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Was bedeutet, Demokratie im Nahen Osten? Was immer der Westen darunter versteht / What Does Democracy Really Mean In The Middle East? Whatever The West Decides

Manchmal frage ich mich, wann kommt der Moment, an dem Mythos und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge zusammenknallen / by Robert Fisk

Von Robert Fisk

Ich könnte schreien. Seit einer Woche befahre ich die Straßen Bagdads - gefährliche, stinkende Straßen, heiß wie ein Backofen, Straßen, auf denen es zunehmend von Aufständischen und deren Informanten wimmelt beziehungsweise von amerikanischen Soldaten, die verschreckt über Verkehrsinseln preschen. Wenn wir den Amerikanern näher als 50m rücken, zielen sie mit ihren Waffen auf jeden von uns.

Merkwürdig isoliert, wie ein Raumschiff, liegt Saddams alter Präsidentenpalast da. Die Kurden und Schiiten haben den Irak zerrissen - sie verweigerten die Unterschrift unter den Verfassungsvertrag, aus Angst, sie könnten ihre Föderationsgebiete (und die reichen Ölquellen) nicht erhalten, und beides wollen sie nunmal. Die Deadline wurde verpasst. Allerdings habe ich im “realen” Bagdad - außerhalb der Bunker der Grünen Zone - niemanden getroffen, den das geschert hätte.

Als ich heute Abend den Fernseher anschaltete, sah ich Präsident Bush, wie er die Verfassungs-Verhandler! für ihren “Mut” lobte. Dabei war er es doch, der versprochen hatte, die Deadline werde eingehalten.

Mut? Ist es sonderlich mutig, in einer von Zeit und Raum abgehobenen Kapsel zu sitzen, abgeschirmt vom eigenen Volk (durch Betonwälle, die sich über mehrere Kilometer hinziehen) und über die Zukunft einer Nation im Chaos zu streiten? Auftritt Condoleezza Rice. Dies alles sei Teil der “Straße zur Demokratie”, auf der der Mittlere Osten nun wandle.

Zurück auf die wirkliche Straße. Ich stehe an der Bushaltestelle an-Nahda (der Name bedeutet Wiedergeburt - in dieser Situation pure Ironie). Um mich herum die Trümmer eines neuen Bombenanschlags. Zerstörte Polizeiautos, ausgebrannte, pulverisierte Busse (samt Insassen, natürlich), wütend schreiende Frauen und bandagierte Kinder, die ins al-Kindi Hospital geschafft werden - wo schon die nächste Bombe wartet.

Abends wieder vor dem Fernseher. Der lokale Kommandeur der US-Truppen im Distrikt Sadr City (nahe der Busstati! on an-Nahda) ist zuversichtlich: Ja, die Leute hier seien sehr wütend, aber sie würden die lokalen “Sicherheits-”Kräfte (sprich: Amerikaner) unterstützen. Die “Sicherheits-”Kräfte erfahren mehr Unterstützung denn je, sagt er - und jetzt kommt’s: Wir befinden uns “auf dem Pfad zur Demokratie”. Manchmal frage ich mich, wann kommt der Moment, an dem Mythos und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge zusammenknallen. Wann kommt der große Knall? Dann, wenn die Aufständischen eine US-Basis mit Mann und Maus auslöschen? Wenn sie die Mauern rund um die Grüne Zone einreißen und daraus Hackfleisch machen - wie aus dem Rest von Bagdad? Oder wird es auch dann heißen - wie in der Vergangenheit - dies sei ein Zeichen, wie “verzweifelt” die Aufständischen sind? Die furchtbaren Akte (siehe die Bombe an der Bushaltestelle diese Woche) seien nur der Beweis, dass die “Terroristen” verlieren.

Ich stecke im Verkehrsstau. Ein Junge geht neben meinem Wagen her, versucht, mir ein Magazin anzudrehen. W! ieder schmückt Saddams Gesicht ein Cover - wieder und wieder, damit die Bagdader endlich begreifen, wie gut es für sie war, dass sie den Diktator los geworden sind. Nächsten Monat wird man Saddam vor Gericht stellen - oder in zwei Monaten oder Ende des Jahres.

Sechs Deadlines für den Prozess gegen den widerwärtigen alten Mann sind mittlerweile verstrichen - wie so viele Deadlines im Irak. Dennoch erwartet man von den Leuten hier, dass sie immer noch fasziniert und angewidert auf sein Porträt starren. Vielleicht müssen sie in Häusern ohne Strom schwitzen, vielleicht haben sie keine frischen Lebensmittel, weil der Kühlschrank nicht kalt wird, vielleicht stehen sie stundenlang in einer Benzinschlange, vielleicht leben sie in permanenter Todesangst und bedroht von bewaffneten Raubüberfällen, vielleicht gab es in Bagdad im Juli wirklich 1100 Gewalttote (ohne Scherz) - aber Saddam wird vor Gericht gestellt, ist doch eine Ablenkung, oder?

