sehr kritische Stellungnahme zur Nahost-Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag "Einmischung erwünscht: Für eine Zivilisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts" vom Juni 2001 , die wir gern veröffentlichen, auch wenn wir der Meinung sind, dass sie der politischen Absicht der Erklärung nicht ganz gerecht wird. Die Kritik kann aber der weiteren Diskussion in der Friedensbewegung wertvolle Anregungen geben.

Die vom Bundesausschuss am 8. Juni 2001 vorgelegte Erklärung zur Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern seit Beginn der sogenannten Al-Aqsa-Intifada im Herbst 2000 kommt bedauerlicherweise über übliche historisch-politische Deutungsmuster und Überlegungen zu einer friedlichen Zukunft beider Völker nicht hinaus.

1. Zur Analyse des israelisch-palästinensischen Konflikts:

Beim Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung handelt es sich um einen antikolonialen Volkskrieg, der von der überwiegenden Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung unterstützt wird; ohne diese Sympathien wäre er angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse längst zusammengebrochen. Von "unbewaffneten palästinensischen Demonstranten" zu sprechen, auf die das israelische Militär mit dem Einsatz von Artillerie und Kampfflugzeugen reagiert, ist deshalb irreführend. Wer sich vor Ort umschaut, kann sich davon überzeugen, dass die Palästinenser über ein bemerkenswertes konventionelles Waffenarsenal verfügen. Sie setzen es gezielt gegen jüdische Siedlungen im einst arabischen Teil Jerusalems, in der Westbank und im Gazastreifen ein.

Aufgrund der Charakterisierung als Volkskrieg verbietet sich die Metapher vom "archaischen Gesetz des ›Auge um Auge, Zahn und Zahn‹". Was die israelische Seite angeht, erinnert sie an das antijüdische Vokabular im christlichen Europa. Es gibt keine historischen Belege dafür, dass dieser biblischen Weisung (Gen. 21,24) jemals buchstäblich gefolgt worden ist. Statt dessen kam das "ius talionis" zum Zuge, das bei Schäden gegen Leib und Leben adäquate Entschädigungsleistungen verhängte.

Während sich der Analyseteil des Friedensratschlages ausführlich mit der zionistischen Politik während der britischen Mandatszeit und der israelischen Politik seit 1948 kritisch auseinandersetzt, wird auf eine Würdigung arabischer und palästinensischer Fehlentscheidungen und Versäumnisse weitgehend verzichtet. So war für die Ablehnung des UN-Teilungsplans vom November 1947 vorrangig die innerarabische Rivalität um das Territorium Palästina maßgeblich, so dass die Forderung nach einem souveränen palästinensischen Staat erst in den siebziger Jahren erhoben wurde; dass sie bis zum heutigen Tag von den Regierenden in den arabischen Hauptstädten mit Vorbehalten unterstützt wird, weil sie das geostrategische Gleichgewicht in der Region neu ordnen würde und für sie unliebsame Konsequenzen ("Lösung der Kurdenfrage", West-Sahara-Konflikt) nach sich ziehen würde, sei der Ordnung halber hinzugefügt.

Angesichts dieser Zurückhaltung, der sich der Friedensratschlag befleißigt, kann es nicht überraschen, dass er der politischen Instabilität der arabischen Präsidial- und Militärregimes, die demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genügen, und dem weitverbreiteten Unmut der palästinensischen Bevölkerung gegen Arafats Autonomiebehörde, der zu den Ursachen der "zweiten Intifada" gehört, keine Aufmerksamkeit widmet. So ist zwar unbestritten, dass sich die wirtschaftliche Lage der Palästinenser in den vergangenen Monaten drastisch verschlechtert hat, nachweisbar sind aber seit langem auch die Korruption, die Verschwendung und die mangelnde Transparenz gesamtwirtschaftlicher Entscheidungen in der Verantwortung der Autonomiebehörde. Bereits 1995 sah sich der Europäische Rechnungshof zu der Aufforderung an die Brüsseler Kommission veranlasst, die Finanzzuschüsse künftig an abrechnungsübliche Voraussetzungen zu binden. Ende 2000 machten Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga ihre Hilfszusagen von bestimmten bürokratischen Voraussetzungen abhängig. Dass der palästinensischen Bevölkerung angesichts des eigenen wirtschaftlichen Elends der Kauf und die Nutzung neuester Mercedes-Modelle durch Arafats Helfershelfers ("cronies") sowie die alltägliche Demonstration ihrer Macht und ihres Einflusses bitter aufstoßen, gehört zu den innenpolitischen Widersprüchen in den sogenannten Autonomiegebieten. Sie allein der israelischen Besatzung anzulasten, greift zu kurz.

