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Die "Road Map" oder die Befürchtung vom frühzeitigen Ende eines waghalsigen Debüts

Von Reiner Bernstein

Die Skepsis will nicht weichen. Die unter dem Namen Oslo firmierenden Vereinbarungen waren aus dem Vokabular und den Arbeitspapieren der Diplomaten schon gestrichen, vom Frieden sprach niemand mehr. Haydar Abd' el-Shafi, Verhandlungsführer in Madrid und Washington zwischen 1991 und 1993, sah keinen anderen Weg als den bewaffneten Kampf. Von Ariel Sharon ist der Satz überliefert, den Siedlungsbau fortzusetzen, ohne dass darüber in aller Öffentlichkeit jubiliert werden müsse. Doch seit seiner Rede im Juni 2002 macht sich George W. Bush um den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern Sorgen: "Es ist unerträglich für israelische Bürger, dass sie mit dem Terror leben. Es ist unerträglich für Palästinenser, im Elend und unter der Besatzung zu leben. Die gegenwärtige Lage bietet keine Aussicht auf ein besseres Leben." Seither nutzt der US-Präsident jede Gelegenheit, seiner Selbstverpflichtung verbal Genüge zu tun, zuletzt auf den Gipfeltreffen in Sharm el-Sheikh und in Aqaba, aber gleichzeitig die Rollenverteilung gegenüber den Europäern, Russland sowie dem UN-Generalsekretär zu klären.

Gegen alle bisherigen Erfahrungen glauben die Verfasser der "Road Map" an das Ende der Perspektivlosigkeit bis 2005. Woraus dieser Optimismus seine Nahrung zieht und worauf sich das jüngste Vertrauen in die eigene Kraft gründet, ist zwar nicht erkennbar, nur eines ist gewiss: Erfolg oder Misserfolg werden endgültig über die politische Glaubwürdigkeit des Westens in der Region entscheiden. Nachdem frühere Initiativen von der Vorstellung ausgegangen waren, dass ein Frieden ohne Wurzeln und Geschichte möglich sei, und deshalb ergebnislos blieben, sollen sich nunmehr unwiderstehliche Friedenschancen auftun. Lange war vermutet worden, dass Bush den Fehler seines Amtsvorgängers Clinton vermeiden wolle und sein präsidiales Prestige nur dann einsetzen werde, wenn der politische Erfolg sicher ist. Dann zwangen ihn die arabischen Vorwürfe, im Irak mit anderer Elle als im israelisch-palästinensischen Konflikt zu messen, zu dem Versuch, das diplomatische Tempo im Nahen Osten zu erhöhen, um die Wogen des Antiamerikanismus zu glätten.

Die Europäer beeilten sich ihrerseits, der "Road Map" einzigartige Qualitäten zuzusprechen. Das Dokument sei der erste Friedensplan in der Geschichte des Konflikts, der von den wichtigsten Akteuren außerhalb der Region gemeinsam erstellt und verabschiedet worden sei. Richtig an dieser Einschätzung ist, dass Europa diesmal von seinem Verbündeten einbezogen wurde, nachdem es bislang systematisch daran gehindert worden war, politisch in eigener Verantwortung zu handeln. Nachdenklich stimmt aber, dass gegenüber dem amerikanischen Monopolismus die Ansätze der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" Europas seit 1992 kaum vorangekommen sind, so dass die stolze Beteuerung Joschka Fischers und Javier Solanas, der alte Kontinent wolle und müsse ein wichtiger Akteur in der Region werden, zumal im Zuge der EU-Osterweiterung reichlich vermessen klingt. Hinzu kommt generell, dass fremde Einmischungen von begrenztem Wert sind, solange beide Völker nicht aus ihrer Mitte heraus die Bereitschaft zum Frieden entwickeln.

Ariel Sharon flüchtete sich einmal mehr in die von links bis rechts strapazierte Wendung von den "schmerzhaften Kompromissen" in der "Wiege des jüdischen Volkes". Über ihr Ausmaß hat er bereits Auskunft gegeben: Er selbst werde darüber entscheiden, was für Israel gefährlich sei oder nicht. Ein Rückzug aus allen Teilen der Westbank kommt nicht in Frage, von der Aufgabe Ost-Jerusalems ganz zu schweigen. Fest steht, dass ein künftiger Staat Palästina mit einer Grenzziehung zufrieden sein muss, die weit hinter den Angeboten von Ehud Barak zurückbleiben. Es rächt sich, dass Arafat in Camp David und in Taba keine eigenen Vorschläge präsentierte und deshalb erneut Abba Ebans Bemerkung bestätigte, dass die Palästinenser keine Gelegenheit versäumen, eine Gelegenheit zu versäumen.

