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"Der Dschihad-Terrorismus ist menschenverachtend. Wir müssen ihn bekämpfen und wir müssen ihn besiegen"

Bundesaußenminister Fischer im Gespräch mit dem TV-Sender Al Jazeera

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das der arabische TV-Sender Al Jazeera (Al Dschasira) am 16. Februar 2004 mit dem deutschen Außenminister aufgezeichnet und am 25. Februar ausgestrahlt hat. Der Beitrag steht auch auf der Homepage des Auswärtigen Amts (www.auswaertiges-amt.de).


Interview von Bundesaußenminister Fischer mit dem TV-Sender Al Jazeera zu Nahost, Irak, und einer Partnerschaft mit der arabischen Welt

Frage/Al-Jazeera: Als deutscher Außenpolitiker, der viel von der Mauer weiß: Wie ist es, wenn ein Palästinenser sich über eine israelische Mauer beklagt?

Antwort/Fischer: Das ist eine schwierige Situation dort, vor allen Dingen unter dem Gesichtspunkt, dass wir auf der einen Seite der Meinung sind, dass jede Regierung die Pflicht hat, die eigene Bevölkerung gegen Terror zu verteidigen. Und wenn es dafür eines Zaunes oder einer Mauer bedarf, dann ist das eine Entscheidung der jeweiligen nationalen Regierung. Allerdings kritisieren wir den Verlauf. Wenn, dann hätte dieses und müsste auf der "Grünen Linie" geschehen, diese Position habe ich immer wieder vertreten und habe sie auch gestern vertreten. Aber ohne jeden Zweifel: Was wir brauchen, ist eine politische Lösung dieses Konfliktes, es muss mit Terror und Gewalt ein Ende haben, und das Leiden unschuldiger Menschen auf beiden Seiten, und hier vor allen Dingen auch von Kindern, muss die Verantwortlichen dazu führen, dass der Friedensprozess voran kommt.

Al-Jazeera: Die Mauer auf der "Grünen Linie" würde auch bedeuten: Mitten in Jerusalem. Ist das gemeint?

Fischer: Jerusalem ist ein ganz besonderes Problem, und hier sind natürlich die Statusfragen auch sehr viel schwieriger als an anderer Stelle. Wir wissen, was solche Maßnahmen bedeuten können. Für uns ist es ganz entscheidend, dass wir möglichst schnell einvernehmliche Lösungen herbeiführen, damit diese Fragen sich in Wirklichkeit gar nicht mehr stellen.

Al-Jazeera: Diese israelische Mauer stellt eine negative Begleiterscheinung in diesem Nahost-Konflikt dar; ein Hindernis, wie es Palästinenser sagen. Allerdings sehen andere Seiten weitere Hindernisse. Etwa die amerikanische Seite. Sie sieht sogar in der Person Jassir Arafats ein Hindernis für den Frieden. Wie stehen Sie als deutscher Außenminister, wie stehen die Europäer heute zu Arafat?

Fischer: Ich wurde gestern Abend gefragt, ob Arafat relevant ist. Da habe ich gesagt: Ich bin nicht derjenige, der das beantworten kann. Das ist eine Frage, die das palästinensische Volk beantworten muss, und zwar in Wahlen. Das ist der entscheidende Punkt. Schauen Sie, aber was Sie beschreiben, mit der Mauer, mit der Frage Arafat, mit all den anderen Fragen von der israelischen Seite, dem Terror - all diese Fragen machen doch klar, dass dieser tragische Konflikt, wenn es so bleibt wie es jetzt ist, nur die Unschuldigen auf beiden Seiten weiter treffen wird. Das Elend auf beiden Seiten verstärken wird. Hier vor allen Dingen die Situation der Palästinenser, die ganz besonders bedrückend ist, aber auch viele israelische Freunde, die sich sorgen: "Was passiert als nächstes?" Da muss es einen verantwortlichen Ausweg geben, und dieser Ausweg kann nur sein, dass wir zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommen. Das heißt, dass zwei Staaten, Israel und Palästina, friedlich Seite an Seite leben. Dazu bedarf es dann auch einer Vereinbarung über Jerusalem, über Sicherheitsvereinbarungen, Wasser, die Frage des Rückkehrrechts der Flüchtlinge, und, und, und.
Alle Elemente sind vorhanden. Es fehlt am politischen Willen, diese Elemente zu einem Friedensvertrag, zu einem historischen Kompromiss zusammen zu fügen. Daran muss gearbeitet werden, und ich hoffe, dass wir in den nächsten Wochen etwas weiter voran kommen dabei.

