Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Pseudo-Diplomatie oder Real-Politik?

Die Genfer Initiative und die Flüchtlingsfrage

Der Nahostexperte Ludwig Watzal vertritt in dem nachfolgenden Beitrag die Meinung, dass die Protagonisten der Genfer Initiative mit der Behandlung der Flüchtlingsfrage der palästionensischen Bevölkerung sehr viel zumuten. Gleichwohl könnte es - trotz aller Skepsis über die Realisierungschancen von "Genf" - die letzte Chance sein, die verfeindeten Kräfte wieder ins Gespräch miteinander zu bringen.
Der Beitrag erschien in der kritischen Wochenzeitung "Freitag". (www.freitag.de)



Von Ludwig Watzal

Am 1. Dezember haben israelische und palästinensische Politiker in Genf ein nicht offizielles "Abkommen" unterzeichnet, das alle strittigen Fragen des Palästina-Konflikts auf bisher kaum denkbare Weise regelt. Beteiligt waren auf israelischer Seite Amram Mitzna, Spitzenkandidat der Arbeitspartei bei den Knesset-Wahlen im Januar, oder Ex-Justizminister Jossi Beilin, auf palästinensischer Seite frühere Minister der Autonomieregierung wie Yassir Abed Rabbo und Hisham Abdel Razzak. Die Gegner in Israel, nicht zuletzt die Sharon-Regierung, sprechen von Pseudo-Diplomatie und Ausverkauf - die Befürworter in den Autonomiegebieten, nicht zuletzt die palästinensische Führung, von einer "letzten Chance."

Die medienwirksame Präsentation des "Genfer Abkommens" durch die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey ist - gemessen am Zustand des israelisch-palästinensischen Verhältnisses - schon ein Erfolg. Nicht nur der Inhalt des Dokuments, auch sein Zustandekommens ist mehr als ungewöhnlich. Erstmals hat eine Schweizer Regierung israelischen und palästinensischen Politikern quasi als Privatpersonen eine diplomatische Bühne geboten. Allerdings sollte man sich - besonders in Europa - angesichts dieses wohl orchestrierten und finanzierten Medienevents nicht über den wirklichen Einfluss seiner Protagonisten täuschen lassen, manches in Genf erinnerte an ein surreales Happening der besonderen Art.

Wie zu erwarten, hat das Ganze in Israel einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dabei empört sich Ehud Barak lauter als die Likud-Partei Sharons. Der Ex-Premier von der Arbeitspartei moniert, das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge sei nicht vollends aufgegeben. Nur hat gerade in dieser Frage die palästinensische "Verhandlungsdelegation" in Genf gewiss schmerzhafte Konzessionen gemacht (s. Übersicht). Aus Baraks aufbrausender Reaktion darf gefolgert werden: Selbst wenn Yassir Arafat beim Camp-David-Gipfel im Juli 2000 auf das Rückkehrrecht seiner Landsleute verzichtet hätte, Barak wäre damit - entgegen der immer wieder kolportierten Gipfel-Mythen - nicht zufrieden gewesen. Schon am 29. August 2003 in einem Artikel für die Zeitung Yedioth Ahronot schrieb Barak, der sich stets gebrüstet hatte, in Camp David bis "an die Schmerzgrenze" gegangen zu sein, damals sei ihm nicht die "die kleinste Konzession" abgerungen worden - stattdessen habe er den einseitigen Weg des Oslo-Prozesses gestoppt.

Dass die Genfer Gespräche jetzt überhaupt geführt werden konnten und ein Ergebnis erbrachten, widerlegt die These Sharons, es gäbe auf palästinensischer Seite keinen Partner mehr. Nun sind israelische Politiker sogar auf ein palästinensisches Verhandlungsteam getroffen, das sich vom generellen Rückkehrrecht 1947/48 vertriebener Palästinenser verabschiedet hat. Würde die "Genfer Erklärung" zu einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, könnten die Israelis künftig selbst entscheiden, wie viel Flüchtlinge sie akzeptieren und wie viel davon durch finanzielle Kompensationen der internationalen Staatengemeinschaft abgefunden werden.