Jenseits solch spöttischer Pointen lassen die drei Phasen des "Wegeplans" - Phase I: Gegenwart bis Mai 2003; Phase II: Juni 2003 bis Dezember 2003; Phase III: 2004 bis 2005 - zumindest sieben erhebliche Schwächen erkennen:

1. Die Initiative kommt um Jahre zu spät. Sie hätte so lange Wirkungen entfalten können, solange die Akteure vor Ort der Formel "Land für Frieden" konstruktive Seiten abgewinnen konnten. Diese Zeit ist jedoch längst abgelaufen, weil Energien an die Stelle von Vernunft und Rationalität getreten sind, die sich offen zu einem apokalyptischen Manichäismus bekennen. Die These, wonach mit dem Regierungsantritt Baraks im Frühsommer 1999 die Epoche der politischen Technokraten angebrochen sei, war schon damals von zweifelhafter Weitsicht geprägt - wie der spätere Hinweis, dass im Irak der Islam keine Rolle spiele. Fest steht, dass die Vitalität des zionistischen und des palästinensischen Nationalismus einer tieferen Quelle als einer auf dem Verhandlungswege beizulegenden geopolitischen Rivalität entspringt: Ihr liegt ein Verständnis von Souveränität zugrunde, das in der vollständigen Verfügung über alle Teile des Landes ein heilsgeschichtliche Axiom erblickt. Diese Weiterung wird im Westen kaum verstanden und treibt seine Regierungen immer von neuem in Hilflosigkeit und Resignation hinein, weil sie mit völkerrechtlichen Prämissen hantieren, denen das theologisch verbriefte Exklusivitätsethos darauf setzt, der höheren Wahrheit eines allmählich aus der Verborgenheit heraustretenden göttlichen Friedens zum Durchbruch zu verhelfen. "Frieden gegen Frieden" lautet die Parole, die ihre biblischen und koranischen Wurzelns nicht leugnet.

2. Die "Road Map" missachtet das der politischen Ebenbürtigkeit innewohnende Prinzip des reziproken Handels. Während die Palästinenser schon in der ersten Phase auf das Ende von Gewalt und Terrorismus verpflichtet werden und den Aufbau von Institutionen vorantreiben sollen, verliert die "Road Map" kein Wort darüber, wie es ihnen gelingen soll, ihre legislativen, exekutiven und judikativen Apparate im Blick auf ihren Staat vorzubereiten. Dagegen ist die israelische Politik angehalten, erst in der dritten Phase einem unabhängigen palästinensischen Staat zuzustimmen, und zwar mit vorläufigen Grenzen. Auch dann erst soll es zu einer dauerhaften und endgültigen Klärung der Themen "Grenzen", "Jerusalem", "Flüchtlinge" und "Siedlungen" kommen. Sharon spekuliert auf die Unfähigkeit in der ersten Phase, um der Einleitung der zweiten und dritten Phase zu entgehen.

3. Der "Wegeplan" versucht, eine große Fülle von Einzelproblemen zu regeln, zwischen denen er normative Junktims herstellt. Wenn einzelne Elemente nicht durchsetzbar sind, droht das gesamte Gebäude samt der vorgegebenen und schon heute überholten Zeitleiste einzustürzen. Wer definiert etwa, ob Siedlungen illegal sind - Sharon benutzte das Wort "unauthorized" -, wenn die "Road Map" davon ausgeht, dass Israels Rückkehr auf die Grenzen vor dem Sechstagekrieg unrealistisch ist?

4. Zwar betonen die Autoren, dass ihr Ziel die Zweistaatenlösung sei, doch faktisch erwarteten sie von Sicherheitsabsprachen politische Fortschritte - eine Auffassung, die den Mitchell- und den Tenet-Plan vom Mai/Juni 2001 scheitern ließ. Während die Uhr der "Road Map" tickt, werden der Ausbau von Siedlungen mit Hilfe der willkürlichen Requirierung palästinensischer Böden, der absurde Bau von meterhohen "Schutzwällen", die brutale Tötung von Zivilisten durch Selbstmordattentäter und die eigenmächtige Liquidierung von radikalen Palästinensern unbeirrt fortgesetzt, ohne dass das "Quartett" dem Geschehen Einhalt gebieten kann. Dass Kofi Annan die Entsendung einer internationalen Schutztruppe zur Entflechtung der Konfliktparteien vorschlägt, unterstreicht einmal mehr, dass den Verantwortlichen die Phantasie für politisch nachhaltige Alternativen zum unerträglichen Status quo fehlt - ganz abgesehen davon, dass die ineinander verwobenen infrastrukturellen und demographischen Verhältnisse getrennte nationale Wege immer weniger zulassen. Es empfiehlt sich ein Besuch der gegenwärtig in der Berliner Auguststraße gezeigten Ausstellung "Territories. Islands, Camps and Other States of Utopia" der beiden israelischen Architekten Eyal Weizman und Rafi Segal, um sich von der umgebremsten Dynamik der israelischen Netzplan-Programme in der Westbank und im Gazastreifen zu überzeugen.