Al-Jazeera: Hat der deutsche Außenminister Informationen die wir nicht haben? Gibt es da irgend etwas, das gerade in Bewegung kommt?

Fischer: In Israel gibt es eine intensive Diskussion über die Aufgabe der Siedlungen in Gaza. Ich bin der Meinung, das ist, wenn es eingebettet ist in die Roadmap, ein wichtiger Schritt, der Weiterungen in die richtige Richtung haben kann, positive Entwicklungen nach sich ziehen kann. Ich bin sehr der Meinung, dass sich die beiden Ministerpräsidenten so früh es geht treffen sollten, um die Gespräche auch darüber aufzunehmen. Aber wie immer im Nahen Osten ist es möglich, und im nächsten Augenblick kann es schon wieder anders sein. Dennoch, ich gehöre hier zu den Optimisten. Wir dürfen nicht nachlassen, denn die Alternativen sind jeden Tag sichtbar und die sind schlimm.

Al-Jazeera: Sie waren auch mal so optimistisch, als Sie eine Initiative gestartet haben. Die Fischer-Initiative sah damals vor, dass ein palästinensischer Staat am Anfang einer Lösung und nicht am Ende einer Lösung steht, und das mündete irgendwann in die Roadmap. Warum verzichtet man auf den eigenen Plan - Bescheidenheit deutscher Außenpolitik?

Fischer: Wir sind Teil der EU-Außenpolitik. Wir tragen dazu bei, und ich finde, zwei Dinge sind sehr, sehr wichtig. Auch wenn es manchmal so scheint, als wenn sie an Bedeutung verloren hätten. Das erste ist das Quartett. Warum ist das Quartett so wichtig? Es ist ein Ergebnis der so genannten "Mitchell-Recommendations". Weil da zum ersten Mal die internationale Staatengemeinschaft mit den wichtigsten Akteuren, nämlich den Vereinigten Staaten, Europa, Russland und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, gemeinsam mit arabischen Nachbarstaaten eine Position vertreten, eine gemeinsame Position. Das zweite ist, dass wir an der Roadmap festhalten. Ich denke, dass die Roadmap definiert, es ist ein Wegeplan hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung. Und diese Lösung ist meines Erachtens die einzige, die wirklich einen zwar schmerzhaften Kompromiss notwendig macht, die aber zugleich Frieden ermöglicht. Bei allem anderen glaube ich nicht, dass es eine tatsächliche Option für Frieden ist, und deswegen denke ich, dass wir sowohl am Quartett als auch an der Roadmap festhalten sollten.

Al-Jazeera: In Sachen Gefangenenaustausch war die deutsche Außenpolitik weniger bescheiden. Da hat man es in die eigene Hand genommen und hat es geschafft, zwischen Hisbollah und Israel zu vermitteln. Jetzt steht die zweite Phase bevor. Es geht um den israelischen Piloten Ron Arad, um den letzten libanesischen Gefangenen, aber auch um Diplomaten aus dem Iran. Sind Sie da optimistisch, genauso wie für den Nahen Osten?

Fischer: Wir haben einen Grundsatz: Dazu äußern wir uns nicht. Aber nur so viel: Wir sind gerne hilfreich, wenn man uns um unsere Hilfe bittet, nicht mehr und nicht weniger. Ansonsten äußere ich mich zu diesen Fragen nicht.

Al-Jazeera: Ein sehr interessanter Schwerpunkt im Nahen Osten, der jetzt alle beschäftigt, ist der Irak. Der Irak-Konflikt war auch in Deutschland eine sehr wichtige außenpolitische Größe, die die Gemüter, aber auch die Politik bewegt hat in den letzten Monaten, vielleicht eineinhalb Jahren. Wie sieht die deutsche Irakpolitik, Nachkriegs-Irakpolitik heute aus? Man war irgendwie gegen den Krieg, aber wo der Krieg ausgebrochen ist, da wünschte man den Alliierten den Sieg. Man ist gegen eine NATO-Beteiligung, aber man würde das nie blockieren wollen. Wo genau ist die deutsche Außenpolitik?