Nutznießer des Genfer Agreements in Israel könnte besonders Ex-Justizminister Jossi Beilin (Kabinett Barak) sein, der das "Abkommen" zur Wahlkampfplattform seiner neu gegründeten "linken" Arbeitspartei erheben und sich zugute halten dürfte, aus dem gescheiterten Oslo-Prozess gelernt und deshalb keine der schwierigen Fragen ausgeklammert zu haben: Weder die Siedlungen, noch Jerusalem, noch die Grenzen, noch die Flüchtlinge. Erstmals, so Beilin, sei auch das Recht des jüdischen Volkes auf Staatlichkeit anerkannt worden, das durch eine jüdische Mehrheit und deren Kontrolle über das Land charakterisiert werde. Mit anderen Worten: Wäre Genf verbindlich, könnte Israel für immer das historische Palästina für alle Juden auf der Welt offen halten, während den palästinensischen Flüchtlingen eine gesicherte Rückkehr in ihre angestammte Heimat verweigert wird. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Einschränkungen, die in der "Genfer Erklärung" für einen souveränen Staat Palästina formuliert sind. Allerdings heißt es zugleich, alle israelischen Siedler, die sich nach einer Staatsgründung und Grenzziehung auf palästinensischem Gebiet befinden, müssten nach Israel zurück. Ohnehin sollten die Siedlungen in Gaza wie auch die großen Camps Ariel, Har Homa und Efrat in der Westbank vollkommen verschwinden.

Jerusalem wird laut Genf die Hauptstadt beider Staaten sein und Israel die Souveränität in den Stadtvierteln behalten, in denen überwiegend Juden wohnen. Gleiches gilt für die Palästinenser in den arabischen Quartieren. Der Haram al Sharif (Tempelberg) bliebe (weitgehend) unter palästinensischer Souveränität, die Klagemauer, das jüdische Viertel, die Zitadelle, der jüdische Friedhof auf dem Ölberg und der Tunnel unter der Westmauer unter israelischer. Die Westbank und der Gaza-Streifen würden durch einen Korridor verbunden, der unter israelischer Oberhoheit stünde, aber von den Palästinensern verwaltet würde.

Diejenigen, die Genf ermöglicht haben, bezeichnen ihren Weg als einzige Alternative zur Politik der Konfrontation und behaupten, das palästinensische Volk stimme diesem Weg zu. Auch wenn das zu bezweifeln ist, dürfte es künftig für jede palästinensische Verhandlungsmission äußerst schwierig sein, die "Genfer Positionen" wieder zu verlassen. Schließlich sind sie von der Autonomiebehörde im Grundsatz gebilligt, von der Regierung Sharon ausdrücklich verworfen worden. Wird Genf als der letzte, noch mögliche Kompromiss bezeichnet, kommt dessen Ablehnung einer Verweigerung letzter Friedenschancen gleich. Nach eigenem Bekunden will Jossi Beilin einen "warmen Frieden", der es für einen künftigen palästinensischen Staat zur Existenzbedingung erklärt, mit Israel auf praktisch allen Gebieten zusammenzuarbeiten. Beilin kommt es dabei nicht in den Sinn, die Bürger eines solchen Staates vielleicht selbst darüber entscheiden zu lassen, ob sie fortan Busenfreunde ihrer früheren Unterdrücker sein möchten.

Wie auch immer - die Lösung des Konfliktes in Palästina verlangt nach keiner Wiederaufbereitung fehlgeschlagener Abkommen, ob sie nun in Oslo, Camp David oder Taba geschlossen wurden. Die UN-Resolutionen und das Völkerrecht reichen dazu aus. Sie liefern das Raster für einen gerechten Ausgleich, für Sicherheit, territoriale Integrität und Achtung der Menschenrechte. Insofern ist Skepsis geboten, ob Beilins Genfer Blaupause tatsächlich einen neuen Frieden einläuten kann. Die Israelis, die sich danach sehnen, müssten erst einmal begreifen: Frieden und Versöhnung bleiben Illusion, solange sie nicht mit ihrer nationalen Verantwortung für die palästinensische Tragödie ins Reine kommen.

Aus: Freitag 50, 5. Dezember 2003


Zurück zum Dossier "Genfer Initiative"

Zur Seite "Naher Osten"

Zurück zur Homepage