Wer nicht gerade einen Angehörigen! durch Saddams Schurken verloren hat, interessiert sich inzwischen nicht mehr für Saddam Hussein - ich habe jedenfalls keinen getroffen. Saddam ist längst passé, ein Stück Vergangenheit. Das Monster erneut heraufbeschwören, wäre ein Schlag ins Gesicht der Bagdader Bevölkerung - Menschen, geplagt von Trauer, Angst und Befürchtungen, die so groß sind, dass alle Brot und Spiele der Amerikaner sie nicht kompensieren können.

In der Welt jenseits des Irak wiederholen derweil George Bush und Lord Blair of Kut al-Amara, dass wir im Irak die Demokratie auf die Beine gestellt haben - je weiter weg vom Irak, desto glaubwürdiger klingt der Satz. Ja, wir haben den Tyrannen Saddam gestürzt, den Irak erwartet eine große Zukunft, auf internationalen Konferenzen (weit weg vom Irak, natürlich) plant man neue Investitionen für das Land, so sagen sie. Und falls in Europa erneut eine Bombe hochgehen sollte, wird diese Bombe nichts, aber auch absolut gar nichts, mit dem Irak zu tun haben.

The show must go on. Wenn ich zurückkehre nach Beirut bzw. nach Europa fliege, wird der Irak vermutlich gar nicht mehr so schlecht aussehen. Der verrückte Hutmacher (aus Alice im Wunderland) wird nicht mehr so verrückt wirken und die Katze (Chesire Cat aus Alice im Wunderland) lächelt mir vom Baum aus zu.

Demokratie, Demokratie, Demokratie. Beispiel Ägypten. Präsident Mubarak hat sich entschlossen, bei der kommenden Wahl einige Gegenkandidaten zuzulassen. Für Bush ein Zeichen, dass im Nahen und Mittleren Osten die Demokratie anbricht. Nur, dass die Gegenkandidaten durch Mubaraks eigene Parlamentspartei bestätigt werden müssen. Die Moslembruderschaft, theoretisch die größte Partei im Land, ist offiziell immer noch illegal. Aus Bagdad sehe ich mir Mubaraks erste Parteiveranstaltung (zum Wahlkampf) an - eine trübe Angelegenheit, im Grunde der Aufruf, unterstützt mich. Wer wird diese “demokratische” Wahl wohl gewinnen? Ich riskiere die Wette, es wird unser guter, alter Freund Mub! arak sein, und ich wette, er gewinnt mit mehr als 80% der Stimmen. Wir werden sehen.

Von meinem Zimmer in Bagdad aus verfolge ich natürlich auch die Evakuierung der Israelis aus ihren illegalen Siedlungen im palästinensischen Gazastreifen. Natürlich fällt auf BBC nicht das Wort “illegal”. Und natürlich wird nicht gesagt, dass diese Siedler - sprich Kolonisatoren - nicht von eigenem Land vertrieben werden sondern von Land, das sie anderen wegnahmen. Auch findet der nach wie vor stattfindende Ausbau der Siedlungen in der palästinensischen Westbank kaum Beachtung - dabei sind die Kolonien der Westbank nicht weniger illegal. Ein “lebensfähiger” (Lord Blairs Lieblingswort: “viable”) Palästinenserstaat wird so - unweigerlich - verunmöglicht.

Alle haben darauf gewartet, dass israelische Siedler in Gaza das Feuer auf israelische Soldaten eröffnen oder umgekehrt. Dann schoss tatsächlich ein Siedler - und ermordete in der Westbank vier palästinensische Arbeiter. Eine Story, ! die wie eine schwarze Wolke kurz den Bildschirm verdunkelte, Verlegenheit auslöste - um dann gleich wieder zu verschwinden. Die Siedlungen werden geräumt, Gaza wird evakuiert, Frieden in unserer Zeit.

In Bagdad zeigen sich die Iraker, mit denen ich spreche, nicht so überzeugt. Wirklich eine unglaubliche Leistung, dass Menschen, die in der irakischen Hölle leben müssen, sich trotzdem noch Sorgen um die Palästinenser machen und dass sie begreifen, was im Nahen/Mittleren Osten vor sich geht und sich von dem Blödsinn, den George Bush und Lord Blair of Kut al-Amara verbreiten, nicht zum Narren halten lassen. “Was hat es mit dieser ‘üblen Ideologie’ auf sich, von der Blair dauernd spricht?” fragte mich diese Woche ein irakischer Freund. “Auf was kommt ihr als Nächstes? Wann wacht ihr endlich auf?” Ich hätte es nicht besser formulieren können.

The Independent / ZNet 20.08.2005

Internet: www.zmag.de



What Does Democracy Really Mean In The Middle East? Whatever The West Decides

Sometimes I Wonder If There Will Be A Moment When Reality And Myth, Truth And Lies, Will Collide

by Robert Fisk

It makes you want to scream. I have been driving the dingy, dangerous, oven-like streets of Baghdad all week, ever more infested with insurgents and their informers, the American troops driving terrified over the traffic islands, turning their guns on all of us if we approach within 50 metres.