Fischer: Also ich denke, die ganz entscheidenden Faktoren sind andere, die Sie nicht genannt haben. Es ist richtig, wir waren voll großer Skepsis, und ich denke, die Ereignisse machen klar, das diese nicht aus der Luft gegriffen war. Aber nichtsdestotrotz, und das gilt nicht nur für uns, das gilt für alle, das gilt vor allem auch für das irakische Volk: Der Frieden muss gewonnen werden. Das ist im Interesse des irakischen Volkes, das ist im Interesse aber auch der gesamten Region, der regionalen Stabilität. Und das ist unsere Nachbarregion. Es ist nicht nur die Geschichte, sondern Europa und der Nahe Osten sind auf vielfältige Art und Weise, im Guten wie im Schlechten, miteinander verbunden, weil wir direkte Nachbarregionen sind. Die Frage der regionalen Stabilität betrifft uns Europäer und damit auch die Bundesrepublik Deutschland ganz selbstverständlich. Wir waren von Anfang an der Meinung, dass wir den Prozess viel mehr auf die UN stützen sollten, und der Besuch von Brahimi war ein ganz entscheidender Schritt in diese richtige Richtung. Wir engagieren uns in Afghanistan so wie wir uns im Kosovo engagiert haben, und bitte vergessen Sie nicht: Im Kosovo hat die Nato gekämpft für die Menschenrechte einer überwiegend muslimischen Bevölkerung, die vertrieben werden sollte, die teilweise umgebracht wurde. Dort sind schwerste Menschenrechtsverletzungen geschehen. Es war keine Frage des Glaubens, sondern des Festhaltens an den gemeinsamen Grundsätzen, dort war es eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung. Auch jetzt in Afghanistan ist unser Interesse ausschließlich, dazu beizutragen, dass der Wiederaufbau des Landes auf den Grundlagen der Entscheidungen der Afghanen ermöglicht wird. Deswegen sind wir für eine Übertragung der Souveränität im Irak, wir sind sehr dafür, dass dieses von der VN gestützt und mitbegleitet wird, weil wir glauben, dass die Vereinten Nationen hier die nötige Glaubwürdigkeit haben und auch die Erfahrung, dieses zu tun. Wir haben uns da von Anfang an dafür eingesetzt, wir sind engagiert beim Wiederaufbau, bei der humanitären Hilfe im Irak. Wir haben dazu beigetragen, das Abwassersystem und das Wassersystem in Bagdad wieder zu ertüchtigen und wir sind bereit uns hier noch stärker zu engagieren. Wir haben uns auch für den Polizeiaufbau entsprechend eingesetzt, werden dies tun. Wenn die Bundesrepublik Zusagen macht, dann halten wir sie auch. Das heißt, wir tun es dann wirklich. Das ist unser Beitrag. Aber entscheidend ist der politische Prozess der Souveränitätsübertragung und, wenn dies auf der Grundlage freier Wahlen geschieht, würde das den Prozess verstärkt legitimieren.

Al-Jazeera: Freie Wahlen stehen noch nicht bevor, sie kommen erst, bis zum Jahre 2005. Bis dahin aber wird sich einiges ändern in der Region. Die deutsche Regierung fühlt sich bestätigt in ihrer ursprünglichen Haltung. Trotzdem trägt die deutsche Regierung durch jetzt auch humanitäre und weitere politische Maßnahmen dazu bei, dass dieser Status quo sich aufrecht erhält, dass die Amerikaner, die ja Besatzung sind, es da bequem haben. Sie haben es neulich auf der Münchener Konferenz auch als "Terror" bezeichnet, dass amerikanische Soldaten dort angegriffen werden.

