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Die Vernunft muss siegen

Ein Interview mit Abdallah Frangi, Palästinensischer Generaldelegierter in Deutschland

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das die Tageszeitung "Neues Deutschland" Ende März 2004 mit dem langjährigen Vertreter der Palästinenser in Deutschland, Abdallah Frangi, geführt hat.


Neues Deutschland-ND: Die Racheschwüre der Hamas-Bewegung nach der Ermordung von Scheich Jassin lassen das Schlimmste befürchten. Aber ist die islamistische Organisation nach den gezielten Tötungen vieler Führungskader überhaupt noch in der Lage zu spektakulären Aktionen?

Frangi: Natürlich ist Hamas weiter zu Anschlägen fähig, aber aus diesem Rache-Aufruf spricht vor allem Ohnmacht. Ich hoffe sehr, dass solche Aktionen nicht stattfinden, dass man es Scharon nicht mit gleicher Münze heimzahlt, dass die Gespräche, die jetzt mit verantwortlichen Palästinensern und mit Ägypten laufen, der Vernunft zum Sieg verhelfen. Offensichtlich legt es ja Israels Ministerpräsident darauf an, dass sich die Spirale der Gewalt immer weiter dreht.

Droht sich die palästinensische Gesellschaft zu radikalisieren? Die Selbstmordattentäter werden immer jünger.

Man darf den Fall eines offensichtlich geistig behinderten Jungen nicht verallgemeinern. Aber natürlich hinterlässt es Spuren, dass die palästinensische Gesellschaft seit 1967 unter israelischer Besatzung lebt und die Weltgemeinschaft sie ihrem Schicksal überlassen hat. Da schlägt der Frust immer stärker auch in Gewalt um, und radikale Gruppen nutzen ihn aus. Aber das ist nicht hilfreich für die Palästinenser.

Der neue Hamas-Führer Rantisi befand sich schon im Gewahrsam der Autonomiebehörde, wurde dann aber wieder freigelassen. Wie will man denn mit dem radikalisierten Teil der Palästinenser künftig umgehen?

Scheich Jassin saß in einem israelischen Gefängnis und wurde wieder freigelassen. Man kann doch Menschen, die einem nicht passen, nicht ein ganzes Leben lang wegsperren. Scheich Jassin führte eine politische Bewegung, die radikal ist, und nun hat Rantisi diese Verantwortung übernommen. Und die PLO und die palästinensische Regierung bemühen sich um Gespräche mit Hamas. Unser Ziel ist es, dass sie unsere Politik zumindest nicht mehr blockieren. Dafür braucht es Dialog und keinen Bürgerkrieg. Ohne die israelische Besatzungsmacht und ihre Politik der Exekutionen wären wir hier schon viel weiter. Zugleich haben die Israelis systematisch die Strukturen unserer Sicherheitsorgane zerstört, so dass wir die Entwicklung in den palästinensischen Gebieten nicht mehr kontrollieren können.

Befürchten Sie eine gezielte Tötungsaktion auch gegen Yasser Arafat?

Die israelische Armee hat seit September 2003 188 palästinensische Führungskräfte der verschiedensten Organisationen exekutiert. Auch in Bezug auf Yasser Arafat wurde von hochrangigen israelischen Vertretern öffentlich von einem solchen Attentat gesprochen. Man muss diese Warnungen ernst nehmen.

Hamas will auch bei Wahlen antreten – eine Gefahr für die Fatah-Bewegung?

Hamas ist keine Gefahr für uns. Sie werden nicht die Mehrheit bekommen, aber zweitstärkste Kraft werden sie schon. Voraussetzung ist natürlich, dass man uns hilft, solche Wahlen überhaupt zu organisieren.

70 bekannte Palästinenser haben jetzt in Anzeigen zur Abkehr vom bewaffneten Kampf aufgerufen und eine »kluge Intifada« gefordert.

Das zeigt die Vielfalt in unserer Gesellschaft, wobei viele Palästinenser in dieser Richtung denken. Wir haben den Aufruf auch auf unserer Homepage veröffentlicht. Er ist ein gutes Zeichen. Doch er braucht auch eine israelische Antwort.

Spektakuläre Anschläge in Nahost machen Schlagzeilen. Welche Auswirkungen auf den Alltag hat aber fortgesetzte Ausgrenzung, die Gettoisierung der Palästinenser, die durch den »Sicherheitszaun« noch weiter verschärft wird?

Unser Territorium ist ein Flickenteppich, die Städte und Dörfer sind getrennt voneinander. Ein Palästinenser kann heute nicht aus dem Gaza-Streifen ins Westjordanland reisen. Wir sind seit Jahren ausgesperrt, das hat Auswirkungen auf die Psyche. Wie soll man rational reagieren, wenn man so lange Zeit und oft ohne Arbeit praktisch in Gettos zusammengepfercht wird? Da ist wachsende Aggressivität kein Wunder.

Was ist von den vielen Nahost-Friedensinitiativen geblieben?

Wenig. Seit einem Jahr reden wir über die »Roadmap«, getan hat sich nichts. Aber man darf nicht aufgeben, sonst überlassen wir auch die nächsten Generationen ihrem leidvollen Schicksal – mit der Folge immer neuer Verzweiflungsaktionen. Da trägt auch die Weltgemeinschaft große Verantwortung.

Aber nicht einmal die arabischen Staaten können sich zu einer gemeinsamen konstruktiven Position durchringen, wie gerade wieder die Verschiebung ihres Gipfels gezeigt hat.

Das belastet uns Palästinenser sehr, es ist ein weiterer Rückschlag. Wir sind umgeben von arabischen Brüdern, die bis heute kein richtiges Konzept für den Konflikt entwickelt haben. Vor einem Jahr in Beirut wurde die Bereitschaft verkündet, Israel anzuerkennen, wenn es seine Besatzung beendet. Doch ein Mechanismus zur Umsetzung dieses Plans fehlt.

Was erwarten Sie von der EU und Deutschland?

Außenminister Fischer hat wesentlich zur Entstehung der »Roadmap« beigetragen. Deutschland hat ein großes Gewicht in der Europäischen Union, gute Kontakte zu Israel und den arabischen Staaten. Ich hoffe, dass Berlin jetzt noch stärker Flagge zeigt, vor allem wenn es um die Umsetzung des Friedensplans geht.

Hamas soll in Deutschland 300 Anhänger haben, die jetzt noch mehr ins Visier des Verfassungsschutzes geraten. Befürchten Sie Auswirkungen auch für andere Palästinenser?

In Deutschland leben etwa 120000 Palästinenser, die sich in der Regel an die hier gültigen Gesetze halten. Wenn nicht, müssen die Behörden auch ihre juristischen Möglichkeiten ausschöpfen. Aber einen Generalverdacht darf es nicht geben. So ist es wenig hilfreich – für die Ausländer, die hier leben, aber auch für Deutschland –, wenn manche Medien jetzt eine regelrechte Hetzkampagne gestartet haben. Auch für Palästinenser gilt das Demonstrationsrecht. Und wer lautstark protestiert, ist doch nicht automatisch Fanatiker und Fundamentalist.

Aus: Neues Deutschland, 31. März 2004


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