Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Land – zwei Staaten? Wie kann eine Lösung im Nahostkonflikt aussehen?

Im "neuen deutschland" debattieren: Knut Mellenthin und Peter Strutynski


Seit Jahrzehnten wird um eine Lösung im Nahostkonflikt gerungen. Bis letzte Woche waren Friedensgespräche zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite auf Eis gelegt. Jetzt deutet sich eine Wende an: Erstmals seit etwa drei Jahren wollen Israelis und Palästinenser direkt miteinander sprechen. Der US-amerikanische Außenminister John Kerry hatte die Gespräche vermittelt. Israel stellte in Aussicht, palästinensische Häftlinge freizulassen. Zugleich forderte Regierungschef Benjamin Netanjahu die Araber dazu auf, Zugeständnisse zu machen, um die Sicherheitsinteressen des jüdischen Staates zu wahren.


Fortlebender Mythos

Von Knut Mellenthin *

Das »goldene« Jubiläum rückt näher. Schon jetzt hält Israel seit über 46 Jahren das Westjordanland, Ostjerusalem und die syrischen Golan-Höhen besetzt. Die beiden letzteren Gebiete hat es förmlich annektiert. Aus dem Gaza-Streifen hat Israel sich vor acht Jahren zurückzogen, kontrolliert aber dessen Küstengewässer und sperrt seinen Luftraum.

Außer Israel stellt kein Staat der Welt, nicht einmal dessen engster Verbündeter, die USA, in Frage, dass es sich um widerrechtlich besetztes Land handelt und dass die dort gebauten Siedlungen illegal sind. Gebiete durch Krieg zu besetzen und sie dem eigenen Staat einzuverleiben, hat mehrere Jahrtausende lang die menschliche Geschichte geprägt. Die Charta der kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründeten Vereinten Nationen enthält jedoch eine eindeutige Absage an dieses Verfahren. Die UNO hat, mit der einzigen Ausnahme der israelischen Eroberungen, dieses Prinzip verteidigt, was ein nicht zu unterschätzender Erfolg ist.

Im Fall des israelisch-palästinensischen Konflikts hat die Weltgemeinschaft jedoch, mit wahrscheinlich irreparablen Folgen, versagt. Die Hauptursache dafür liegt im Konsens der Großmächte, dass gegenüber Israel auf gar keinen Fall wirksamer Druck, schon gar nicht durch internationale Sanktionen, ausgeübt werden darf. Wer, wie es hier geschieht, die Opfer eines Rechtsbruchs auffordert, sich mit dessen Verursachern durch »direkte Verhandlungen« zu einigen, ohne auf diese spürbaren Einfluss nehmen zu wollen, gibt das Prinzip eines für alle verbindlichen, erforderlichenfalls auch durchsetzbaren Rechts auf.

Israel hat nach Lage der Dinge keine Gründe, das seit 46 Jahren gebrochene Recht wiederherzustellen. Die stärkste Partei des Landes, der Likud, lehnt in ihrem 1999 verabschiedeten Programm die Schaffung eines palästinensischen Staaten rundum ab. Wenn Premier Benjamin Netanjahu trotzdem zur Täuschung der internationalen Öffentlichkeit die Palästinenserführung zu Verhandlungen über einen eigenen Staat aufruft, meint er in Wirklichkeit ein Gebilde, dem er zwar eine Fahne und eine Hymne, aber kaum Souveränität zugestehen will. Israel soll die Kontrolle über sämtliche Außengrenzen des Westjordanlandes, einschließlich seines Luftraumes behalten. Israel beansprucht darüber hinaus die gesamte westliche Seite des Jordantales – das Ostufer gehört zu Jordanien – einschließlich der angrenzenden Bergkette.

Dabei geht es nicht zuletzt um die Herrschaft über wichtige Wasserressourcen, und zwar nicht nur über die des Jordan, sondern auch über die Vorkommen in und unter der Bergkette. Das so definierte Jordantal macht rund ein Drittel der Westbank aus. Eine dauerhafte israelische Kontrolle über dieses Gebiet würde die Abhängigkeit der palästinensischen Wasserversorgung von Israel und voraussichtlich auch die derzeitige völlig ungleiche Aufteilung der Ressourcen festschreiben. Erschwerend kommt hinzu, dass Israel nicht nur das arabische Ostjerusalem behalten will, sondern auch die Siedlungen im Westjordanland, in denen schon jetzt rund 300 000 Menschen leben.

Eine »Zwei-Staaten-Lösung« ist, sofern Israel nicht international unter starken Druck gerät, wofür es keine Anzeichen gibt, schon längst nicht mehr realistisch. Als dennoch fortlebender Mythos bezieht diese »Lösung« ihre Kraft nur noch daraus, dass die Alternative eines bi-nationalen demokratischen Staates »vom Meer bis zum Fluss« auf den ersten Blick noch unrealistischer erscheint. In einem solchen Staat wären gegenwärtig nur 53 Prozent der Bevölkerung jüdisch, gibt Juval Diskin, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet von 2005 bis 2011, in einem Artikel zu bedenken, der am 13. Juli in der »Jerusalem Post« erschien. Und die Relation werde sich rasch weiter zu Ungunsten der jüdischen Seite verschieben.