Fischer: Die USA sind unser engster Bündnispartner außerhalb Europas. Und lassen Sie mich das auch hier hinzufügen. Meine Erfahrung als Außenminister jetzt in fünf Jahren ist die, dass die Vereinigten Staaten von Amerika für Frieden und Stabilität in der Welt unverzichtbar sind. Wir haben an verschiedensten Stellen schwerste Krisen gehabt, wo es nur möglich war, durch die Macht der Vereinigten Staaten diese zu lösen. Und gerade habe ich mit dem Premierminister der palästinensischen Seite gesprochen hier in Berlin: Ein Friedensprozess, ein wirklicher Durchbruch ist ohne die USA nicht erreichbar. Das weiß die israelische Seite, das weiß die arabische Seite. Die USA allein werden es nicht können. Dazu wird man Europäer und andere brauchen. Aber sie sind unverzichtbar. Und auch, wenn wir Frieden und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten erreichen wollen, wird dieses nur mit den Vereinigten Staaten gehen. Wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, dann sagen wir das. Aber gleichzeitig wissen wir um die Bedeutung unserer Allianz, unserer Beziehung zu den Vereinigten Staaten. Wir wären kein freies Land geworden, ohne dass die Vereinigten Staaten das Leben und die Gesundheit ihrer Söhne aufs Spiel gesetzt hätten. Das vergessen wir nicht, das jährt sich in diesem Jahr mit der Landung in der Normandie, der Bundeskanzler ist dort eingeladen. Ich halte nichts von einem Antiamerikanismus oder Ähnlichem. Man kann unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin sehr dafür, dass die Vereinigten Staaten ihre Rolle wahrnehmen, dass die Vereinten Nationen ihre wahrnehmen. Ich bin für einen sehr partnerschaftlichen Ansatz mit der arabischen Welt, mit unseren Nachbarn. Es ist unverzichtbar, dass die arabische Welt teilhat an der modernen globalen Wirtschaft, an der Globalisierung. Das sind ganz wichtige Fragen, und die werden wir nur in Kooperation mit den Vereinigten Staaten, mit den Partnern in der Region, mit Europa erreichen, aber nicht gegeneinander.

Al-Jazeera: Herr Außenminister, dazu kommen wir noch. Trotz allem: Sie sind dagegen, dass deutsche Soldaten in den Irak gehen. Eigentlich sind Sie dagegen, strikt dagegen, obwohl Sie die Politik an sich offensichtlich für problematisch halten. Wie erklärt sich das?

Fischer: Wir sind sehr engagiert in Afghanistan. Das hieße auch, uns zu überfordern. Es ist kein Geheimnis, dass, wenn es nach uns gegangen wäre, die Entscheidung eine andere gewesen wäre. Dass die Inspektoren mehr Zeit gehabt hätten, ihre Arbeit zu tun. Aber das ist alles Vergangenheit. Was wir heute leisten müssen, ist bekannt. Wir brauchen möglichst schnell eine irakische Souveränität, die von allen Irakern getragen wird. Die territoriale Integrität des Landes muss gewahrt bleiben. Ein Abgleiten in einen möglichen Bürgerkrieg ebenso wie ein Auseinanderbrechen des Landes hätte unabsehbare Konsequenzen für das irakische Volk, aber auch für die Nachbarn. All das muss man in Betracht ziehen und nach vorne schauen. Und ich meine, dass wir hier jetzt die Arbeit von Kofi Annan und Lakhdar Brahimi, den ich sehr sehr schätze, der eine hervorragende Arbeit in Afghanistan gemacht hat, unterstützen sollten. Aber militärisch sind wir sehr stark engagiert in Afghanistan, mit der Zustimmung übrigens der afghanischen Bevölkerung vor Ort. Ich denke, das macht klar, dass es hier nicht um irgendwelche neokolonialistischen oder imperialistischen Rückfälle geht, sondern dass wir hier gemeinsam, alle Akteure in der Region, dieses 21. Jahrhundert gemeinsam gestalten, nicht gegeneinander. Wir haben unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Religionen. In der Vergangenheit war das oft sehr befruchtend, und wir sollten das auch in der Zukunft als eine Chance wahrnehmen. Nur: Das setzt voraus, dass die arabische Stimme sich auch artikuliert, ihren Beitrag leistet zur Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Das würde uns sehr, sehr freuen. Und ich bin mir auch sicher, ich weiß es sogar, dass das auf der anderen Seite des Atlantiks genauso positiv gesehen wird.