5. Die "Road Map" sieht keine nachdrücklichen Sanktionsmechanismen für den Fall vor, dass eine Partei den Vollzug von Teilschritten verzögert oder gar verweigert. Ob das angekündigte System der Begleitung und Überwachung Eindruck und Wirkung entfaltet, wird davon abhängen, welches Mandat das "Quartett" für sich beansprucht und durchsetzen kann. Dass der "monitoring mechanism" unter amerikanischer Leitung steht, gehört zu den Ansprüchen des Personals im "Fahrersitz", die von Sharons 14 Vorbehalten aufgenommen und von den Europäern bestätigt worden sind. Auch hier ist die politische Weisheit kritisch zu befragen.

6. Die "Road Map" lässt die Einbeziehung der rund eine Million Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft vermissen. Damit bleibt offen, wie die volle Parität zwischen Israel und dem künftigen Staat Palästina funktionieren soll, wenn ihre Glaubwürdigkeit für rund zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung auf sich waren lässt.

7. Ob die arabischen Staaten, die ab 2005 ihre Beziehungen zu Israel vollständig normalisieren sollen, mit den Ergebnissen der israelisch-palästinensischen Vereinbarungen - sollten sie zustande kommen - zustimmen, ist ungewiss: Sie könnten sich düpiert fühlen, weil ihr von den Saudis initiiertes Beiruter Friedensprogramm vom vergangenen Frühjahr durch eine auswärtige Initiative ersetzt werden soll.

Jegliche Vereinbarung zwischen Israel und den Palästinensern wird beide Gesellschaften vor schwere innere Zerreißproben stellen. Sie könnten radikal-fundamentalistische Teile dazu veranlassen, gegen ihre Regierungen Vabanque zu spielen. Solche Sorgen sind um so begründeter, weil sich "Hamas" und "Islamischer Djihad" nicht von Mahmud Abbas' Ankündigung beirren lassen, dem Terror Einhalt zu gebieten, während sich die Gewalt der "Al-Aqsa-Brigaden" aus der notorisch ambivalenten Haltung des "Fatah"-Chefs Arafat speist. Gleiches gilt für die Anhänger der "Ganz Israel"-Ideologie in den Grenzen zwischen Mittelmeer und Jordan, die mit Sharons grundständigen Sympathien rechnen können.

Sollten es alle Akteure an ihrem energischen Willen zur Herstellung und Förderung friedlicher Beziehungen fehlen lassen, besteht aller Grund zu der Sorge, dass die "Road Map" das Schicksal aller früheren Pläne teilt, das des Scheiterns - doch diesmal aufgrund des aufwendigen internationalen Einsatzes mit weit verheerenderen Konsequenzen für den Nahen Osten. Bisher ist den Palästinensern mit massiven Wirtschafts- und Finanzhilfen unter die Arme gegriffen worden, und nun bietet Washington der gesamten Region im bewährten Alleingang die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation und die Einrichtung einer Freihandelszone an. Wenn man einmal davon absieht, dass bis zur vollen Realisierung solcher Absichtserklärungen Jahre vergehen, wiederholen sich mit solchen Plänen alte Untugenden. Denn schon die vom "Barcelona-Prozess" ausgehenden Assoziierungsverträge mit den östlichen Mittelmeer-Anrainern verfehlten ihr Ziel, der Friedensbereitschaft zwischen Israelis und Palästinensern neue Chance zu erschließen, weil sie der Annahme folgten, die Autonomiebehörde sei eine voll handlungsfähige, souveräne Regierung. Nicht von ungefähr haben sich in den Medien fälschliche Begriffe wie "Palästina" und "palästinensischer Ministerpräsident" eingebürgert - trotz des signifikanten Unterschieds zwischen Unabhängigkeit und Autonomie, denen Shimon Peres schon vor Oslo einen bewussten "Grad der Unklarheit und der Doppeldeutigkeit" bescheinigte. Es bleibt dabei, dass erst auf gegenseitige Vereinbarungen gestützte politische Rahmenbedingungen dafür sorgen können, dass Markt, Geld und Kommerz der Region zur Stabilisierung verhelfen, es sei denn, den Palästinensern solle wie in der Vergangenheit mit wirtschaftlichen Wohltaten die nationale Unabhängigkeit abgekauft werden: ein sinnloses und höchst gefährliches Unterfangen.

Homepage: www.Reiner-Bernstein.de


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