In the weird, space-ship isolation of Saddam’s old republican palace, the Kurds and the Shia have been tearing Iraq apart, refusing to sign up for a constitution lest it fail to give them the federations - and the oil wealth - they want. They miss their deadline - though I found no one in "real" Baghdad, no one outside the Green Zone bunker, who seemed to care.

And that evening, I turn on my television to hear President Bush praise the "courage" of the constitution negotiators whose deadline Bush himself had promised would be met.

Courage? So it’s courageous, is it, to sit in a time capsule, sealed off from your people by miles of concrete walls, and argue about the future of a nation which is in anarchy. Then Condoleezza Rice steps forward to tell us this is all part of the "road to democracy" in the Middle East.

I am back on the streets again, this time at the an-Nahda bus station - nahda means renaissance for those who want the full irony of such situations - and around me is the wreckage of another bombing. Smashed police cars, burnt-out, pulverised buses (passengers all on board, of course), women screaming with fury, children taken to the al-Kindi hospital in bandages to be met by another bomb.

And that night, I flip on the television again and find the local US military commander in the Sadr City district of Baghdad - close to the bus station - remarking blithely that while local people had been very angry, they supported the local "security" forces (ie the Americans) and were giving them more help than ever and that we were - wait for it - "on the path to democracy".

Sometimes I wonder if there will be a moment when reality and myth, truth and lies, will actually collide. When will the detonation come? When the insurgents wipe out an entire US base? When they pour over the walls of the Green Zone and turn it into the same trashed blocks as the rest of Baghdad? Or will we then be told - as we have been in the past - that this just shows the "desperation" of the insurgents, that these terrible acts (the bus station bombing this week, for example) only prove that the "terrorists" know they are losing?

In a traffic jam, a boy walks past my car, trying to sell a magazine. Saddam’s face - yet again - is on the cover. The ex-dictator’s seedy, bewhiskered features are on the front pages, again and again, to remind the people of Baghdad how fortunate they are to be rid of the dictator. Saddam to go on trial next month, in two months’ time, before the end of the year.

Six deadlines for the ghastly old man’s trial have come and gone - like so many other deadlines in Iraq - but the people are still supposed to be fascinated and appalled at Saddam’s picture. You may sweat at home in powerless houses; you may have no fresh food because your freezer is hot; you may have to queue for hours to buy petrol; you may have to suffer constant death threats and armed robbery and your city may suffer 1,100 violent deaths in July alone (all true) but, just to take your mind off things, remember that Saddam is going on trial.

I have not met anyone in Iraq - save for those who lost their loved ones to his thugs - who cares any more about Saddam. He is yesterday’s man, a thing of the past. To conjure up this monster again is an insult to the people of Baghdad - who have more fears, more anxieties and greater mourning to endure than any offer of bread and circuses by the Americans can assuage.

Yet in the outside world - the further from Iraq, the more credible they sound - George Bush and Lord Blair of Kut al-Amara will repeat that we really have got democracy on its feet in Iraq, that we overthrew the tyrant Saddam and that a great future awaits the country and that new investments are being planned at international conferences (held far away from Iraq, of course) and that the next bombings in Europe, like the last ones, will have nothing - absolutely nothing - to do with Iraq.

The show must go on and I know, when I return to Beirut or fly to Europe, Iraq will not look so bad. The Mad Hatter will look quite sane and the Cheshire Cat will smile at me from the tree.

Democracy, democracy, democracy. Take Egypt. President Mubarak allows opponents in the forthcoming elections. Bush holds this up as another sign of democracy in the Middle East. But Mubarak’s opponents have to be approved by his own party members in parliament, and the Muslim Brotherhood - which ought to be the largest party in the country - is still officially illegal. Sitting in Baghdad, I watched Mubarak’s first party rally, a mawkish affair in which he actually asked for support. So who will win this "democratic" election? I’ll take a risk: our old pal Mubarak. And I’ll bet he gets more than 80 per cent of the votes. Watch this space.

And of course, from my little Baghdad eyrie I’ve been watching the eviction of Israelis from their illegal settlements in the Palestinian Gaza Strip. The word "illegal" doesn’t pop up on the BBC, of course; nor the notion that the settlers - for which read colonisers - were not being evicted from their land but from land they originally took from others. Nor is much attention paid to the continued building in the equally illegal colonies within the Palestinian West Bank which will - inevitably - make a "viable" (Lord Blair’s favourite word) Palestine impossible.

In Gaza, everyone waited for Israeli settler and Israeli soldier to open fire on each other. But when a settler did open fire, he did so to murder four Palestinian workers on the West Bank. The story passed through the television coverage like a brief, dark, embarrassing cloud and was forgotten. Settlements dismantled. Evacuation from Gaza. Peace in our time.

But in Baghdad, the Iraqis I talk to are not convinced. It is to their eternal credit that those who live in the hell of Iraq still care about the Palestinians, still understand what is really happening in the Middle East, are not fooled by the nonsense peddled by George Bush and Lord Blair of Kut al-Amara. "What is this ’evil ideology’ that Blair keeps talking about?" an Iraqi friend asked me this week. "What will be your next invention? When will you wake up?"

I couldn’t put it better myself.

The Independent; August 20, 2005

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