Al-Jazeera: Damit sind wir bei der letzten Initiative von Ihnen, Herr Fischer, auf der Münchener Konferenz. Die arabische Welt braucht Hilfe. Die arabische Welt muss modernisiert werden. Die arabische Welt stellt ein Problem dar, ein Sicherheitsproblem. Das war ja auch eine Sicherheitskonferenz und nichts anderes, und deswegen müssen wir unseren Beitrag da leisten. Warum erst jetzt?

Fischer: Weil wir Menschen oft lernen. Es geht ja nicht darum, dass wir irgendwelche Almosen geben. Das wäre auch völlig falsch. Es geht um Partnerschaft, und spätestens der 11.9. hat doch klargemacht, dass dieser Terrorismus eine Bedrohung ist, die ja zuerst vor allem auch in der arabischen Welt zugeschlagen hat, die in Afrika zugeschlagen hat. Und worum es geht, ist, dass wir hier nicht nur gemeinsame Antiterrorbekämpfung betreiben, sondern eine gemeinsame Zukunftsperspektive eröffnen. Der König von Jordanien hat in einer beeindruckenden Rede darauf hingewiesen, dass die Hälfte der Bevölkerung in der arabischen Welt unter 18 Jahre alt ist. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine sehr, sehr große Chance für die arabische Welt, wenn es Ausbildung gibt, wenn es Studienplätze gibt, wenn es Perspektiven gibt zur Familiengründung, Berufsperspektiven. Dann wird das eine große Erfolgsgeschichte. Und wir haben natürlich als direkte Nachbarn daran ein großes Interesse. Wird das Mittelmeer ein Meer der Konfrontation oder der Kooperation? Ich bin für das zweite, ein Meer der Kooperation. Was könnten wir ökonomisch, gemeinsam, Europäer und unsere Mittelmeer-Nachbarn, unter Einschluss Israels, der Türkei und der vielen arabischen Staaten am Mittelmeer, was könnten wir in der gesamten Region eigentlich an ökonomischer Power im 21. Jahrhundert haben, wenn wir die Konflikte gelöst hätten, wenn wir die Vorurteile überwunden hätten, nicht unsere Unterschiede. Die Menschen sind immer unterschiedlich. Wenn wir die Unterschiede als Chance begreifen zur Kooperation. Ich denke, da liegt ein Potential. Da würde ich mich auch freuen, die arabische Stimme zu hören, arabische Ideen. Es ist nicht so, dass wir hier etwas aufpfropfen wollen. Das geht nur, wenn die Region es selbst will. Aber ich glaube, wer den Bericht, den UNDP-Report, gelesen hat, wer die Investitionsentwicklung in Fernost sieht - dramatisch nach oben gehend. In Südasien - ebenfalls dramatisch nach oben gehend. In vielen anderen Regionen. Wir haben eine negative Investitionsentwicklung, wenn man sich die Zahlen anschaut in der Nahost-Region, in der arabischen Welt, bei gleichzeitigem hohen Bedarf an neuen Arbeitsplätzen aufgrund des starken Anteils von Jungen in der Bevölkerung. Das wird uns alle gemeinsam betreffen. Und darauf müssen wir gemeinsame Antworten finden in einem wirklichen Dialog und vielleicht auch in gemeinsamen Anstrengungen. Die Europäer sind dazu bereit, dessen bin ich mir sicher. Und die Überlegung war die, nicht abzuwarten, bis die USA diesmal eine Initiative präsentieren bei G 8 und beim Nato-Gipfel. Wir haben jetzt eine europäische Strategie. Solana hat die entwickelt, der Europäische Rat hat sie beschlossen. Diese europäische Strategie gilt es jetzt selber in Vorschläge umzusetzen und daran zu arbeiten.

Al-Jazeera: Wo liegen denn die Unterschiede zu den amerikanischen Gedanken, die von Herrn Powell präsentiert wurden? Das geht es auch um Zusammenarbeit zur Unterstützung der Demokratie.