Wenn Netanjahu heute darauf drängt, dass die Palästinenser und die gesamte internationale Gemeinschaft Israel als »jüdischen Staat« anerkennen müssten, geht es um eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft. Innerhalb seiner international anerkannten Grenzen bräuchte Israel keine derartige Rückversicherung, denn der jüdische Bevölkerungsanteil liegt dort bei soliden 75 Prozent. Aber der Versuch, mit solchen Tricks die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit zu zementieren, hat hoffentlich im 21. Jahrhunderts keine langfristigen Chancen. Man sollte anfangen, über einen bi-nationalen Staat nachzudenken, rät Diskin. »Nicht weil ich unbedingt das bi-nationale Modell unterstütze. Sondern vielmehr, weil es allmählich zur einzigen Alternative wird, die noch auf dem Tisch liegt.«

* Knut Mellenthin ist freier Journalist in Hamburg. Er veröffentlicht regelmäßig zum Nahen und Mittleren Osten.


Zweistaatenlösung! Was sonst?

Von Peter Strutynski **

Vor kurzem erschien in der »Süddeutschen Zeitung« ein Bericht über die »illegale« jüdische Siedlung Amona. 2006 war sie von der israelischen Armee geräumt worden – ohne nachhaltigen Erfolg. Damals war es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Siedlern und Sicherheitskräften gekommen. Dass Juden gegen Juden kämpften, war ein Schock für das Land. Was mag Israel erst blühen, wenn Ernst gemacht würde mit der Räumung nicht nur der »illegalen«, sondern aller jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten?

Denn was die Regierung »illegal« nennt, ist nur ein winziger Teil dessen, was Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 »legal« besiedelt hat. Rund 600 000 Menschen leben mittlerweile in den jüdischen Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem sowie auf dem – zu Syrien gehörigen – Golan. In dem Maße, wie sich die Siedlungen samt ihrer militärischen Sicherheitseinrichtungen ausbreiten und das besetzte Land wie einen Flickenteppich aussehen lassen, schwinden die Hoffnungen der Palästinenser auf einen eigenen zusammenhängenden Staat. Der war ihnen von den Vereinten Nationen 1947 versprochen und seither immer wieder in Aussicht gestellt worden.

Der ursprüngliche UN-Teilungsplan hatte für den zu gründenden jüdischen Staat 56 Prozent der Fläche Palästinas vorgesehen, 44 Prozent für die arabische Bevölkerung. Nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948/49 hatte sich das Kräfteverhältnis so negativ für die unterlegene arabische Seite entwickelt, dass Israel nun 78 Prozent des Territoriums einnahm; den Palästinensern blieben 22 Prozent. 700 000 Palästinenser wurden aus ihren Wohnungen und Dörfern vertrieben oder verließen »freiwillig« ihre Heimat. Die Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 wurde von ihnen als »Nakba«, als Katastrophe, empfunden.

Und diese 22 Prozent wurden im Sechs-Tage-Krieg von Israel besetzt und bis heute mit jüdischen Siedlungen übersät. Damit wurden zwar Fakten geschaffen, aber nicht das Völkerrecht außer Kraft gesetzt. Danach ist jegliche Siedlungstätigkeit in besetzten Gebieten illegal. So heißt es in der IV. Genfer Konvention: »Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.« Zahlreiche UN-Resolutionen verlangen seit 1967 die Beendigung der Besatzung, eine Lösung des Flüchtlingsproblems und die internationale Kontrolle über Ostjerusalem. Sowohl die Oslo-Vereinbarung von 1993 als auch die Roadmap 2003 haben das Ziel eines Palästinenserstaates aufrecht erhalten, die Roadmap sogar mit einer konkreten zeitlichen Perspektive: Bis zum Jahr 2005 sollte die »Vision« verwirklicht werden, »dass die zwei Staaten, nämlich Israel und ein souveränes, unabhängiges, demokratisches und lebensfähiges Palästina, in Frieden und Sicherheit zusammenleben«.

Das für die Roadmap verantwortliche hochrangige »Quartett« aus USA, Russland, EU und UNO vermochte es aber nicht, die gut gemeinten Ziele in die Politik umzusetzen. Zwar wird auch heute noch von einer Zweistaatenlösung gesprochen; selbst die rechtsgerichtete Regierung in Tel Aviv tut das. Doch die Realität entwickelt sich in eine andere Richtung. Während die israelische Regierung einen Außenposten auflösen lässt, werden gleichzeitig zehn andere »legale« Siedlungen erweitert. Die Landnahme palästinensischen Bodens geht weiter, die Mauer und andere Sicherheitseinrichtungen fressen sich in die Palästinensergebiete hinein und deren Bewohner werden durch unzählige Checkpoints und Umwege in ihrer Bewegungsfreiheit immer mehr eingeschnürt. Ein selbstbestimmtes Leben sieht anders aus.

So unrealistisch es auch heute scheinen mag, für die Lösung des Nahostkonflikts gibt es nur den vom Völkerrecht gewiesenen Weg. Das setzt die Internationalisierung der Nahostfrage voraus. Dies kann auch mit Abrüstung und Vertrauen bildenden Maßnahmen in der Region beginnen (Entspannungspolitik gegenüber Iran, Syrien). Jeder Schritt, der zur Beruhigung des Pulverfasses Naher Osten getan wird, strahlt positiv auf den israelisch-palästinensischen Kernkonflikt aus. Vorschläge für einen lebensfähigen Palästinenserstaat gibt es genug. Sie müssten aber durch entschiedenen Druck durchgesetzt werden. Jeden Tag, den die Staatengemeinschaft verstreichen lässt, schwinden die Chancen auf einen gerechten Frieden. Die Alternative zur Zweistaatenlösung ist die Fortsetzung des Unrechts und der Gewalt mit der Gefahr einer Explosion der ganzen Region.

** Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler aus Kassel und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. www.ag-friedensforschung.de

Beide Beiträge aus: neues deutschland, Samstag, 27. Juli 2013 ("Debatte")


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