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"Arabische Vorschläge ernst nehmen"

27 ehemalige Botschafter der DDR und der BRD fordern eine neue Politik gegenüber dem Islam

Einen neuen Politikansatz gegenüber dem Islamismus und seinen Vertretern haben frühere Nahost-Botschafter der Bundesrepublik und der DDR in einem gemeinsamen Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Josep Borrell, angemahnt, meldet ddp am 20. Feb. In dem Papier erklären die mehr als 25 Ex-Botschafter, Afghanistan, Irak und Tschetschenien hätten gezeigt, dass ein "Krieg gegen den Terror" militärisch nicht zu gewinnen sei. Vielmehr drohten als Folge verschärfte Konfrontation mit politischen Kräften der islamischen Welt und ein Anwachsen des religiös verbrämten Terrorismus. Das Feindbilddenken nehme auf beiden Seiten in Besorgnis erregender Weise zu. Die Außenpolitik-Experten halten deshalb ein konzeptionelles Umdenken in der europäischen Politik und auf islamistischer Seite für notwendig. (ddp-Meldung vom 20. Februar 2005)



Hier geht es zum Brief der ehem. Botschafter im Wortlaut:
"Die Politik des vorrangigen Einsatzes militärischer Mittel hat die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht"
27 ehemalige Diplomaten aus West- und Ostdeutschland (BRD und DDR) schreiben einen bemerkenswerten Brief an das Europäische Parlament - im Wortlaut (3. März 2005)



Im Folgenden dokumentieren wir den Text eines Interviews* mit Arne Seifert, einem der Unterzeichner. Seifert war früher DDR-Botschafter in Kuwait.


F: Sie sprechen für eine Gruppe von 27 Exbotschaftern der DDR und der BRD, die eine neue Politik gegenüber der islamischen Welt anmahnt. Wie soll das aussehen?

Die US-Regierung mußte zugeben, daß weder die angeblichen Massenvernichtungswaffen noch die Unterstützung von Al Quaida durch den Irak als Kriegsgrund haltbar waren. Das fordert meines Erachtens eine gründliche Revision der bisherigen Strategie heraus – an Stelle der Betonung der Militär- und Sicherheitspolitik sind politisch-diplomatische Maßnahmen nötig, die die strukturellen Ursachen des Konflikts angehen.

F: Was sind die strukturellen Ursachen?

Die sehen wir in erster Linie darin, daß Al Quaida und ähnliche Organisationen nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs sind. Der Eisberg selbst ist eine soziale Oppositionsbewegung, die sich immer stärker islamistisch artikuliert. Die islamistischen Netzwerke haben immer mehr Zulauf – der durch den Krieg gegen den Irak verstärkt wird.

F: Vor dem Krieg gegen den Irak gab es einen gegen Afghanistan, beides hat die islamische Welt aufgebracht. Ist das Verhältnis zum Westen reparabel oder ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen?

Ich halte es für reparabel – man muß allerdings in zwei Dimensionen denken. Die erste ist, daß der jetzt drei Jahre dauernde indirekte und direkte Krieg beendet werden muß und daß wir eine friedliche, politische Konfliktregelung brauchen. Wir müssen die Friedensfrage in den Mittelpunkt stellen; wir müssen fragen, wie wir aus dem Terrorismus-Dilemma herauskommen. Zweitens muß nach unserer Ansicht das Schwergewicht auf nichtmilitärische Handlungsdimensionen verlagert werden, wofür vor allem ein politisch-diplomatisches Instrumentarium zu entwickeln ist. Wenn es Europa gelingt, zur Vertrauensbildung überzugehen und schnell und pragmatisch zu Ergebnissen zu kommen, dann würde dieses Signal in der islamischen Welt positiv aufgenommen. Die antiwestliche Stimmung in der islamischen Welt reicht bis in die Kolonialzeit zurück – das zu reparieren erfordert einen längeren Prozeß, der aber jetzt beginnen muß. Europa muß sich auf eine lange Periode einstellen, in der die gesellschaftspolitischen Bewegungen der islamischen Länder ihre Forderungen auf Grundlage des Islam zum Ausdruck bringen. Wir sind der Auffassung, daß Europa Vorschläge für eine Irak-Regelung unterstützen sollte, die aus dem arabischen Raum kommen. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, setzt sich z. B. für die Beendigung der Okkupation ein; für einen Truppenabzug nach einem Zeitplan; für den Wiederaufbau des Irak, der von den Irakern selbst geplant und beschlossen sein muß; für die volle Selbstbestimmung ihrer Zukunft durch die Iraker selbst und nicht durch Fremde.

F: Sie haben Ihre Vorschläge an den Präsidenten des Europäischen Parlaments gerichtet. Warum an diese Instanz?

Wir meinen, daß im Europaparlament die Voraussetzungen bestehen, daß politische Entscheidungen multilateral getroffen werden und nicht dem Monopol nationaler Regierungen überlassen bleiben.

F: Wie kommt es, daß Diplomaten der DDR und der BRD, die sich früher eher spinnefeind gegenüberstanden, jetzt an einem Strang ziehen?

In Berlin gibt es ein Nahostforum von Exdiplomaten der DDR. Hier leben auch ehemalige Diplomaten der BRD, mit denen wir uns regelmäßig ausgetauscht haben. Als wir die Initiative zu diesem Brief ergriffen, haben sich diese Kollegen angeschlossen. Anstoß dazu war, daß sich letztes Jahr eine Gruppe US-Diplomaten in einem Brief an Präsident Bush besorgt über den Irak-Krieg geäußert hatte. Ein ähnliches Schreiben haben britische Diplomaten an Premierminister Anthony Blair geschickt. Uns beunruhigt, daß in der politischen Debatte die Frage so gut wie keine Rolle spielt, wie man aus dem Dilemma des Terrorismus herauskommt. Es ist ein neuer Entwurf nötig. Wir wären dankbar, wenn wir zu einer breiteren Diskussion über die Frage kommen könnten, wie wir zum Frieden mit der islamischen Welt zurückkehren.

* Aus: junge Welt vom 22. Februar 2005 (Interview: Peter Wolter)


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