Fischer: Es gibt hier einige Punkte, die diskutiert werden müssen: Wir sind der Meinung, wir können um den zentralen Konflikt in der Region, den Nahost-Konflikt, nicht herum. Den können wir nicht aussparen. Wir haben aber auch die Erfahrungen im Barcelona-Prozess, im Mittelmeer-Prozess zwischen Europa und den Mittelmeer-Anrainerstaaten unter Einschluss Israels und der Türkei. Wir dürfen uns aber auch nicht zur Geisel des Prozesses machen. Das ist eine Erfahrung, die wir im Barcelona-Prozess gemacht haben. Also müssen wir einen Weg finden, einerseits die Akteure mit einzubeziehen und möglichst positiv zu einer Lösung beizutragen, auf der anderen Seite aber uns nicht völlig durch den Nahost-Konflikt dominieren zu lassen. Das ist ein wichtiger Punkt, meine ich. Das Zweite ist, wir sollten uns ernsthaft überlegen, auch über Staaten wie Syrien - Syrien ist Partner im Mittelmeer-Prozess der Europäischen Union - aber auch über den Iran, nachzudenken. Denn sie gehören zu der Region und sind wichtige Akteure, bei aller Kritik, die auch an der Politik dieser Länder geübt wird. Aber ich halte das ebenfalls für einen sehr, sehr wichtigen Punkt. Und das Dritte ist, ich wünsche mir einen echten Partnerschaftsansatz. Ich verstehe ja die Ängste vieler arabischer Freunde und Gesprächspartner. Die Erfahrungen in den früheren Jahrzehnten mit westlicher Dominanz und ähnlichem. Aber darum geht es nicht. Sondern es geht um eine echte Partnerschaft, denn nur mit echter Partnerschaft werden wir eine Entwicklung auslösen können, die die Region so dringend braucht.

Al-Jazeera: Ist diese neue Partnerschaft bereit, die arabische Stimme auch zu hören, mit ihr zu diskutieren? Beispiel: Sie haben von Djihad-Terrorismus gesprochen, das Wort Djihad ist im Arabischen sehr positiv besetzt.

Fischer: Ein Begriff, den ich nicht erfunden habe, sondern den ich von Autoren aus der Region gefunden habe. Sagen Sie mir einen anderen. Wir meinen dasselbe. Dieser Terrorismus ist menschenverachtend. Wir müssen ihn bekämpfen und wir müssen ihn besiegen und dazu müssen wir Alternativen entwickeln.

Al-Jazeera: Und muss man da nicht mit den Arabern sprechen, um zu sehen, wie sie vielleicht die Dinge definieren, wo sie die Gefahren sehen, vielleicht sehen sie die Gefahren ganz wo anders?

Fischer: Es ist ja nicht so, dass wir nicht diskutieren. Ich diskutiere sehr viel mit arabischen Gesprächspartnern. Ich glaube, es ist sogar sehr, sehr wichtig, dass wir diesen Dialog haben. Ich würde mir wünschen, dass von der arabischen Seite Positionen kämen, die klar machen, in welche Richtung sie gehen wollen. Nobody is perfect und jeder kann irren. Es gibt unterschiedliche Perspektiven. Ich bin der Letzte, der meint, wir hätten hier den allein seelig machenden Standpunkt, das haben wir sicher nicht. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nutzen, dazu aufzufordern, auch die arabische Zivilgesellschaft, die Universitäten, die Intellektuellen, die Wirtschaft, Ideen zu produzieren. Wir sind selbstverständlich immer lernbereit. Wir wollen einen echten Dialog, aber nicht nur auf der Ebene der gesprochenen Worte, sondern eines gemeinsamen Prozesses. Das haben die Europäer schon mehrfach klar gemacht, sonst gäbe es den Mittelmehr-Prozess nicht. Ich denke, auch unsere arabischen Partner wissen, dass wir hier offen heran gehen. Ein Weiteres: In Europa haben wir starke muslimische Minderheiten, auch hier in der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, hier gibt es, also zumindest was meine Person anbetrifft, auch was meine Partei anbetrifft, keine Vorurteile. Wir wollen echte Partnerschaft und auch die notwendige Toleranz. Beidseitig. Das, finde ich, ist ein sehr, sehr wichtiger Gesichtspunkt. Der Toleranz-Gedanke muss diesen Dialog prägen.