II. Die Überlegungen für die friedliche Zukunft beider Völker:

Die Überlegungen des Friedensratschlages sind nach meinem Eindruck von einer gewissen Ratlosigkeit gekennzeichnet; insofern spiegeln sie die unüberbrückbaren Gegensätze in den Positionen beider Seiten wider. Wenn sie darüber hinaus die Anerkennung der im Mitchell-Report formulierten Grundbedingungen fordern, so übernehmen sie ein politisches Deutungsmuster, dass nach sicherheitsrelevanten Verabredungen (vulgo "Ende des palästinensischen Terrors") der "Deus ex machina" politischer Fortschritte aufsteigen werde. Dabei zeigt der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung nicht erst seit der "zweiten Intifada", dass sich der Verzicht auf Gewaltbereitschaft erst im Zuge messbarer politischer Erfolge einstellen wird. Solange sie ausbleiben, erübrigen sich Hoffnungen und Erwartung an eine Deeskalation.

Die unter Ziff. 15 des Friedensratschlages genannten Grundlagen künftiger politischer Regelungen gehen über international vertretene Vorstellungen nicht hinaus. Dies gilt insbesondere für die Auffassung einer Zwei-Staaten-Regelung und die daraus abgeleiteten Konsequenzen wie Grenzziehung, jüdische Siedlungen, Jerusalem und Flüchtlinge. Bereits in der Prinzipienerklärung vom September 1993 wurden sie bis auf weiteres ausgeklammert. Wer sie jetzt erneut in den Mittelpunkt künftiger Verhandlungen stellt, bekennt sich zur Fortdauer des Status quo. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn der Friedensratschluss die Forderung nach Überwindung der systemischen Asymmetrie beider Seiten sowie nach dem Abbau der mental gepflegten Unebenbürtigkeit in den Mittelpunkt weiter ausgearbeitet hätte, die in weiten Kreisen der israelischen Bevölkerung gegenüber den Palästinensern gepflegt wird. Dazu muss sich Israel dazu durchringen, jede weitere Siedlungsaktivität einzustellen. Erst dieser Verzicht bietet die Chance zur Deeskalation der Gewalt zwischen beiden Seiten, dem Respekt vor der Menschenwürde Geltung zu verschaffen und konkrete politische Schritte zur Aufnahme politischer Verhandlungen. Ob an ihrem Ende ein souveräner palästinensischer Staat stehen wird, bleibt ungewiss.

Unverständlich erscheint die Aufforderung an die deutsche Bundesregierung und die EU, "sich in diesem Konflikt (am besten) neutral (zu) verhalten und sich für die ökonomische Entwicklung und soziale Wohlfahrt in der Region (zu) engagieren". Einer solchen Politik haben sich die Europäer unter dem US-amerikanischen Druck seit Jahrzehnten befleißigt - mit den bekannten Ergebnissen: Verzicht auf abgestimmte politische Initiativen und Reduktion des Engagements auf Finanztransfers und wirtschaftliche Investitionen. Da Europa die politische Führungsrolle den USA überlassen hat, ist sie hilfsweise auf das Argument verfallen, dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt die Friedensbereitschaft unter den Palästinensern fördern werde. Zeev Jabotinsky (1880-1940), Führer der zionistisch-revisionistischen Partei, hat einst vor der Ansicht gewarnt, die Araber Palästinas würden für ein Butterbrot ihre nationalen Ansprüche verkaufen. Er hat recht behalten.

Und schließlich: Es macht keinen Sinn, die Zurückhaltung der deutschen Friedensbewegung im Nahen Osten mit der besonderen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk zu begründen. Auch wenn Israelis die Shoah beschwören und Palästinenser historische Parallelen ziehen, so hat sich der Konflikt beider Seiten längst von dieser historischen Folie gelöst und eine eigene autochthone Gestalt angenommen, trotz propagandistischer Attitüden. Viel sinnvoller wäre es, jenen Aufforderungen auf beiden Seiten Gehör zu schenken, aus der deutschen Verantwortung politische Verantwortung zu ziehen. Die israelischen und palästinensischen Friedenskräfte sind angesichts der Gewaltausbrüche derart geschwächt, dass sie mehr als Solidaritätsadressen brauchen.

Reiner Bernstein arbeitet in der Melanchthon-Akademie Köln und hat vor kurzem das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) vorgelegt.

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