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Facebook-Revolution?

Bernhard Schmid setzt sich in seinem Buch über die Ursachen der arabischen Aufstände mit Medienlegenden auseinander

Von Gerd Bedszent *

Die vor nunmehr fast einem Jahr überraschend losgebrochenen Revolten in verschiedenen arabischen Ländern sind keineswegs beendet. Was auch nicht verwundern kann – sind die Ursachen der Erhebungen doch in keinem dieser Staaten beseitigt. Die bürgerliche Presse schwankt nach wie vor zwischen Revolutionseuphorie und der Angst vor einem letztlichen Sieg islamistischer Gruppen.

Der kürzlich erschienene Band »Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten« des in Frankreich lebenden Rechtsanwalts Bernhard Schmid vermittelt zahlreiche wenig bekannte Hintergrundinformationen zur Situation in verschiedenen Staaten Nordafrikas und Vorderasiens. Gleichzeitig stellt er schon im Titel das von den bürgerlichen Medien einseitig kolportierte Bild von einer »arabischen Revolution« zwecks Herstellung einer bürgerlichen parlamentarischen Demokratie in Frage.

Legendenbildung

Schmid charakterisiert die Machtverhältnisse in den arabischen Ländern als durchgehend undemokratisch und repressiv, unabhängig davon, ob es sich um überkommene Feudalherrschaften wie zum Beispiel in Saudi-Arabien oder um vergleichsweise moderne Präsidialdiktaturen handelt. Die politische Parteienlandschaft, soweit überhaupt vorhanden, differenziert er in bürgerlich-nationalistische, konservativ-islamische oder prowestlich-liberale Strömungen. Wobei er vor allem die verschiedenen islamistischen Gruppen und Strömungen einer gründlichen Analyse unterzieht. Die Linke ist in all diesen Ländern sehr schwach, zum Teil überhaupt nicht vorhanden. Infolge der Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch das jeweilige Regime werden soziale Proteste häufig entlang ethnischer und religiöser Trennlinien ausgetragen.

Im Buch wird mit der Legendenbildung um die sogenannten Facebook-Revolutionen gründlich aufgeräumt. Schmid schreibt, daß die moderne Infrastruktur über Internet und Mobiltelefone bei der Organisierung der Oppositionsgruppen im Vorfeld der Revolten zwar benutzt wurde, aber keineswegs ausschlaggebend war. Als verschiedene Regierungen per Zensurakt den Internetzugang abschalteten, hatte das auf den Fortgang der Proteste faktisch keinen Einfluß. In Tunesien hätte die Benutzung der neuen Medien durch die Opposition beinahe ein böses Ende genommen: Da Providerfirmen sich im Besitz des Regimes befanden, hatten Informationsministerium und Geheimdienst ungehinderten Zugriff auf sämtliche übermittelten Nachrichten und kannten daher die Identität der Nutzer. Nur die Fülle der auszuwertenden Daten und der schnelle Zusammenbruch des Regimes hat damals eine Verhaftungswelle verhindert.

Die Ursache für die Revolten überwiegend städtischer Jugendlicher sieht Schmid in der zunehmenden wirtschaftlichen Verknüpfung arabischer Länder mit den entwickelten westlichen Industriestaaten. Als Folge unterlag die (ohnehin schwache) einheimische Industrie der Konkurrenz importierter Billigwaren. Es folgte zwar ein begrenzter wirtschaftlicher Aufschwung durch die Umgestaltung einheimischer Produktionsstandorte als Zulieferer für westliche Großunternehmen. Diese beschäftigten aber vorwiegend schlecht ausgebildete Hilfskräfte als Billigarbeiter; die akademisch ausgebildete Jugend war faktisch ohne Erwerbsmöglichkeit. Die Alternativen waren Auswanderung (was durch die Kumpanei ihrer Regierungen mit der westeuropäischen Grenzschutzagentur Frontex weitgehend verbaut war) oder prekäre Beschäftigung in der (bei Schmid als »informeller Wirtschaftssektor« bezeichneten) halblegalen Schattenwirtschaft. Mehrere repressive, aber erdölreiche Regimes, wie beispielsweise Saudi-Arabien, beeilten sich daher auch nach dem Losbrechen der Revolten in den Nachbarstaaten, durch Erhöhung von Sozialleistungen einem befürchteten Überschwappen der Proteste im Vorfeld das Wasser abzugraben. Bisher mit Erfolg.

Bodenbesitzer

Schmid listet in seinem Buch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen arabischer Regimes auf, die zur Wucht der plötzlichen Revolten beitrugen. Er schreibt aber auch, daß eine grundsätzliche Änderung der Verhältnisse mit dem Sturz des tunesischen und des ägyptischen Diktators nicht erreicht wurde. In tunesischen Polizeistationen wird inzwischen weiter gefoltert. Und die ägyptische Armeeführung ist offensichtlich nicht gewillt, ihre bisher herausragende Stellung in der Gesellschaft freiwillig zugunsten eines Demokratisierungsprozesses aufzugeben. Was nicht verwunderlich erscheint – wie Schmid schreibt, ist das Militär größter Bodenbesitzer des Landes; zahlreiche Generäle sind gleichzeitig Unternehmer.

Redaktionsschluß für das Buch war im August 2011. Die Schilderung der Ereignisse bricht zu diesem Zeitpunkt ab. Zum Verständnis der aktuellen Entwicklung liefert es dennoch eine Fülle von nützlichen Informationen, die in der Tagespresse kaum zu finden sind.

Bernhard Schmid: Die arabische Revolution? - Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten. Edition Assemblage, Münster 2011, 118 Seiten, 12,80 Euro

* Aus: junge Welt, 28. November 2011


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