Al-Jazeera: Dieser Dialog zwischen Osten und Westen: Wie soll das konkret aussehen, was soll da passieren?

Fischer: Also, das waren Ideen, die geäußert wurden, jetzt müssen wir in der EU diskutieren. Der Gipfel der arabischen Liga wird demnächst statt finden. Das ist nicht nur für den Nahost-Konflikt eine Chance, positive Signale zu setzen, sondern es ist auch eine Möglichkeit, Signale in Richtung dieser Diskussion zu formulieren. Das alles sind Möglichkeiten, die genutzt werden können. Wir werden mit der amerikanischen Seite diskutieren, im G8-Format, wir werden es auf der Plattform EU-USA tun. Ich bin mir sicher, das wird, wenn die Europäer zu einer gemeinsamen Position finden, sehr stark dann auch unsere Diskussionen im Mittelmeer-Format betreffen an anderer Stelle. Ich denke, da gibt es viele Möglichkeiten und dann: Ich halte nichts davon etwas aufzustülpen. Da muss man die Ideen konkretisieren, da muss man schauen, welche praktischen Prozesse kann man daraus machen; also etwa, wenn wir in Richtung einer Freihandelszone im Mittelmeer wollen bis zum Endes des Jahrzehntes, was müssen wir tun? Wenn es richtig ist, was ökonomische Analysen sagen, nämlich, dass der Handel zwischen den arabischen Staaten sehr gering ist, unverhältnismäßig gering, wir gleichzeitig aber die Erfahrung haben, dass dieser Handel von entscheidender Bedeutung ist für wirtschaftliches Wachstum, dann ist das ein weiterer Gesichtspunkt wo man zusammen arbeiten kann, wobei viele Europäer Erfahrungen haben. Die Frage der Sicherheitskooperation, die Frage von Sicherheitsgarantien im Nahost-Konflikt wird sich eines Tages stellen. Die Frage regionaler Sicherheitskooperationen der Beteiligten, von Transparenz und Verifikation sind Dinge, wo wir Europäer über viele Erfahrungen verfügen. All diese Instrumente wird man diskutieren und wird dann auch zu Entscheidungen kommen. Wie diese Entscheidungen aussehen, kann ich beim besten Willen heute nicht vorwegnehmen.

Al-Jazeera: Eine abschließende Frage zu den drei nicht-arabischen Akteuren der Region, die sehr wichtig sind: DieTürkei, Iran und Israel. Wo sind die drei in den nächsten zehn Jahren?

Fischer: Ich bin kein Prophet, auch wenn die Region für Ihre Propheten berühmt ist, ich gehöre da nicht dazu. Ich bin aber der Überzeugung, dass der regionale Ansatz von entscheidender Bedeutung ist. Unsere europäische Erfahrung ist die: Wir waren der Kontinent der Kriege, im 20. Jahrhundert hat Europa zwei Weltkriege ausgelöst, aufgrund europäischer Konflikte, europäischer Hegemonialkonflikte. Unsere Geschichte hat sich radikal geändert, Mitte des 20. Jahrhunderts, weil, nachdem Deutschland völlig zerstört war und am Boden lag, große französische Staatsmänner und eine amerikanische Entscheidung uns die Chance gegeben haben, ein neues Prinzip zu entwickeln. Nicht mehr Konfrontation, nicht mehr Hegemonie, sondern die Interessen wurden zusammengeführt. Statt Konfrontation wurde Kooperation in Europa verwirklicht. Und schauen Sie sich an: Diese Stadt, in der wir dieses Interview machen, war 1945 völlig zerstört, wie das Zentrum von Beirut, aber die ganze Stadt, das ganze Land, der ganze Kontinent. Die Kooperation, die Interessen nicht mehr gegeneinander zu setzen, auf Gewalt zu verzichten, Grenzen anzuerkennen, Streit friedlich beizulegen, hat Europa völlig verändert, hat uns eine neue Chance gegeben. Und das, was wir Europäer erreicht haben, wird unter anderen Bedingungen anderen auch möglich sein können. Davon bin ich fest überzeugt.

Al-Jazeera: Vielen Dank, Herr Außenminister.

Erschienen: Mittwoch, 25. Februar 2004


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